„Zur Person“

Günter Gaus’ Interviews am Beginn des Fernsehzeitalters

Anmerkungen

Günter Gaus, Die klassischen Interviews, hg. von Manfred Bissinger, Set A: Politik 1963-1972, 5 DVDs; Set B: Politik und Kultur 1963-1969, 3 DVDs, München: Film 101 2005, zusammen 135,- Euro.

Günter Gaus, Die klassischen Interviews, Set B   Günter Gaus, Die klassischen Interviews, Set A

„Ich kenne kein publizistisches Mittel, das über 40 Jahre lang so kontinuierlich geführt worden ist und im Grunde fast alle wesentlichen Personen oder Persönlichkeiten aus der ganzen breiten Skala des Lebens gezeigt hat.“ Mit diesen Worten eröffnet Egon Bahr die Begleit-DVD zur Edition „klassischer“ Interviews von Günter Gaus aus den Jahren 1963 bis 1972. Bahr verweist damit bereits auf die beiden zentralen Aspekte des Quellenwertes der Interviews: Zum einen sind Gespräche inhaltliche Dokumente, in denen die Befragten über sich selbst und ihre Positionen Auskunft geben. Zum anderen repräsentieren Gaus’ Gespräche ein besonderes Stück Mediengeschichte. Ganz so bruchlos, wie Bahr suggeriert, verlief die Geschichte allerdings nicht. Daher seien zunächst ein paar Daten zur Entwicklung der Sendereihe genannt.

Gaus begann die Interviews unter dem Titel „Zur Person“ von 1963 bis 1966 als freier Mitarbeiter im ZDF. Als er Programmdirektor beim SWF wurde, nahm er die Sendung mit, doch das ZDF gab den Namen nicht frei. Mit ganz leicht veränderter Konzeption - Gaus sprach jeweils ein paar einleitende Sätze - führte er die Gespräche im SWF bis Januar 1973 unter dem Titel „Zu Protokoll“.1 Die Interviewfolge brach ab, als Gaus die Funktion des Ständigen Vertreters der Bundesrepublik Deutschland in Ost-Berlin übernahm und damit die Fronten zwischen Journalismus und Politik wechselte. Im Januar 1984 nahm Gaus die Sendung aber wieder auf - nun beim WDR unter dem Namen „Deutsche“. Geprägt von seiner Zeit in der DDR verfolgte Gaus eine explizit gesamtdeutsche Konzeption, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen bemühte er sich immer wieder darum, ostdeutsche Gesprächspartner zu gewinnen - der Ost-Berliner Bischof Albrecht Schönherr war sein erster Gast; Stefan Hermlin, Ernst Engelberg, Hermann Kant und andere folgten. Zum anderen setzte Gaus darauf, gerade auch in der DDR gesehen zu werden. Die Bedeutung, die Gaus für die DDR besaß, kam schließlich auch dadurch zum Ausdruck, dass der Intendant des Ost-Berliner „Deutschen Fernsehfunks“, Hans Bentzien, Gaus Anfang 1990 anbot, seine Sendung im DFF fortzuführen. Gaus nahm an und kehrte zum ursprünglichen Titel „Zur Person“ zurück. Nach dem Ende des DFF wechselte er zum ORB, dem er auch nach dessen Umwandlung zum RBB bis 2004 treu blieb.

Als Gaus im April 1963 sein erstes Gespräch „Zur Person“ führte - mit dem damaligen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard -, war er zunächst gleichzeitig noch Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“ und dort insbesondere durch Politikerporträts in Erscheinung getreten. Hans Herbert Westermann, zu diesem Zeitpunkt der zuständige politische Redakteur beim ZDF, gewann den gerade 33-Jährigen für dieses neue Format, das - wie viele andere mediale Formate der frühen Bundesrepublik - sein Vorbild in England hatte. „Zur Person“ erweist sich als geradezu mustergültiges Medienprodukt dieser Jahre: neues Medium, neuer Sender, neues Format - gemacht von jungen Journalisten, die vielfach der „Flakhelfer-Generation“ zugeschrieben werden und die oftmals gänzlich ohne Fernseherfahrung und noch ganz verwurzelt in den Printmedien in eine neue Form gestoßen wurden.2 Die völlige Konzentration auf das gesprochene Wort und der extrem sparsame Umgang mit wechselnden Kamerapositionen können als Zeichen für diese Verwurzelung gesehen werden. Auf der anderen Seite aber machte eben diese Form den speziellen Charakter der Sendung aus.

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Eine Reihe der von Gaus geführten Gespräche liegt bereits seit längerem in gedruckter Form vor; andere lassen sich seit einiger Zeit auf der Website des RBB nachlesen.3 Doch das Sehen der Interviews besitzt noch einmal einen ganz besonderen Reiz. Erst hier kann man verfolgen, wie sich Erhard verschmitzt freut, als Gaus ihm im April 1963 die Frage stellt, ob er denn nun Bundeskanzler werden wolle; oder wie unbehaglich und fast beklommen Strauß in seinem ersten Interview 1964 wirkt, ständig etwas linkisch an seiner Zigarre ziehend und davon hustend; oder wie Hannah Arendt sich auch mit ihrer Körpersprache immer mehr auf den jungen Interviewpartner einzustellen scheint.

Was machte nun Gaus’ Interviewtechnik aus? Wo lagen die Besonderheiten? Egon Bahr sagt in der Begleitdokumentation, Gaus habe schon in den 1960er-Jahren einen „Ruf wie Donnerhall“ gehabt, und wer sich bei ihm in die Sendung wagte, habe damit rechnen müssen, „gegrillt“ zu werden. Kennt man die Sendungen nicht, vermittelt Bahr damit im Grunde ein falsches Bild: Mit dem „heißen Stuhl“ bei RTL hatten Gaus’ Interviews ebensowenig zu tun wie mit den bedrängenden Befragungen eines Michel Friedman. Schon der Anspruch war ein ganz anderer: Gaus wollte die Interviewpartner nicht gezielt in die Enge treiben, sondern sie sollten sich öffnen und sich im eigentlichen Wortsinn selbst darstellen. „Mein Partner soll nicht mit mir argumentieren, sondern von sich erzählen“ - so beschrieb Gaus einmal selbst sein Verfahren. „Freilich nicht erzählen, was ihm von seinem öffentlichen Standort aus als legitime Eigenwerbung nützlich zu sein scheint, sondern - von meinen Fragen gesteuert - berichten über jene Partien seiner Biographie, in denen sein Lebenslauf ein Beispiel ist, wenn es darauf ankommt: Ein Beispiel im Guten und im Bösen. [...] Glätte in den Formulierungen, Vorlieben für bestimmte Ausdrücke, hartnäckige Verteidigung in unwichtigen Punkten: dies kann ebenso bedeutsam sein wie der Inhalt der jeweiligen Antworten.“4 Gaus bot seinen Gesprächspartnern die Chance zur Selbstdarstellung, aber er zwang sie eben auch dazu, dies in ganz bestimmter Weise zu tun. Er war ebenso distanziert wie interessiert. Seine Fragen waren oft komplex, aber immer präzise. Er unterbrach seine Gesprächspartner - gerade im Vergleich mit heutigen Talkshows - eher selten. Doch wenn er dies tat, dann immer mit der Bitte um größere Genauigkeit. Er zwang die Gesprächspartner zu einem sehr genauen Umgang mit der Sprache, mit den Formulierungen, verwies auf logische Inkonsistenzen, wollte auf das ganz persönliche Erleben von Situationen hinaus und trat der Flucht in allgemeine und vage Beschreibungen entgegen.

Das frühe Gespräch mit Hannah Arendt (1964) wirkt dabei fast wie eine Lehrstunde für den Interviewer. Als Gaus die politische Wissenschaftlerin - nicht Philosophin, wie sie ihn bereits korrigiert hatte - danach befragt, was es für ein Kind im ausgehenden Kaiserreich und in der Weimarer Republik bedeutet habe, aus einer jüdischen Familie zu stammen, ist ihr dies zu allgemein. Er müsse nun schon sagen, was er wolle - generelle Aussagen (die sie wahrheitsgemäß nicht beantworten könne) oder ihre ganz persönlichen Erfahrungen. Das Gespräch entwickelt sich zu einem Hochgenuss, weil Gaus - natürlich perfekt vorbereitet - alles daransetzt, die intellektuelle Brillanz seiner Gesprächspartnerin nicht zu beleidigen. Denn bei aller Freundlichkeit und Verbindlichkeit, mit der sich Arendt hier zeigt, entsteht keine Sekunde des Gesprächs auch nur der geringste Zweifel daran, auf welchem intellektuellen Niveau sie zu denken und sich zu unterhalten gewohnt ist.5 Wer die Prüfung eines Interviews mit einer solchen Gesprächspartnerin bestanden hat, so scheint es, den konnte niemand mehr schrecken. Und so kam es bald umgekehrt: Es war nun Gaus, der den intellektuellen „Schrecken“ verbreitete. Der „Grill“, von dem Bahr spricht, bestand schlicht in der Furcht, Gaus’ Intellektualität nichts entgegenzusetzen zu haben.

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Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus (28.10.1964)

Hannah Arendt im Gespräch mit Günter Gaus (28.10.1964)
 

Die Qualität der DVD-Edition besteht ohne Zweifel in der Auswahl von Interviews, in denen sich die Gesprächspartner eben dieser Herausforderung weitestgehend gewachsen zeigen. Für Herbert Wehner und Franz Josef Strauß galt dies ebenso selbstverständlich wie für Willy Brandt und Gustav Heinemann, für Rudi Dutschke und Rudolf Augstein, für Dorothee Sölle, Gustav Gründgens und Golo Mann. Die Gespräche mit Konrad Adenauer und Ludwig Erhard haben einen etwas anderen Charakter: Adenauer - zum Zeitpunkt des Interviews längst ein politisches Denkmal - zeigte erkennbar wenig Bereitschaft, sich auf Gaus’ subtile Fragen einzulassen, während Erhard - 1963 ohnehin der erste Gesprächspartner - kurz vor dem Zenit seiner politischen Laufbahn vor allem an der Verfestigung seines politischen Außenbildes interessiert war.
 

Franz Josef Strauß in seinem ersten Gespräch mit Günter Gaus (29.4.1964)

Franz Josef Strauß in seinem ersten Gespräch mit Günter Gaus (29.4.1964)
 

Die Auswahl der vollständig gezeigten Interviews beschränkt sich auf die Zeit bis 1972; die Begleit-DVD greift dagegen weiter aus und fügt eine Reihe von Gesprächsauschnitten hinzu. Aufschlussreich sind etwa die Auszüge eines 1970 und eines 1998 geführten Gesprächs mit Helmut Kohl. Einmal mehr sind es die Körpersprache und die Mimik, die mindestens soviel aussagen wie die Worte. Sehenswert ist auch die Auseinandersetzung mit Heiner Geißler im Jahr 1985 um dessen Aussage, der Pazifismus habe Auschwitz erst möglich gemacht. Hier gab dann auch Gaus seine Zurückhaltung auf und vermittelte sehr deutlich, wie er dazu stand.

Mediengeschichtlich betrachtet bieten die Interviews von Günter Gaus Einblicke in eine Epoche, in der das Fernsehen nicht nur zu einem neuen Leitmedium aufstieg, sondern in der auch der politische Fernsehjournalismus eine neue Form fand. Beeinflusst von westlichen Vorbildern, insbesondere seitens der BBC, wurde in den neuen politischen Magazinen der Anspruch erkennbar, das politische Tagesgeschehen für die Zuschauer transparenter werden zu lassen. Unabhängig davon, wie „kritisch“ dieser Journalismus im Einzelnen war, zielte sein Selbstverständnis in einem umfassenderen Sinne darauf ab, politische Hintergründe offenzulegen sowie die handelnden Personen und ihre Motivationen stärker erkennbar werden zu lassen. In diesen Kontext gehört auch Gaus’ Interviewreihe, die in der Betonung von Distanz und Nüchternheit durchaus zeittypische Züge trug. Gleichwohl gab erst Gaus den Interviews seinen ganz besonderen, persönlichen Stil.

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Rudi Dutschke im Gespräch mit Günter Gaus (3.12.1967)

Rudi Dutschke im Gespräch mit Günter Gaus (3.12.1967)
 

Die Bedeutung, die den Interviews in dieser Phase zukam, basierte schließlich auch auf einer Wechselwirkung aus der realen Reichweite, die die Sendungen in einer noch überschaubaren Fernsehlandschaft besaßen, und dem Einfluss, der dem jungen und expandierenden Medium zugeschrieben wurde. So spricht vieles dafür, dass den Interviewpartnern die Bedeutung eines Gesprächs mit Gaus als Medienereignis sehr präsent war. Wohl nicht nur Willy Brandt, für den dies belegt ist, bereitete sich in besonderem Maße darauf vor.6

Als Gaus die Interviews in den 1980er- und 1990er-Jahren wieder aufnahm, hatte sich die Fernsehlandschaft grundlegend gewandelt. Gaus behielt seinen Stil bei und blieb somit auch gegenüber der Fülle der Talkshows weiter „erkennbar“. Die herausragende Position, die seine Sendereihe früher gehabt hatte, konnte sie jedoch kaum mehr zurückerobern. In einer derart breiten und ausdifferenzierten Fernseh- und Medienlandschaft, wie sie sich seit den 1980er-Jahren herausgebildet hatte, ließ sich Gaus’ Form der Interviews als „Medienereignis“ nicht mehr reetablieren. Insofern ist die Entscheidung der Herausgeber der Edition konsequent, sich auf eine Auswahl früherer Interviews zu beschränken, ohne dass damit die späteren Gespräche per se von geringerem Interesse wären.

So ist die Edition insgesamt ausgesprochen gelungen; leider lässt das angebotene Verkaufspaket den Nutzer etwas verärgert zurück. Denn während inzwischen jede Teenager-CD auf einem begleitenden Booklet ein paar Informationen für den lesekundigen Käufer bereitstellt, hielt der Herausgeber Manfred Bissinger offenbar nichts dergleichen für nötig. Die Begleit-DVD mit Hellmut Hennebergs Dokumentation „Erlauben Sie noch eine letzte Frage?“ liefert zwar eine gewisse Einordnung, doch eine etwas systematischere Zusammenstellung von Informationen und eine etwas profundere, auch kritische Auseinandersetzung hätte Gaus durchaus verdient gehabt.

Anmerkungen: 

1 1969 wurde Gaus Chefredakteur des „Spiegel“, wo er von 1958 bis 1961 schon einmal als Redakteur tätig gewesen war. Zu Gaus’ journalistisch-politischem Lebensweg im Kontext der veränderten Medienlandschaft der 1960er-Jahre vgl. Daniela Münkel, Willy Brandt und die „Vierte Gewalt“. Politik und Massenmedien in den 50er bis 70er Jahren, Frankfurt a.M. 2005.

2 Zu dieser Journalistengeneration vgl. jetzt Christina von Hodenberg, Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945-1973, Göttingen 2006.

3 Günter Gaus, Zur Person. Von Adenauer bis Wehner. Porträts in Frage und Antwort, Köln 1987; ders., Was bleibt, sind Fragen. Die klassischen Interviews, Berlin 2000, Tb.-Ausg. Berlin 2005; https://www.rbb-online.de/zurperson/. Die Aufzeichnungen der Gaus-Interviews sind vollständig im Bonner Haus der Geschichte verfügbar.

4 Zit. nach Peter Zimmermann, Geschichte von Dokumentarfilm und Reportage von der Adenauer-Ära bis zur Gegenwart, in: Peter Ludes u.a. (Hg.), Informations- und Dokumentarsendungen, München 1994, S. 213-319, hier S. 276f.

5 Nur am Rande sei bemerkt, dass diese überlegene, Arendt geradezu körperlich eingeschriebene Intellektualität viel von ihrer umstrittenen Haltung gegenüber Adolf Eichmann erklärt. Eichmann und seinesgleichen waren intellektuelle Zwerge, „Hanswürste“, wie sie sagte. Intellektuelle Verachtung war für Arendt das einzige Mittel, mit diesen Verbrechen umgehen zu können.

6 Vgl. Münkel, Willy Brandt (Anm. 1), S. 148.

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