Die Revolution in der Produktkultur kommt unspektakulär daher: Im Herbstheft der Zeitschrift „Kultur im Heim“ von 1967 werben die Deutschen Werkstätten Hellerau mit einem Rastermotiv, das das Möbelprogramm Deutsche Werkstätten (MDW) ankündigt. Zwar steht im Vordergrund noch das Holz als Qualitätshinweis, doch ist alles in das kommende Maßsystem eingepasst - selbst das historisierende, an deutsche Handwerkskunst erinnernde Markenzeichen.
Abb. 1: Werbeanzeige der Deutschen Werkstätten Hellerau für die neue Möbelserie MDW, 1967
(aus: Kultur im Heim 1967, H. 3)
Als Revolution und mit Begeisterung wurde das Möbelprogramm vor allem von der Fachwelt wahrgenommen, als Durchsetzung der Vernunft in Form funktionaler Möbel. Nun seien die materiellen Voraussetzungen gegeben, dem wohnenden Individuum zur Selbstbefreiung zu verhelfen. In Wirklichkeit handelte es sich eher um einen evolutionären Schritt, der vom Einzelmöbel über die „komplettierungsfähigen Anbaumöbel“ zu einer weiteren Modularisierung führte und sowohl den ökonomischen und technologischen Erfordernissen der Möbelindustrie als auch den Entwicklungen im industriellen Wohnungsbau der Zeit entsprach. MDW folgte damit ganz bewusst einem seit den 1920er-Jahren entwickelten, auch international verbreiteten Verständnis von Funktionalität und industrieller Produktion. Doch weder der Zeitgeschmack noch Industrie und Möbelhandel in der DDR wussten mit MDW so recht etwas anzufangen - zumindest nicht in der Konsequenz, die bei der Präsentation als Wohnutopie mitgeschwungen hatte. Das Möbelprogramm „verkam“ in einem Wust von Nußbaumimitaten, lebte in der Wohnraumgestaltung jedoch als praktische Ergänzung zu unterschiedlichsten Stilpräferenzen weiter. MDW steht daher exemplarisch für die nachlassende Modernisierungsenergie der DDR, die Politik des „Angekommenseins“ in der Honecker-Zeit und zugleich für die vielfältigen individuellen Strategien, Privatheit zu organisieren.
Abb. 2: Arrangement einer kompletten Raumausstattung mit MDW, 1968
(aus: Deutsche Architektur 1968, H. 3)
MDW und sein Konzept wurden 1968 in Fachzeitschriften erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt - ausführlich in der Designzeitschrift „form + zweck“ sowie im Publikationsorgan der Deutschen Bauakademie und des Bundes Deutscher Architekten, „Deutsche Architektur“.1 Letztere bildete ein Wohnraumarrangement ab, in dem MDW zwei Wände komplett füllte. Im Hintergrund des Bildes erkennt man den Durchgang zum Flur, im Vordergrund eine Sitzgruppe mit Couchtisch und einer flachen Bank, auf der sich Radio und Plattenspieler befinden. In die MDW-„Wand“ eingefügt ist ein Freiraum für das Fernsehgerät ebenso wie ein Schreibtisch. Damit handelte es sich um ein aus damaliger Sicht komplettes Wohnzimmer mit seinen Funktionen Geselligkeit, Entspannung und Arbeit, verbunden mit dem notwendigen hohen Stauraum. Die nähere Bildanalyse zeigt den Anspruch funktionaler Moderne und technischer Modernität. Das Radio ist ein an die westdeutschen Braun-Geräte anknüpfendes flachliegendes Steuergerät der Serie rk 3, entworfen 1965 von Clauss Dietel und Lutz Rudolph, hergestellt von Heli-Radio, einem in Privatbesitz befindlichen Betrieb in Limbach-Oberfrohna, der sich durch funktionale Gestaltung in diesen Jahren besonders hervortat. Der Fernseher ist in seinen Maßen schrankwandgerecht, wobei vor allem seine geringe Tiefe und seine klare, ebenfalls in Weiß gehaltene Front auffallen. 1968 hatte in der DDR die Produktion von Fernsehern mit implosionsgeschützter Bildröhre begonnen, und ein solches Gerät ist hier zu sehen (Abb. 2).2
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Abb. 3: Darstellung des Rastersystems von MDW in der Designzeitschrift „form + zweck“, 1968
(aus: form + zweck 1968, H. 1)
Abb. 4: Schematische Darstellung der modularisierten Bauteile von MDW, 1968
(aus: form + zweck 1968, H. 1)
Abb. 5: Schematische Darstellung der Nutzungsmöglichkeiten von MDW in einer „Wand“, 1968
(aus: form + zweck 1968, H. 1)
Die Zeitschriftenredaktionen zeigten eine besondere Vorliebe für die Modularisierungsfähigkeit des MDW-Programms: Sie bildeten Ausschnitte von Frontaufnahmen seriell ab, in einem strengen Raster angeordnet und im Foto abstrahierend freigestellt (Abb. 3). Das Montagesystem bestand aus in weißem Schleiflack gehaltenen senkrechten Seitenwänden und Regalen sowie aus Fronten in dunklem Holzfurnier. Diese wenigen Gestaltungsgrundsätze betonten die Vertikale, so dass selbst Reihungen des immer gleichen Aufbaus nicht wie eine flache Strecke wirkten. In der „Deutschen Architektur“ wurde zudem die Philosophie des neuen Möbelsystems erläutert. Im Zentrum des Auftrags, der von den Deutschen Werkstätten an ein Gestalterkollektiv unter Führung von Rudolf Horn, Leiter des Instituts für Möbel- und Ausbaugestaltung an der Hochschule für industrielle Formgestaltung Burg Giebichenstein in Halle, vergeben worden war, stand die Integration des (Industrie-)Formgestalters in den gesellschaftlichen Entwicklungsprozess. Gesucht wurde ein „vertikaler Kontakt zwischen Produktion, Handel und Konsument“ anstelle des bisher üblichen horizontalen Kontakts zwischen den Herstellerbetrieben.3 Ausgehend von den Möglichkeiten der industriellen Massenproduktion wurde nach Wegen gesucht, individuelle Bedürfnisse auf möglichst vielfältige Weise zu decken: „Der veränderte Inhalt der industriellen Produktion in der sozialistischen Gesellschaft, bezogen auf ihre Aufgabe, kulturelle Bedürfnisse in massenhaftem Umfange zu befriedigen, wirft die Frage auf, wie trotz massenhafter Produktion dem Konsumenten eine persönlichkeitsbezogene Umweltgestaltung möglich wird, mehr noch, sie zwingt zur Auseinandersetzung mit dem Problem, wie die gebildete Persönlichkeit zu einer schöpferischen Beteiligung an der Gestaltung ihrer unmittelbaren Umwelt kommen kann.“4 Der Direktor der Deutschen Werkstätten, Horst Zaunick, brachte es in einem Interview mit der Zeitschrift „form + zweck“ auf den Punkt: „[...] der Käufer ist in der Lage, Bauteile zu kaufen, die praktisch Hunderte von Varianten zulassen. Es gibt also keine vorgedachte Gesamtform eines Möbelstücks oder eines Wohnzimmers. Vielmehr ist es dem Kunden überlassen, entsprechend seinen Vorstellungen, aber auch entsprechend des ihm zur Verfügung stehenden Raumes mit Hilfe dieser Bauteile die Ordnung zu schaffen, die er sich wünscht.“5
MDW entstand Ende der 1960er-Jahre in einem Kontext vielfacher Übergänge zur großen Serie. Im Wohnungsbau setzte sich seit 1966 das Modell P 2 durch, das erstmals in der gesamten DDR einen einheitlichen Typ industriell gefertigter Wohnblöcke in Tafelbauweise verfügbar machte.6 Es entstanden die aus heutiger Sicht für die DDR so charakteristischen Großsiedlungen als massive Reihung typgleicher Wohnbauten in fünf oder elf Geschossen.(Abb. 7) P 2 war, wie auch das MDW-Programm, Ausdruck funktional dominierter Vorstellungen von materieller Umweltgestaltung. Mit möglichst geringen finanziellen Mitteln sollten in großer Serie Wohnungen erstellt werden, die ein Höchstmaß an Nutzungsmöglichkeiten zuließen. Besonders umstritten war die innenliegende Küche, die nur noch wenige Quadratmeter Fläche aufwies, also eine reine „Arbeitsküche“ war und mit dem Wohnraum in Form einer „Durchreiche“ verbunden wurde. Der eingesparte Raum konnte dem Wohnzimmer zugeschlagen werden, das nunmehr eine erweiterte Funktion für die Familienkommunikation gewann: Neben der Sitzecke (und ggf. einem integrierten Arbeitsplatz) fand sich dort auch der Esstisch - am Fuß der Durchreiche, kombiniert mit einem MDW-Element als Raumteiler für das L-förmige Wohnzimmer (Abb. 6).
Abb. 6: „Durchreiche“. Im Vordergrund Raumteiler aus MDW-Elementen, 1969
(aus: Kultur im Heim 1969, H. 4)
Abb. 7: Wohnblocks im industriellen Wohnungsbau des Typs P 2 in Frankfurt (Oder) in den 1970er-Jahren
(Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt; Fricke)
Aufgrund seiner massenhaften Verbreitung beeinflusste der industrielle Wohnungsbau auch die Möbelproduktion. Die MDW-Entwickler betonten den ökonomischen Umgang mit dem Raum, der durch das zugrundeliegende Rastermaß ermöglicht werde: „Es zeigt sich, dass [...] auch kleine Räume bei vollkommener Wandausnutzung weit erscheinen.“7 Dies ließ sich in den Neubauwohnungen vorzugsweise durch Schrankwände erreichen. Wohnungsbau und Möbelproduktion wurden zu einem integrierten System, wie es zeitgleich mit der Entwicklung der „ratio-Küche“, bei der die Maße von Möbeln und Geräten erstmals aufeinander abgestimmt waren (Abb. 8), und in den folgenden Jahren auch in der Gestaltung von Glas und Porzellan zum Tragen kam (Abb. 9,10).
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Abb. 8: Erste Vorstellung der „ratio-Küche“ in der Zeitschrift „Kultur im Heim“, 1968
(aus: Kultur im Heim 1968, H. 4)
Abb. 9: Hotelgeschirr „rationell“, Entwurf Margarete Jahny, Erich Müller, 1969/70, Hersteller: VEB Porzellanwerk Colditz, ab 1973
(Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt; Sammlung Müller)
Abb. 10: „Wirtegläser“, Entwurf Margarete Jahny, Erich Müller, 1974, Hersteller: VEB Lausitzer Glas Weißwasser
(Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt; Sammlung Müller)
MDW war der Höhepunkt der Modularisierung des Gebrauchsguts Möbel. Die 1898 in Dresden-Hellerau gegründeten Deutschen Werkstätten hatten schon 1935 durch das Möbelsystem „Die wachsende Wohnung“ (Entwurf: Bruno Paul) das kompakte Garniturmöbel in ergänzungsfähige Einzelmöbel aufgelöst. Grundprinzip war der Gedanke, dass der Kunde über einen langen Zeitraum hin und entsprechend seiner wechselnden Nutzungsvorstellungen Möbel der gleichen Serie kaufen und damit seine Ausstattung schrittweise ergänzen konnte. Dieses Prinzip wurde in der DDR fortgesetzt. Pauls Möbelprogramm wurde, wenn auch unter einer anderen Bezeichnung, noch bis 1955 produziert und 1957 durch die außerordentlich beliebte Serie „602“ nach einem Entwurf von Franz Ehrlich abgelöst.8 Die Serie repräsentierte vor allem in den 1960er-Jahren den „skandinavischen Stil“: Zurückhaltend, modern, schmucklos und doch warm im Ausdruck, modular und daher für Neubauwohnungen geeignet, gehörte sie zu den Klassikern dieser Zeit und findet sich, nach jahrzehntelanger pfleglicher Nutzung, noch heute in vielen Wohnungen (Abb. 11).
Während die Serie „602“ aus „ergänzungsfähigen Einzelmöbeln“ bestand, war das Besondere von MDW die vielfältig variable Zusammensetzung bei Selbstmontage. „Im Rahmen dieses Systems wird sich die konkrete, letztliche, also individuelle Gestalt des Möbels während des Kaufvorgangs formieren lassen. [...] Damit werden die Voraussetzungen für die Verwirklichung eines wichtigen kulturellen Anliegens geschaffen, indem die Werktätigen nicht nur als Konsumenten, sondern als aktiv schöpferische Mitgestalter ihrer gegenständlichen Umwelt in Erscheinung treten.“9 Diese Hoffnung des Entwicklers wurde auf mehrfache Weise konterkariert. Obwohl das Möbelprogramm auf der Leipziger Herbstmesse 1967 als „Erzeugnis hervorragender Qualität“ eine Goldmedaille erhielt, wurde es, so wird kolportiert, von Walter Ulbricht kritisiert: Es handle sich lediglich um Bretter, soll Ulbricht nach dem Besuch der VI. Deutschen Kunstausstellung in Dresden, wo das Programm ebenfalls gezeigt wurde, geäußert haben.10 Die Evolution des Gebrauchsmöbels und seine Modularisierung als Konsequenz industrieller Massenproduktion hatten im politisch-ästhetischen Bereich also ihre Grenzen. Dennoch konnte Ulbrichts Verdikt die Produktion und die Beliebtheit von MDW nicht aufhalten. Eher wurde seine Verwendbarkeit durch das planwirtschaftliche System eingeschränkt,11 denn von MDW wurden nicht alle geplanten zwölf Module hergestellt, sondern nur sechs; nicht produziert wurden unter anderem der Schreibtisch, die Schlafzimmer- und Sitzmöbel.12
Abb. 11: Modul der „Ergänzungsfähigen Anbaumöbel“ Typ 602 der Deutschen Werkstätten Hellerau, 1957
(Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt; Sammlung Sütterlin)
Stärker noch fiel ins Gewicht, dass der Möbelhandel das Prinzip der Modularisierung nicht unterstützen wollte, sondern komplette Körper anbot. Bissig wurde festgestellt: „Im Prinzip stimmen Industrie und Handel darin überein, dass der einzelhändlerische Umgang mit den MDW-Möbeln dem Montageprinzip meist noch zuwiderläuft. Denn von der Möglichkeit, eigene Kreativität beim Wohnungseinrichten zu entwickeln, erfährt der potentielle Käufer oft gar nichts. Ihm wird eine Schrankwand verkauft, wie jede andere. Den Unterschied begreift er erst, wenn statt der Möbel zerlegte Teile in seiner Wohnung eintreffen.“13 Obwohl nach einer internen Analyse die Hälfte der Käufer Selbstmontage bevorzugten, wurden die Deutschen Werkstätten 1974 angewiesen, nur noch teilverklebte Körper anzufertigen.14
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Abb. 12: Modellbogen zur Selbstmontage von MDW, nach 1974
(Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt)
Abb. 13: Private Montageskizze für MDW, 1985
(Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt)
Abb. 14: Rechnung für Lieferung einer MDW-Schrankwand inklusive Montage, 1972. Der Preis entsprach knapp dem Vierfachen eines durchschnittlichen DDR-Monatslohns in dieser Zeit.
(Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt)
Abb. 15: MDW-Türen mit Scharnieren
(Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR, Eisenhüttenstadt)
Hinzu kamen der ökonomisch bedingte Ersatz des Holzfurniers durch Holzdekorfolie15 sowie eine hellere Dekorvariante im selben Jahr. Dies verstärkte die in den 1970er-Jahren vorherrschende Tendenz zur monolithischen Schrankwand, den „vor die Wand gestellten Stauraum“.16 „Rationell wird die Fertigung nicht mit 100 Typen einer Variante, sondern mit einem Typ in hundert Varianten“, hatte Rudolf Horn einst die Philosophie von MDW beschrieben.17 Die Möbelindustrie der DDR ging jedoch genau diesen kritisierten konservativen Weg und wollte der Monotonie des industriellen Wohnungsbaus, nun im Wesentlichen aus den beiden Typen P 2 und WBS 70 bestehend18 und durch das Wohnungsbauprogramm von 1973 massiv beschleunigt, durch immer mehr Typen- und Dekorvarianten begegnen. Es gab einen Umschwung von der konstruktivistischen zur dekorativen Epoche, dem auch MDW folgte. Ein Wettbewerb für ein Nachfolgemodell19 scheiterte 1974 zunächst aufgrund unbefriedigender Ergebnisse, so dass die Möbelserie ab 1976 modifiziert als „MDW 80“ produziert wurde (Abb. 16). Mit der ab Ende 1985 produzierten Serie „MDW 90“ wurde die ursprüngliche Gestaltung dann entscheidend verändert (Abb. 17). Das System verlor seine ästhetische Klarheit, behielt aber seine konstruktiven Merkmale bei. Ähnlich wie beim Billy-Regalsystem im Westen, das Petra Eisele in diesem Heft untersucht, zeigte sich eine ästhetische Verwässerung.
Abb. 16: Schrankwand aus der Serie „MDW 80“, hergestellt seit 1974. Das System ist weitgehend identisch mit dem ursprünglichen MDW, aber mit Holzdekorfolie und teilverklebten Korpussen. Die Türen über dem Fernseher sind in einer zusätzlichen Dekorvariante ausgeführt.
(Kultur im Heim 1977, H. 3)
Abb. 17: „MDW 90“ in völlig geändertem Design, hergestellt ab 1985
(Kultur im Heim 1985, H. 3)
Die Möbelproduktion wurde im Verlauf von vier Jahrzehnten DDR immer stärker strukturiert und zentralisiert. Existierten 1956 noch 612 Möbelfabriken, so waren es 1969 nur noch 18 Kombinate, die bis 1986 auf 5 konzentriert wurden. Die Uniformität im Möbelangebot hatte hier ihre Ursache. Mangelhafte Qualität und zu geringes Angebot im Inland waren Folgen der Exportorientierung der DDR-Möbelindustrie20 und zu geringer Kapazitäten der Spanplattenwerke. Jedes der entstehenden Möbelkombinate, unter ihnen auch Hellerau, baute seine eigenen Schrankwände, optimiert für die Maße der beiden wichtigsten Wohnungsbauserien P 2 und WBS 70, und dekorierte die Fronten für unterschiedliche Geschmackspräferenzen von einfach bis „historisch“.
Abb. 18: Der „vor die Wand gestellte Stauraum“. Schrankwand Typ „Bützow 74“, 1975
(Kultur im Heim 1975, H. 2)
Abb. 19: Der „vor die Wand gestellte Stauraum“. Schrankwand Typ „Poel“, 1976
(Kultur im Heim 1976, H. 3)
Abb. 20: Der „vor die Wand gestellte Stauraum“. Schrankwand Typ „Leipzig 4“, 1978
(Kultur im Heim 1978, H. 4)
Die zentralistische Organisation der DDR-Möbelproduktion führte zu immer eindeutigeren Vorgaben. In den 1970er-Jahren wurden die Preissegmente „Exquisit“, „Standard“ und „Simplex“ eingeführt, die sich vor allem auf die Oberflächenqualität bezogen.21 In diesem Umfeld bestach MDW durch überdurchschnittliche Qualität und langfristige Verfügbarkeit, auch wenn die Möbel nur in ausgewählten Geschäften zu bekommen waren. Mit dem Besitz von MDW - einer Produktlinie, die die Käufer vom Massengeschmack abhob - verband sich möglicherweise eine spezifische Distinktion und ästhetische Kompetenz, an der sich Gleichgesinnte aus Kultur und Wissenschaft erkannten.22 Bei dem Versuch, MDW-Programmteile für die Museumssammlungen in Eisenhüttenstadt zu erwerben, können wir diesen Befund teilweise bestätigen, aber daneben waren es eben auch ganz normale Bürger, die das System gekauft hatten. Wesentlicher als der kulturelle Bildungsgrad scheint die Zugehörigkeit der Möbelbesitzer zu einer Generation zu sein, die dem funktionalen Gedanken verbunden war. Zugleich wird immer wieder davon berichtet, dass das System gleichsam zweckentfremdet wurde, um im Eigenbau die Wohnung sachgerecht auszurüsten. Dem Vernehmen nach wurden unzählige Teile von MDW in Garagen und Wochenendhäusern verbaut.
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Abb. 21: Wohnungseinrichtung unter Verwendung von MDW-Elementen in den 1980er-Jahren
(Peter Kersten, aus: Hirdina, Gestalten für die Serie [Anm. 3])
Abb. 22: MDW-Elemente zur Umbauung einer Sitzgruppe, 1982
(aus: Sibylle 1982, H. 5)
Die Besonderheit von MDW in den 1970er-Jahren war jedoch vor allem die universelle Einsetzbarkeit als Ergänzungsmöbel. In Wohnzeitschriften zeigte sich eine Tendenz, Möbel nicht mehr als komplette Gestaltungsvorschläge zu präsentieren, sondern die Individualität und Kreativität der Wohnungsnutzer exemplarisch darzustellen. MDW-Bauteile erschienen eingepasst in selbstgebaute Bücherregale, im Hintergrund historischer Möbelstücke, als Raumteiler und Unterbau, vor Kachelöfen und zwischen Flokati, Lammfell und Pflanzen. MDW umrahmte Betten und Couchtische, rüstete Kinder- und Schlafzimmer aus, verbaute Flure und Durchreichen. Auffallend ist, dass das Programm nun immer im Hindergrund blieb, sozusagen eine funktionelle Ergänzung des individuellen Wohngeschmacks. Dies zeigt, dass MDW durchaus im Sinne der selbstbestimmten Umweltkonstruktion verwendbar war, wie es die Gestalter ursprünglich geplant hatten. Besonders der Mangel an Holz und Brettern machte MDW zu einem Steinbruch für die Wohnungsergänzung. Es ist vielleicht nicht übertrieben, den eigensinnigen Umgang mit MDW als pars pro toto des DDR-Alltags der 1970er- und 1980er-Jahre zu bezeichnen - zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Utopie und Pragmatismus.
1 Rudolf Horn u.a., Gestaltung, Produktion und Konsumtion des Industriemöbels, in: form + zweck 1968, H. 1, S. 24-31; Industriell gefertigte Montagemöbel, in: Deutsche Architektur 1968, H. 3, S. 144-149.
2 Vermutlich das Modell „Ines“, VEB Fernsehgerätewerk Staßfurt. Vgl. Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Hg.), abc des Ostens. 26 Objektgeschichten, Cottbus 2003, S. 22f.
3 Heinz Hirdina, Gestalten für die Serie. Design in der DDR 1949-1985, Dresden 1988, S. 161. Das Manuskript der Abschlussarbeit Horns, verfasst in Zusammenarbeit mit dem Leiter der Hellerauer Forschungs- und Entwicklungsstelle E. André, befindet sich im Hauptstaatsarchiv Dresden, 11714, VEB Deutsche Werkstätten Hellerau, Nr. 980.
4 Industriell gefertigte Montagemöbel (Anm. 1).
5 VEB Deutsche Werkstätten Hellerau setzt Maßstäbe (Interview mit Werkdirektor Horst Zaunick), in: form + zweck 1968, H. 1, S. 21ff.
6 Vgl. u.a. Petra Gruner, P 2 macht das Rennen - Wohnungsbau als sozio-kulturelles Programm, in: Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR (Hg.), Tempolinsen und P 2. Alltagskultur der DDR, Berlin 1996, S. 87-102.
7 Horn u.a., Gestaltung (Anm. 1), S. 28.
8 Vgl. Günter Höhne, Penti, Erika und Bebo Sher. Die Klassiker des DDR-Designs, Berlin 2001, S. 160.
9 Rudolf Horn, Gestaltung und industrielle Produktion im Möbelbau, in: Bildende Kunst 1969, H. 2, S. 69-74, hier S. 72.
10 Marc Schweska/Markus Witte, Revolution aus Tradition? Das Montagemöbelprogramm Deutsche Werkstätten (MDW), in: Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (Hg.), Wunderwirtschaft. DDR-Konsumkultur in den 60er Jahren, Köln 1996, S. 80-89, hier S. 80.
11 Rolf Brückner/Wolfgang Rose, Die Neugestaltung der wirtschaftsorganisatorischen Beziehungen in der Möbelindustrie zur Sicherung der massenhaften Produktion bedürfnisorientierter Wohnraummöbel, Diss. Berlin 1975, S. 21, zit. nach Andreas Lauber (im Auftrag des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR), Wohnkultur in der DDR. Dokumentation ihrer materiellen Sachkultur. Eine Untersuchung zu Gestaltung, Produktion und Bedingungen des Erwerbs von Wohnungseinrichtungen, Ms. Eisenhüttenstadt 2003, S. 22.
12 Schweska/Witte, Revolution aus Tradition? (Anm. 10), S. 83.
13 Dagmar Lüder, Trend oder Entwicklung?, in: form + zweck 1976, H. 1, S. 38-41, hier S. 39.
14 „In der Sortimentskonzeption ist die Produktion von Montagemöbeln nicht mehr vorgesehen.“ Vgl. Hauptstaatsarchiv Dresden, 11764, Nr. 3124, MDW 76 (80), Schreiben Dr. Merker, VVB Möbel, vom 30.1.1974; Protokoll zu Wettbewerbsbedingungen und Bedarfsanalyse vom 12.3.1974 über ein Nachfolgemodell für MDW, unpaginiert.
15 Ebd., Wettbewerb „Hellerauer Wohnraumausstattung“, 30.4.1974, S. 3f.; Lüder, Trend (Anm. 13), S. 39.
16 Hirdina, Gestalten für die Serie (Anm. 3), S. 165.
17 Horn u.a., Gestaltung (Anm. 1).
18 Auch hier wurde die geplante Modularisierungsfähigkeit aus ökonomischen Gründen nicht genutzt.
19 In Zusammenarbeit mit dem Amt für Industrielle Formgestaltung, vgl. Hauptstaatsarchiv Dresden, 11764, Nr. 3124, Wettbewerb, S. 3f.
20 U.a. für das IKEA-System „Billy“ in seiner Furniervariante durch die Meyenburger Möbelwerke; lt. telefonischer Auskunft von IKEA Deutschland.
21 Lauber, Wohnkultur in der DDR (Anm. 11), S. 14.
22 So die These bei Schweska/Witte, Revolution aus Tradition? (Anm. 10), S. 87ff.