Joachim Radkau, von 1980 bis 2009 Professor für Neuere Geschichte an der Universität Bielefeld, zählt zu den Begründern der Umweltgeschichte in Deutschland und ist heute weit über die Landesgrenzen hinaus einer ihrer wichtigsten Vertreter. Bevor er sich im Laufe der 1970er-Jahre mehr und mehr der Umwelt- und Technikgeschichte zuwandte, schrieb er eine von Fritz Fischer betreute Dissertation über deutschsprachige Emigranten in den USA zur Regierungszeit Roosevelts. Seine Habilitationsschrift „Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft“ (1981, Publikation 1983) ist bis heute ein Standardwerk der deutschen Nukleargeschichte. Radkau arbeitete zu einer Vielzahl von Themen der Neueren Geschichte und Zeitgeschichte, unter anderem zum „Zeitalter der Nervosität“, zur Geschichte der Forstwirtschaft und des Naturschutzes. Im Jahr 2000 erschien seine viel beachtete „Weltgeschichte der Umwelt“, die bereits in mehrere Sprachen übersetzt wurde. 2005 folgte eine Biographie Max Webers. Die jüngste Monographie, „Die Ära der Ökologie“, wird gerade zur Übersetzung ins Englische vorbereitet. Im Interview, das Melanie Arndt am 2. November 2011 in der Humboldt-Universität zu Berlin führte, spricht Joachim Radkau über seinen persönlichen Weg zur Umweltgeschichte sowie über Stand und Perspektiven der umwelthistorischen Forschung.1
Herr Radkau, wie sind Sie zu umweltgeschichtlichen Perspektiven gekommen? Welche inner- und außerwissenschaftlichen Anstöße waren dafür besonders wichtig?
Meine Mutter hatte mir zu meinem 15. Geburtstag 1958 die deutsche Kurzfassung von Arnold Toynbees „Study of History“ geschenkt. Toynbee schildert den Aufstieg der Kulturen in Reaktion auf Herausforderungen der Natur. Dadurch hatte ich in meinem tiefsten Inneren immer die Sehnsucht, so etwas auch einmal hinzukriegen. Ich liebe die Geschichte, ich liebe die Natur, ich wollte beides nach Toynbees Vorbild zusammenbringen, und noch dazu mit globalem Horizont. Aber lange war das natürlich ein völlig absurder Plan. Ich musste anständig bei Fritz Fischer promovieren, zu einem Thema, mit dem er etwas anfangen konnte. Dann kam ich an die Universität Bielefeld, unter die Argusaugen von Hans-Ulrich Wehler. Es dauerte ziemlich lange, bis ich es endlich wagen konnte, meine alte Liebe ungehemmt auszuleben. Aus der Rückschau habe ich das Gefühl, erst da zu mir selbst gefunden zu haben. Als ich Ende 1973 mit meinen Recherchen zur Geschichte der Atomwirtschaft begann, war das eigentlich noch nicht Umweltgeschichte. Ich war seinerzeit ein Kernenergie-Fan und plante, ein Buch nach dem damaligen linken Muster zu schreiben – also die konservative Bonner Regierung zu attackieren, dass sie diese wunderschöne Zukunftsenergie nicht kräftig genug forciere. Aber dann wurde ich ziemlich überrumpelt durch die aufkommende heftige Anti-AKW-Bewegung. Zusammen mit ihr habe ich mich immer mehr ins Grüne hinein entwickelt.
Genau in der Zeit, als Sie die Themen Atomenergie und Forstwirtschaft bearbeitet haben, wurden die damit verbundenen Fragen auch in der Öffentlichkeit sehr kontrovers und brisant. Ihr Buch über die deutsche Atomwirtschaft avancierte rasch zum Klassiker im Anti-AKW-Diskurs. Und Ihre Arbeiten zur „Holznot“ im 19. Jahrhundert kamen gerade rechtzeitig zur Debatte um das Waldsterben in den 1980er-Jahren.
Rückblickend würde ich sagen, dass meine Schwächen sich in meine Stärken verwandelt haben. Ich war immer ein Einzelgänger, der sich in Gruppen und Trends nicht so richtig einordnen konnte. Auch in dem Bielefelder Geschichtsbetrieb war ich geraume Zeit ein Außenseiter; ich habe das auch gar nicht bereut. Ich wollte meine eigenen Wege gehen. Die ganze Sitzungs- und „Projekthuberei“ habe ich nicht besonders geliebt. Vielleicht ist es ganz tröstlich, dass sich gewisse eigene Unfähigkeiten mit einer Portion Glück am Ende auch in Vorzüge verwandeln können.
Haben Umwelthistoriker/innen eine besondere Aufgabe, weil ihre Themen oft noch aktueller sind als in der Zeitgeschichte ohnehin üblich?
Umwelthistoriker sollten schon aufpassen, nicht einfach jeder Öko-Welle zu folgen. Ich habe mal vor 20 Jahren, im Jahr 1991, an einer Vortragsreihe der Universität Basel teilgenommen. Den letzten Vortrag hielten zwei dortige fortgeschrittene Studenten. Sie hatten ihr Thema ganz frech betitelt: „Warum ist Umweltgeschichte so langweilig?“ Die Pointe war, dass sich diese Forschungsrichtung den gängigen Öko-Trends anhänge; wenn man drei Sätze gelesen habe, wisse man schon, was herauskomme. Man erlebe keine Überraschungen, keine Aha-Erlebnisse mehr. Und da war ich fest entschlossen, dass ich etwas anderes bieten will.
Weshalb hat sich die Umweltgeschichte in Europa und vielleicht speziell in der Bundesrepublik so langsam entwickelt?
Das ist eine interessante Frage. Mein Gesamteindruck ist, dass die grüne Bewegung, gerade in der Bundesrepublik, frappant wenig Geschichtsbewusstsein besessen hat – und zwar in größtem Kontrast etwa zur alten Arbeiterbewegung, die von Anfang an ein sehr ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein hatte, sich auch ihre Vorgeschichte konstruierte. Ebenso im Kontrast zur amerikanischen Umweltbewegung, die sich ihre eigene Heldengalerie schuf: Henry David Thoreau, Ralph Waldo Emerson, John Muir, Gifford Pinchot, Aldo Leopold und als Höhepunkt dann Rachel Carson.2 Das hat in Deutschland völlig gefehlt. Es gab eher so ein dummes Gefühl, wenn man in der eigenen Vergangenheit bohre, dann gerate man in „braune Bereiche“, was nicht selten ja auch der Fall war. Das war eine andere Situation als in den USA.
Welches waren nach Ihrem Eindruck die fünf wichtigsten Werke der Umweltgeschichte in den letzten Jahren?
Da komme ich ins Schleudern… Wofür ich mich selbst gerade interessiere, hängt mit der Übersetzung meines Buches „Natur und Macht“ ins Türkische zusammen. Ich habe dafür eine zusätzliche Einleitung geschrieben, weil die ganze byzantinische, osmanisch-türkische Geschichte so schändlich wenig darin vorkommt. Zwei Bücher haben mich dabei sehr angeregt: Faruk Tabaks „The Waning of the Mediterranean“3 und ein Buch von Alan Mikhail zur ägyptischen Umweltgeschichte des 18. Jahrhunderts.4 Der ganze islamische Bereich ist in der Umweltgeschichte der allergrößte weiße Fleck, weil es dort kaum Umweltbewegungen gibt.
Die von Mark Elvin und Liu Ts’ui-jung herausgegebene Umweltgeschichte Chinas hat mich auch sehr beeindruckt.5 Das war wirklich bahnbrechend. Oder ein anderes gewaltiges Sammelwerk: „Nature and the Orient“ von Richard H. Grove und anderen. Das eröffnete mir vollkommen neue Bereiche – ohne dieses Buch hätte ich „Natur und Macht“ gar nicht schreiben können.6
Das vor allem in Deutschland, aber nicht nur hier, wohl bekannteste umweltgeschichtliche Opus der letzten Jahre ist David Blackbourns „The Conquest of Nature“.7 Blackbourn schreibt glänzend. Man merkt, dass er in Deutschland herumgeradelt ist – das Buch hat auch einen gewissen Landschaftsgeruch. Aber seine Suggestion, dass die gesamte neuere deutsche Geschichte ein großes Projekt sei, die Natur zu vergewaltigen und zu verstümmeln, dass die Deutschen Feinde der Natur und im Speziellen des Wassers seien und dass alles schließlich im Nationalsozialismus gipfele (selbst wenn Blackbourn historisch viel zu gebildet ist, als dass er so etwas ausdrücklich sagen würde), halte ich für grundfalsch.
Handelt es sich bei der Umweltgeschichte um eine Subdisziplin, die als solche ihren Platz neben allen anderen Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft einnehmen sollte, oder müsste das Ziel eher darin liegen, „Umwelt“ als Grundkategorie in der gesamten (zeit)historischen Forschung möglichst breit zu etablieren?
Emphatisch: Letzteres! Bisher ist Umweltgeschichte in Deutschland ja kaum eine Subdisziplin, sie hat eher ein etwas unsicheres Randdasein. Ich selbst habe schon den Ehrgeiz, sie zu einem Element des „Mainstreams“ zu machen – zu einem zentralen Zugang zur Geschichte, von dem aus sich vieles andere erschließen lässt. Die Umwelthistoriker sollten ihrerseits ein bisschen breiter forschen als bisher und auch mal versuchen, die menschliche Natur einzubeziehen. Das ist natürlich ein heikles Gebiet – und nicht zuletzt der Anstoß für meinen dicken Schmöker über Max Weber, was zunächst ja viele irritiert hat. Aber es war ein Versuch, die menschliche Natur zu integrieren und so darzustellen, dass Webers Beziehungen zum Naturalismus in den Wissenschaften, zur äußeren Natur und die sehr gestörte Beziehung zu seiner eigenen Natur als übergreifender Zusammenhang kenntlich werden. Ich glaube, da lohnt es sich weiterzumachen. Das würde auch der Umweltgeschichte gut bekommen.
Was kann die Umweltzeitgeschichte, was die Zeitgeschichtsforschung ohne die Dimension „Umwelt“ nicht kann? Welche neuen Erkenntnisse bringt sie uns – oder auch welche neuen Fragen?
Die ganze heutige Stellung Deutschlands in der Welt ist sehr stark auch von der grünen Bewegung bestimmt. In meiner Jugend wurden die Deutschen immer mit „braun“ und den Nazis identifiziert, inzwischen aber mit Typen à la Joschka Fischer. Für mich ist das seit über 30 Jahren das große neuartige Element in der deutschen Geschichte. Auch beim Zerfall der DDR haben Öko-Initiativen, vor allem die Stadtökologie, als eine Initialzündung gewirkt. Warum kommt das in vielen Standardwerken immer noch nicht gebührend vor? Man kann doch mit neuen Fragen herangehen. Die Zeitgeschichte verpatzt einfach große Chancen, wenn sie da nicht anbeißt. Von der Mensch-Natur-Beziehung her lässt sich auch sehr vieles in der Zeitgeschichte aufschlüsseln.
Die Kategorie „Zeit“ spielt für Zeitgeschichte definitionsgemäß eine besondere Rolle (oder sollte es zumindest). Dabei kommen allerdings eher kurzfristige Zeithorizonte in den Blick. Wie geht die Umweltgeschichte, die ja stärker auch longue-durée-Perspektiven einbezieht, mit Temporalstrukturen um? Was folgt daraus möglicherweise für das Verhältnis von Umweltgeschichte und Zeitgeschichte?
In meinem Buch „Die Ära der Ökologie“ habe ich sehr darauf insistiert, dass es auch bei der Umweltbewegung wichtig ist, das Ganze mit einem längeren zeitlichen Bogen zu sehen. Wenn man sich nur auf das konzentriert, was in den Medien Sensation machte, diese ganzen Prügelszenen von K-Gruppen und Polizisten am Bauzaun von Kernkraftwerken – das gibt einen doch ganz unzulänglichen Eindruck. Dadurch wird oft das vorgeprägte Bild bestätigt: Die Umweltbewegung sei im Kern irrational, eine Massenhysterie. Oder eine andere viel zu beschränkte Sicht: Sie sei ein reines Phänomen der Civil Society, die nichts mit Staat und Verwaltung zu tun habe. Das ist alles, im größeren zeitlichen Bogen gesehen, eine völlige Fehlinterpretation. Ganz entscheidende Impulse sind von intellektuellen Eliten gekommen, aus der Wissenschaft, aus der staatlichen Administration, von den Gerichten. Ob in den USA, in der Bundesrepublik oder in England: Gerade dieses Wechselspiel zwischen verschiedenen Impulsen hat entscheidend zur Durchschlagskraft der Umweltbewegung beigetragen. Erst die Zusammenschau macht die Bewegung der Bewegung aus. Da braucht man einen multiperspektivischen und jahrhundertübergreifenden historischen Zugang. Ich finde, diese Chance sollte ganz stark betont werden.
Die Idee zu Ihrem Buch „Natur und Macht“ soll während einer Himalaya-Wanderung entstanden sein. Sie berichten immer wieder von Inspirationen, die Sie auf Wanderungen erhalten haben. Jüngst (im Oktober 2011) entbrannte auf der Diskussionsliste H-Environment eine Debatte zum „Wandern als Methode und Praxis in der Umweltgeschichte“. Was hat es damit auf sich? Oder, provokativ gefragt: Bestätigt der Umwelthistoriker damit nicht das Klischee vom ewiggestrigen, vielleicht sogar esoterischen Öko, der sich in die Zeitgeschichte verirrt hat und den man nicht ganz ernst nehmen kann? Oder sollte man das Wandern generell viel stärker als Erfahrungsgrundlage und Kreativitätstechnik der Geschichtswissenschaft entwickeln?
Ja, Letzteres, absolut! Zwischen Spazierengehen und Aufklärung besteht ein ganz enger Zusammenhang. Im 18. Jahrhundert wurde auch der Spaziergang erfunden. Und wenn Sie mal in den Biographien bedeutender Geister jener Zeit nachlesen: Es sind oft große Spaziergänger gewesen und später auch Wanderer. Der Niedergang des Spaziergangs ist etwas, was mich besonders betrübt. Spaziergänger alten Stils, die sieht man heute kaum noch. Ich habe bei Spaziergängen immer einen zusammengefalteten Zettel und einen Kuli in der Tasche, ich habe da oft meine besten Gedanken, und zwar gerade dann, wenn ich eigentlich an nichts denken wollte. Kann ich nur leidenschaftlich empfehlen. Ich bin auch leidenschaftlicher Radfahrer. Ich habe niemals in meinem Leben auch nur eine Minute überlegt, ob ich den Führerschein machen sollte.
Kaum jemand hat sich so intensiv mit der Atomenergie und ihrer Geschichte auseinandergesetzt wie Sie. Wie schätzen Sie die Debatten der letzten Jahre um die friedliche Nutzung der Kernkraft ein? Welche Argumente sind gleichsam Dauerbrenner – oder welche veränderten Diskurskonstellationen sind zu beobachten?
In den letzten Jahren hat es kein prinzipiell neues Argument gegeben. Alles ist früher schon gesagt worden. In den 1970er- und frühen 1980er-Jahren ist ja ein Strom von Literatur erschienen. Das meiste ist heute gar nicht mehr bekannt, auch viele Namen sind vergessen. Das einzige etwas neuere Argument – es stammt aber ebenfalls schon aus den 1980er-Jahren – ist die Proliferationsgefahr. Die Anti-AKW-Leute in den 1970er-Jahren haben den Hinweis auf die Atombombe eher als Ablenkung empfunden. Diese Konstellation hat noch bis in die 1980er-Jahre fortgewirkt, aber dann ist die Proliferationsgefahr stärker beachtet worden – durch die Bewegung gegen die Nachrüstung, die sich verquickte mit der Bewegung gegen die geplante Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf. Die ganze Endlagerproblematik ist generell wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt. Aber bekannt war das Endlagerproblem von Anfang an.
Für meine eigene Beschäftigung mit dem verdammten Atomthema war das entscheidende Motiv, dass ich das Ganze intellektuell so interessant fand. Ich habe, ehrlich gesagt, nie große emotionale Angst vor Kernkraftwerken gehabt. Ich hatte auch damals in den 1970er-Jahren viele gute Kontakte zu führenden Leuten der „atomaren Community“ – meine interessantesten Gespräche habe ich mit ihnen geführt, da konnte ich viel mehr lernen als bei allen Gesprächen mit AKW-Gegnern. Ich habe es auch immer als ganz falsch empfunden, wenn darüber geklagt wurde: „Ach, diese ganzen Pro-und-Contra-Diskussionen, das ist doch nur so ein stereotyper Schlagabtausch, mit immer den gleichen Argumenten!“ Das gilt nur, wenn man kurze Ausschnitte sieht. Aber wenn man das Ganze in einem größeren zeitlichen Bogen betrachtet, ist es doch eine intellektuell sehr lebendige Bewegung gewesen, wo viele Sozial- und Kulturwissenschaftler sich zum ersten Mal so richtig besessen auch in natur- und technikwissenschaftliche Literatur eingearbeitet haben. Das sehe ich, für wissenschaftliche Zwecke, als das wertvollste Erbe der ganzen Bewegung.