Jenseits von Marienborn oder: Kalter Krieg privat

Das Ende des Kalten Krieges oder wie man alt wird. Man wird unwillkürlich zum Historiker der Zeit, deren Zeitgenosse man gewesen ist. Eine Epoche ist zu Ende gegangen, und wenn man diese beschreibt, beschreibt man zugleich auch ein Stück des eigenen Lebens, und umgekehrt: Das individuelle Leben fällt mit der historischen Zeit zusammen. Das hat nichts mit Selbstliebe oder Selbstüberschätzung zu tun. Man merkt es, wenn man mit jungen Leuten zusammen ist, mit denen man über Ereignisse spricht, die vor ihrer Geburt liegen, die man selbst aber miterlebt hat. Man berichtet aus der eigenen Zeit, die ihre Vorzeit ist. Es ist lohnend, sich dieser Zeit genau zu erinnern. Die subjektive Erinnerung bewahrt Details, Nuancen, Valeurs, die im Betrieb der Geschichtsforschung entweder gar nicht vorkommen oder später, wenn man deren Fehlen bemerkt, mühsam rekonstruiert werden müssen.

Das Podest. Erkenntnispunkt. An verschiedenen Punkten entlang der Berliner Mauer - aber auch an der innerdeutschen oder deutsch-tschechoslowakischen Grenze - waren Plattformen errichtet, die man besteigen konnte, um einen Blick über die Grenze, über das Niemandsland hinweg auf die andere Seite werfen zu können. Solche Podeste standen am Reichstag, am Bethanien-Krankenhaus in Berlin-Kreuzberg; eine Aussichtsplattform mit Gucklöchern, die an Schießscharten erinnerten, gab es an der Oberbaumbrücke. Besucher der Hauptstadt erstiegen sie und richteten ihren Blick auf die andere Seite. Dort standen Posten - an manchen Stellen waren sogar Sichtblenden installiert - und blickten aus Ferngläsern auf jene, die die Aussichtsplattformen bestiegen hatten. So kam es, wie das bei Feindbeobachtung üblich ist, zu einer wechselseitigen Beobachtung der Beobachter. In dieser Fixierung lag eine wesentliche Erkenntnis, aber auch nur ein Teil der Wahrheit. Man muss heruntersteigen von der Aussichtsplattform und eine Blickwendung vollziehen, damit einem nicht entgeht, was sonst im toten Winkel bleibt.

Rite de passage. Für eine ganze Generation, vielleicht sogar für zwei, wurde die Überschreitung der innerdeutschen Grenze, die zugleich die Grenze zwischen den Weltsystemen war, zu einer das Leben prägenden Erfahrung. Sie wurde mit allen Sinnen wahrgenommen, sie hat sich fast körperlich eingeprägt. Und doch fällt es kaum 20 Jahre später schon schwer, die Details ins Gedächtnis zurückzurufen. Da war ein Geruch - aber welches Desinfektionsmittel roch so? -, im Winter das chronisch überheizte Kabuff, in das einer gebeten wurde, wenn etwas mit dem Pass nicht zu stimmen schien, die Gesten und Blicke, die einen spüren ließen, dass man als Passagier dieser Grenze ein Nichts war, das jederzeit aufgehalten und ausgefragt und vielleicht sogar zurückgewiesen werden konnte. Die überheizten Räume, die charakteristisch waren für den verschwenderischen Umgang mit Energie im Sozialismus, verbanden sich mit dem Geruch von Schweiß, der nicht der Angst geschuldet war, wohl aber einem Unbehagen und einer Unsicherheit, die einen erst wieder verließen, wenn man das Hoheitsgebiet dieser Grenzbeamten verlassen hatte. Man hatte Zeit, viel Zeit, um seine Beobachtungen anzustellen. Beobachtungszeit war sogar eine Form der Selbstberuhigung - Bewältigung der in der Schleuse zwischen den Welten verbrachten Zeit. Alle Vorrichtungen und Apparate schienen auf die Verlangsamung von Bewegungen ausgerichtet. Die Autos hatten sich rechtzeitig in einer der zahlreichen Spuren einzuordnen, und wehe, man hatte nicht aufgepasst: Ein Verweis, eine Verwarnung, mindestens aber weiterer Zeitverlust waren die Konsequenz. Man bewegte sich, wenn ich mich recht erinnere, zeitweise sogar in einer Art Slalom zwischen allerlei Betonbarrieren und Pfosten. Man wurde durch ein gestaffeltes System von Kontrolleuren und Posten geleitet, die im Winter oder bei Regen von grünbraunen Pelerinen beschützt wurden, die von den Schultern herabhingen. Obligatorisches Herunterdrehen des Fensters, Hinausreichen der Papiere, Hinhören auf den Ton und die Intonation. Die bemerkenswerte Einrichtung, die immer wieder Interpretationen und Kommentare herausforderte, war jenes aus einer Kombination von Holz, Blech und Plexiglas verkleidete Förderband, auf das der Kontrollposten Pass und Wagenpapiere gelegt hatte, die man dann, wenn man endlich die Grenze hinter sich gebracht hatte, wieder in Empfang nahm. Irgendetwas war auf dem Weg zwischen dem Verschwinden der Papiere auf dem Förderband und der Aushändigung passiert, aber man konnte nur spekulieren, was. Sicherlich haben die Historiker, die sich nach der Wiedervereinigung mit diesen Details und Prozeduren beschäftigt haben, inzwischen herausgefunden, was im Einzelnen passiert ist, und sicherlich gibt es über diese Vorgänge Regalkilometer von Unterlagen. Wir, die Zeitgenossen jenes Schleusungsvorganges, werden diese Akten nicht mehr sichten, aber doch jenen, die nur vom Hörensagen davon wissen, genauer berichten können, dass es so etwas gegeben hat. Und zwar an mehreren Stellen, die auf den mental maps unserer Generation gespeichert sind bis zum Ende der Tage: Lauenburg, Probstzella, Saßnitz, Bad Schandau, ja auch an anderen Grenzen gab es diese Prozedur.

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Interzonenzüge, Paris - Moskau. Das Design der Züge - und damals war die schnellste und komfortabelste Klasse der D-Zug - hatte sich noch nicht so sehr auseinanderentwickelt, wie das in den 1990er-Jahren schlagend in Erscheinung trat. Im Westen Europas waren die dem Flugzeug nachgebildeten aerodynamischen TGVs und ICEs an den Start gegangen, im Osten Europas blieben sie in der Form, die das ganze 20. Jahrhundert über gegolten hatte: kastenförmige Waggons, aneinandergereiht, von einer schwarzen Lok gezogen. Waggons wie Wohnzimmer auf Rädern, mit Blick in die Landschaft. Vor dem Mauerfall gab es noch ein irgendwie einheitliches Eisenbahn-Europa, durchgehend von Paris bis Moskau, mit Anpassung der Achsen an die in der Sowjetunion gültige Spurbreite an der Grenze in Brest. Die Farbe des Paris-Moskau-Express war tannengrün. Endstation war nicht Berlin-Zoologischer Garten oder Friedrichstraße. Dort gab es auch ein anderes Publikum. Diplomaten, Künstler, Funktionäre, die in jenen Zeiten noch nicht im Flugzeug, sondern in der „weichen“ oder Schlafwagenklasse unterwegs waren. Man konnte dort interessante Gespräche führen. Die gewöhnliche Interzonenverbindung wurde genutzt von gewöhnlichen Leuten, die es gewöhnt waren, sich den ermüdenden Prozeduren und Kontrollen auszusetzen, und die nicht gefährdet waren, wie jene Passagiere, die schon aus Gründen der Sicherheit ihrer Person die PanAm-Maschine von Tempelhof aus nehmen mussten (freilich gab es auch Flüge zum Sondertarif für Studenten, die nach „Westdeutschland“, nach Hause flogen; die Berliner Studenten waren in jenen Zeiten die Vorläufer der späteren Billigflieger). Im Interzonenzug gab es eine bestimmte Atmosphäre: Man musste durch, und man war zusammengehalten durch das Tunnelerlebnis zwischen Helmstedt/Marienborn und Griebnitzsee/Dreilinden. Solche Erfahrungen, die in der Coupé-Öffentlichkeit vorgenommenen Befragungen und Kontrollen stellten ganz ungewollt eine Intimität her, der sich niemand entziehen konnte. Man teilte sich seine Beobachtungen mit: über die Penibilität der Kontrollen, die Schäferhunde, eventuell neue Uniformen usf. Interzonenzüge waren rollende Enzyklopädien, an ihnen ließ sich der Gang der weltgeschichtlichen Ereignisse ablesen. Störungen dort waren meist nicht betriebsbedingt, sondern Folgen diplomatischer Verwicklungen. Auch das Ende der Teilung der Welt ließ sich ablesen, am genauesten am Paris-Moskau-Express: Er wurde in der Mitte der 1980er-Jahre zum Shuttle zwischen Moskau und West-Berlin, intelligent genutzt von den Studenten der Patrice-Lumumba-Universität in Moskau, die als Bürger nichtsozialistischer Staaten Bewegungsfreiheit genossen und regelmäßig auf der Insel West-Berlin anlandeten. So verwandelte sich die Station Bahnhof Zoo für ein paar Jahre zum Umschlagplatz für billige Unterhaltungselektronik und die Kantstraße in einen ost-westlichen Basar. Dies wäre eine geschichtliche Darstellung wert: eine andere Geschichte vom Ende des Ost-West-Konflikts, befördert von intelligenten und intellektuellen Ameisenhändlern, Ingenieuren, Agronomen, Wasserbauspezialisten aus allen Ländern der „Dritten Welt“. Ihnen hat noch niemand Dank abgestattet.

Karlsbad, Prag und östlicheres Gelände. Meinen ersten Eindruck, dass es einen Osten gab, der nicht in München begann, hatte jemand wie ich, der in einem Dorf im Allgäu aufgewachsen ist, von den Flüchtlingen bekommen, die nach dem Krieg auf dem väterlichen Hof einquartiert waren. Drei Familien allein bei uns, im Dorf fast ein Drittel der Bevölkerung Neuzugewanderte von überallher aus den Gebieten des ehemaligen deutschen Ostens, die nun sowjetisch, polnisch oder tschechisch geworden waren. Aber es dauerte noch eine Weile, bis ich die Orte, von denen sie immerzu sprachen - ihre Heimat eben -, selber zu sehen bekam: Eger/Cheb, Znajm/Znojmo in Südmähren, Budweis/Budjejowice in Südböhmen, sogar Breslau, das jetzt Wrocław hieß. In den 1960er-Jahren ging mit einem Schulkameraden die erste größere Fahrt in die Tschechoslowakei. Wiederum das Erlebnis der Grenzüberschreitung bei Schirnding. Der kräftige Rußgeruch an den Bahnhöfen. Fahrten durch Ortschaften vor allem an den Rändern des Landes, die auch knapp 20 Jahre nach dem Krieg noch immer wie leergefegt von Menschen waren. Gehöfte, um deren eingefallene Dächer sich niemand kümmerte, Durchfahrten, von denen der Verputz abfiel, Barockanlagen von Konvikten und Klöstern, in denen sich sowjetische Truppen breitgemacht hatten oder psychiatrische Anstalten eingerichtet worden waren. Das also war der Landstreifen, aus dem eine ganze Bevölkerung - mehr als zwei Millionen - ausgesiedelt, ausgetrieben worden war; das also waren die Orte, deren Bewohner nun nach Bayern versetzt waren. Vor allem die Ortschaften im Grenzgebiet schienen noch immer in einer Nachkriegszeit zu verharren. Eine Stadt wie Eger schien nur belebt von der einen oder anderen Roma-Familie - „Zigeuner“ sagte man damals -, die in die von Deutschen geräumte Stadt umquartiert worden war. Aber dann Prag. Die Stadt mit ihren Gärten, Kirchen, Kuppeln, den alten Brücken, war schwarz wie das alte, verwitterte Gemäuer, ein Abbild der Schwarz-Weiß-Fotografien der Vorkriegszeit, aber sie stieg auf, monumental in ihrer barocken Pracht und konzentrierten Urbanität (ja, der Wenzelsplatz war damals, in jenem vom Krieg und Nachkrieg verwüsteten Europa einer der intensivsten und belebtesten urbanen Plätze Europas). Prag war uralt, aber es war auch auf eine frappierende Weise modern, vom ersten Augenblick an die wahre Metropole Mitteleuropas, ein Zentrum der studierenden Jugend Lateinamerikas, Afrikas, Asiens. Diese Massierung von Jugend und Intelligenz konnte man nicht nur in den Studentenwohnheimen in Strahov sehen, sondern sie schlug sich nieder in der Atmosphäre in den Bierkellern und Kneipen auf der Kleinseite und auf der Vinohradská. Prag war eine merkwürdig internationale Stadt, lange vor dem Einfall der westlichen Touristen. Man konnte diese Dritte-Welt-Internationalität in je spezifischer Ausprägung auch in anderen östlichen Metropolen beobachten: viele Araber in Budapest und Bukarest, viele Chinesen in Moskau und Sofia, Inder, Chinesen, Lateinamerikaner in Prag. In Prag konnte man weg- und untertauchen, im Dschungel aus Antiquariaten, Museen, Kneipen, Kinos und Kabaretts. Für Mahendra, den indischen Ingenieur in Prag, war die Stadt nicht so sehr eine Stadt im Ostblock, sondern stand für Europa. Die über Wissenschaft und Ausbildung vermittelte Internationalität in den Städten des Ostblocks wirkte wie eine leichte Entschädigung für den Kosmopolitismus, der unter den Panzern der Nazis und im Mief des National- und Parteikommunismus zugrunde gegangen war. Aber für die aus dem Westen kommenden jungen Leute war eine Stadt wie Prag ein Signal: Es gibt jenseits Eurer zerbombten und hässlich wieder aufgebauten Betonstädte noch etwas ganz anderes; ein Europa, das fast unversehrt erschien.

Jeans, Plastiktüten, Soft Power. Mitte der 1960er-Jahre, als ich zum ersten Mal eine längere Reise in die Sowjetunion unternahm, erlernten wir schnell die Semantik des Tauschs und den Tauschwert spezifischer Gebrauchsgüter. Einige, die besonders clever und informiert waren, hatten sich auf solche Reisen auch gezielt vorbereitet. Sie führten in ihren Koffern wenigsten zwei oder drei Paar Jeans mit, einige spezialisierten sich auf Kugelschreiber, für Kinder wurde Kaugummi eingepackt. Jeans wurden auf Toiletten im Kauhaus GUM anprobiert oder blind gekauft, auf Campingplätzen, wo Ausländer und Sowjetmenschen miteinander in Kontakt kamen. Jedes dieser Tauschobjekte und jede dieser Prozeduren war ein komplexer interkultureller Vorgang - so würde man das heute vermutlich nennen. Ob es echte Levi’s oder nur Imitate waren, es gab eine Hierarchie - das Amerikanische selbstverständlich an der Spitze. Zigaretten spielten eine wichtige Rolle, und es konnte von großer Bedeutung sein, ob man mit Pall Mall, Camel oder Chesterfield handelte. Überall funktionierte diese Währung, die Jeanswährung, die Zigarettenwährung, die Parfumwährung. Es gab auch eine Bücherwährung, und manche waren damals unterwegs, die transportierten gratis und ohne Aussicht auf Gewinn Bibeln in kyrillischer Schrift. Wohin diese Gegenstände gelangten und wie dieser hochinteressante schwarze Markt aussah - auch das wäre ein Thema für Historiker dieser Formation und dieser Epoche. In den 1950er-Jahren gab es in den östlichen Hauptstädten jene Parallelbewegung zu den westlichen Halbstarken und Rock’n’Roll-Fans, die am Abend die Trottoire der Gorkistraße unsicher machten und mit ihrem Outfit - Haartolle, Lederjacken, Röhrenhosen, schmale Lederstiefel - die Miliz zur Weißglut brachten: die „Stiljagi“, wie sie genannt wurden, als moralische und ideologische Konterrevolution in Zeiten der Ent-stalinisierung. Der Eiserne Vorhang war nie ganz hermetisch. Der Sound von Platten und Bands, das Design und die Farbe von Stoffen und neuen Schnittmodellen - auch Schnittmodelle waren eine Währung für sich -, nicht zuletzt Literatur, Bücher: Sie alle sickerten ein auf Tausenden von Kanälen, in Tausenden von Taschen. Das war kein kompakter Underground, aber eine Art Zeichen- und Signalsystem, das nicht nur Eingeweihte zu lesen verstanden. Walter Benjamin hatte Recht mit seiner Bemerkung über Mode: Wer die Mode zu deuten verstehe, der könne auch über kommende Revolution Auskunft erteilen. Die trivialste und alltäglichste Form, in der sich die andere Welt zu erkennen gab, waren am Ende die Plastiktüten. Auf ihnen wanderten die Farben und Logos der großen weiten Welt durch die Straßen Moskaus und Warschaus, fuhren gratis in den Metrozügen und auf den Rolltreppen mit und fanden ihren Weg hinaus in die letzte Ortschaft an der sowjetisch-chinesischen Grenze. Weltkontakt in geschlossenen Gesellschaften. Ameisenbetrieb unterhalb des Systems der Abschreckung.

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Das Rauschen im Äther: Radio Liberty, Radio Free Europe, Voice of America. Wenn man Freunde in Moskau zuhause aufsuchte, gab es fast immer jenes schwer zu ertragende kratzende Rauschen, das bei nicht genau eingestellten Radiofrequenzen entsteht. Man hatte Mühe, überhaupt verständliche Worte aus diesem Rauschen herauszufischen. Aber es lag nicht am Gerät, das meistens auch nicht gut war, nicht am Sender, sondern an den Störsendern. Es gab Orte, wo man besseren Empfang hatte - auf der Datscha vor den Toren Moskaus vielleicht oder an der Ostsee -, und es gab Orte, an denen gar nichts zu hören war. Man lebte mit diesem Geräusch und mit dem Sendesignal als Erkennungsmelodie, man drehte ganz automatisch den Knopf und fand den Sender, man kannte die Sprecher, ihre Stimme, ihren Akzent, ihr Temperament und ihren Standpunkt. So entwickelten sich Beziehungen über den Äther, Vorlieben und Abneigungen. Aber das wichtigste waren die Nachrichten aus der Ferne über das eigene Land. Man erfuhr aus den Redaktionen in London, Köln, Washington D.C. und München, wann welches Manuskript beschlagnahmt worden war, wer vorgeladen worden war, wer das Land verlassen hatte und wer welchen Job im Exil gefunden hatte. Exilanten sprachen über den Äther zu ihren Landsleuten. Es gab Leute, die hatten längst aufgehört, Zeitungen zu lesen - ihr Informationssystem, vielleicht sogar ihr Weltbild wurde immer mehr durch die Mitteilungen des Radios, den nicht abreißenden Strom der Informationen, Enthüllungen geformt. Die Stimme aus dem Äther lieferte den Stoff für die nächtlichen Gesellschaften in den Moskauer Küchen, man lobte, wie gut ein Redakteur recherchiert hatte, oder ließ kein gutes Haar an ihm, wenn er sich vertan hatte. So existierte eine globale Welt schon in Zeiten, da sie noch geteilt war. Das Geräusch des Radios hatte auch den positiven Nebeneffekt, das Abhören zu erschweren. Aber vielleicht war das nur eine Illusion. Meine eigene Erinnerung an den politischen Ostblock ist übrigens auch mit dem Radio verbunden: Budapest 1956. Beim Mittagessen lief die Kiste mit dem grünen Auge des alten Volksempfängers, und aus ihm waren der Widerhall der Einschüsse und das MG-Geknatter zu hören, das von mutigen Radioreportern direkt vom Lenin körut in Budapest übertragen wurde; auch eine Stimme, die verzweifelt klang, hat sich mir eingeprägt.

Herr Martschuk in seiner Drogerie in Schwabing. Emigranten mit Schlapphut. München war in Nachkriegs-Deutschland das Zentrum der antisowjetischen Emigration; West-Berlin war für sie zu gefährlich, wie man aus Entführungen durch den sowjetischen Geheimdienst wusste. Viele kamen aus den DP-Lagern, von denen es nach dem Krieg in der amerikanischen Zone besonders viele gab. Sie waren hängen geblieben oder hatten sich dorthin gerettet. Ukrainer, Russen, Litauer, Letten, Polen, oft Leute mit gemischten Biographien, die ihre speziellen Gründe hatten, nicht in den Bereich der Sowjetarmee zurückzukehren. In München sammelten sich gewisse Potentiale, die sich wiederum in von den Amerikanern großzügig finanzierten Instituten einfanden. Eines hieß etwa „Institut zur Erforschung der Sowjetunion“ - eine Mischung aus Gelehrsamkeit, Spionage, Dilettantismus (entsprechend fanden sich nach Auflösung des Instituts in den Münchener Antiquariaten sowohl Kostbarkeiten wie allerlei ideologischer Schund). Hier liefen Fäden zusammen, wie sie in einer Welt, die dabei war, sich nach dem großen Krieg neu aufzustellen, eben zusammenliefen: Flüchtlinge, Verfolgte, Widerstandskämpfer, Nazi-Kollaborateure, Spezialisten der Abwehr, Nachrichtenleute, Spione - aus alten Nachrichtendiensten in neue überführt -, Anständige, Gestrandete, Kriegsgewinnler. München war voll davon, eine exotische und kosmopolitische, aber auch miefige Szene, die ihre Darstellung noch nicht gefunden hat. Herr Martschuk hatte eine Drogerie in der Kaiserstraße in München-Schwabing. Ich lernte ihn zum ersten Mal Ende der 1960er-Jahre kennen. Wenn die Ladentür aufging, dann schlug sie eine Glocke an der Decke an, und es erschien ein Mann mit einer 1950er-Jahre-Hornbrille, zog den Vorhang mit dem einen Arm zur Seite, der andere war eine mit schwarzem Leder verkleidete Armprothese; Herr Martschuk hatte im Krieg den Arm verloren. Die Regale der Drogerie waren irgendwie immer leer, und ich fragte mich, wie er von diesen dürftigen Verkäufen überhaupt leben konnte: Waschmittel, Süßigkeiten, Schnürsenkel. Aber das Eigentliche spielte sich nicht in der Drogerie ab, sondern in einem angrenzenden kabuffähnlichen Zimmer, das zum Hof hin lag. Dort gab es ein Sofa, vielleicht schlief Herr Martschuk dort auch, einen Schreibtisch, bis zur Decke reichende Regale, in denen Ordner, Kartons und viele Papiere lagen (Dokumente, Flugblätter, wichtige Mitteilungen, wie ich später herausfand). Herr Martschuk, so setzte er mir zu einem Zeitpunkt auseinander, als endlich ein Vertrauensverhältnis entstanden war, hatte nicht nur der OUN-M angehört, also jener von Andrii Melnyk geführten Fraktion der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung, sondern gab sich auch als der bevollmächtigte Vertreter der ukrainischen Exilregierung in Kanada zu erkennen (viele Jahre später brachte er mich mit Petro Hrihorenko zusammen, dem sowjetischen General, der sich den Dissidenten angeschlossen hatte und ins Exil gegangen war). All die feinen ideologischen Differenzen und Fraktionierungen waren mir anfangs nicht durchschaubar. Offensichtlich war aber jene Atmosphäre der Konspirativität, die die Drogerie und Herrn Martschuk umgab. Er führte ein Doppelleben als Drogist und als Repräsentant einer ukrainischen Exilregierung; daher rührten der nur formelle Geschäftsbetrieb und die distanzierte Höflichkeit gegenüber den Kunden aus der Nachbarschaft, während es in Wahrheit um hochdramatische politische Vorgänge ging, eine gespielte Normalität also, während man sich doch im Untergrund wähnte und offenbar auch nicht ungefährdet war: In den späten 1950er-Jahren hatte ein Killer des KGB den in München lebenden Führer der ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera im Treppenhaus abgeknallt - ich entsinne mich sogar noch der Schlagzeile in den Zeitungen, die den Mord gemeldet hatte. Herr Martschuk erklärte mir auch, dass er und seine Kameraden bei wichtigen Staatsbesuchen unter Hausarrest stünden oder sich immer wieder melden müssten. Es war ein großes Privileg, als er mich einmal mit einem Kreis seiner Kameraden zusammenbrachte - der Anlass war ein Besuch eines Vertreters der Exilregierung - und sie mit ihren Funktionen vorstellte: Minister für Erziehung, Vorsitzender der Jugendorganisation, stellvertretender Außenminister usf. - alle im Hinterzimmer der Schwabinger Drogerie. Der Kalte Krieg hatte seine ganz eigentümlichen, dunklen, skurrilen Schauplätze mit Personal, Gesten und Gepflogenheiten, die es nur in dieser Umgebung geben konnte. München, Pullach, Garmisch-Partenkirchen: Verschiedene schöne und vom Krieg unversehrte Orte sind leider fast vollständig im Schatten der Kalten-Kriegs-Mythen - Oberbaumbrücke in Berlin, „Dritter Mann“ in Wien, Glienicker Brücke in Potsdam für den Agententausch - verschwunden.

Am Englischen Garten: Die Sowjetunion als Gemeinschaftswohnung. Der Titel, den der amerikanische Historiker Yuri Slezkine seinem großartigen Essay „The USSR als communal apartment“ über die Komplexität des Gebildes UdSSR gegeben hat (1994), passt erstaunlich gut auf den Komplex von Gebäuden am Isarkanal am Englischen Garten in München, wo für gut 50 Jahre die Münchener Redaktionen von Radio Liberty und Radio Free Europe untergebracht waren. In den 1980er-Jahren, also in Zeiten, als Solidarność in Polen zu einer Bedrohung für das kommunistische Regime wurde, hatte es dort einen Bombenanschlag gegeben, aber ansonsten war es so ruhig, wie es am Englischen Garten eben ruhig sein konnte. Eine Reihe von einfachen weißgetünchten Blocks, eine 1960er-Jahre-Variation auf die klassische Moderne, umgeben von einer Mauer, mit Schlagbaum, später kamen strenge Sicherheitskontrollen hinzu. Die Büros waren einfach, zweckmäßig, spartanisch eingerichtet, amerikanische Offices mit Metallschränken und beweglichen Regalen, immer glänzend gescheuertem weichem Linoleum auf den Fluren. Vermutlich war es während der 1960er- und 1970er-Jahre der internationalste Ort in München, vielleicht sogar in Deutschland. Eine Vorstellung davon konnte man in der Mittagspause in der Cafeteria bekommen. Alle Sprachen des sowjetischen Blocks waren zu hören, darüber hinaus sicher auch die Sprachen all jener Länder, die von den Sendern im Kampf um ideologische Hegemonie mitbearbeitet wurden. Russisch, Litauisch, Estnisch, Weißrussisch, Ukrainisch, Georgisch, Armenisch, diverse Sprachen und Dialekte Zentralasiens, zahlreiche kaukasische Sprachen. In den Glasvitrinen der Cafeteria leuchteten amerikanische Yellies in allen Farben. Der Service, das Tempo, die Höflichkeit - alles in einer bayerisch-amerikanischen Mischung. Die Gebäude hinter den Mauern am Englischen Garten bargen eine Sowjetunion en miniature, finanziert vom amerikanischen Kongress, ein ganz einzigartiger multiethnischer, multilingualer, multikultureller Komplex mit hervorragenden Spezialisten und Kennern der Materie - personae non gratae im Sowjetblock und gezwungen, sich aus der Ferne ein Bild von der Lage im Land zu machen, in das sie hineinsendeten; oft lebten sie auch in gated communities in den Vororten von München und pflegten dort untereinander, ganz isoliert von der bayerischen Umwelt, ihre Beziehungen. Die Radiostationen hatten vorzügliche Rechercheabteilungen, erstklassige Dokumentationen und begnadete Archivare. Das „Archiv des Samizdat“ und viele andere Sammlungen wurden hier über viele Jahre hinweg zusammengestellt. Die Sammlungen gaben nach 1989 den Kern der neu gegründeten Archive der Open Society Institutes in Budapest und Prag ab. Ähnlich sah es bei der BBC in London und bei Voice of America in Washington D.C. aus. Wir haben inzwischen Studien über die deutsche oder die russische Diaspora in den 1920er- und 1930er-Jahren, mit ihren Zeitungen und Verlagen. Die Geschichte der Radio City - ob in München, London, Washington - wäre ein wichtiger Bestandteil einer Geschichte des Kalten Krieges, die mehr wäre als nur ein Studie über Politik, Raketen und Propaganda.

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Gustav Wetters „Dialektischer Materialismus“ als Vorbereitung auf die Welt des Kommunismus. Jeder Schüler absolvierte seit den späten 1950er-Jahren und gewiss seit dem Mauerbau seinen Berlin-Besuch. Es hatte tatsächlich etwas von Frontstadt-Besuch. Man sah überall noch Ruinen, kriegsverwüstete Gebäude, Straßenzüge, die in Westdeutschland schon längst wieder in Ordnung gebracht worden waren. Die Schulklassen wurden durch ein Besichtigungs- und Informationsprogramm von hoher Intensität geschleust, aber was wirklich blieb, war der Eindruck von einer großen, unförmigen, noch nicht ganz wieder zu sich gekommenen Stadt von einer Ausdehnung und Größe, wie es sie sonst in Deutschland nicht mehr gab. Zum Informationsprogramm gehörten, wenn ich mich recht erinnere, Berichte von Zeitzeugen, von Entführungen durch östliche Geheimdienste, aber auch Ausführungen zur Theorie des Marxismus. Ich verdanke meine erste ernsthafte Bekanntschaft mit dem Marxismus einem zweiwöchigen Seminar, das einer von unserer Abschlussklasse organisierten Reise in die Sowjetunion im Jahre 1966 vorausging. Wir sollten aufgeklärt werden, gründlich, systematisch. Leiter des Seminars war ein Jesuitenpater - Professor Falk SJ - und Grundlage waren die von Gustav Wetter SJ, dem damals besten Kenner der „Sowjetideologie“, verfassten zwei Bände zum Historischen und Dialektischen Materialismus. Das Erstaunliche war damals - an einem bayerischen Internat, das von Benediktinern geleitet wurde und an dem man fakultativ Russisch lernen konnte -, dass es eigentlich nicht um Entlarvung oder Widerlegung des Marxismus ging, sondern darum, ihn entsprechend seinem Selbstverständnis darzustellen und zu verstehen. In diesem Seminar ging es aber auch um Politik, um kollektivierte Landwirtschaft, die Stellung der Künstler und Intellektuellen. Die geteilte Welt des Kalten Krieges kannte Klosterschulen in Bayern, an denen Russisch unterrichtet wurde, das soll heißen: Die Welt ist immer weniger hermetisch und systematisch als in den Köpfen derer, die die Welt nur als System denken können.

Brief an Chruschtschow. Ich erinnere mich nicht genau, ob es vor oder nach dem Besuch von Jewgeni Jewtuschenko in Deutschland war, wo er sensationell - ein junger russischer Dichter im Gestus Majakowskis - auf offener Bühne seine Poeme „Stalins Rückkehr“ und „Babij Jar“ rezitiert hatte. Jedenfalls schrieb ich einen Brief an Nikita Chruschtschow, in dem ich etwas von meinem Interesse für die russische Sprache und Literatur erzählte und ihn fragte, wo man russische Bücher bekommen könne. Es vergingen wohl drei bis vier Monate, und es traf ein dickes Bücherpaket ein, in grobem braunem Packpapier, das es im Westen schon nicht mehr gab, ordentlich verschnürt - ich lernte später, dass so solide verschnürte Pakete nur in sowjetischen Postämtern abgeschickt wurden - mit reichlich Büchern. Der Inhalt des Pakets gab, wie ich heute verstehe, ganz gut die geistige Situation der frühen 1960er-Jahre wieder: Darin fand sich ein dicker Roman des Stalinisten Wsewolod Kotschetow und ein schön aufgemachter Band zum „Tag der Poesie“, dessen künstlerische Gestaltung die Linie des sowjetischen Konstruktivismus der 1920er-Jahre wieder aufnahm. Die 1960er: Jahre, in denen die Luft der Stalin-Ära noch nicht verflogen war, und zugleich ein Versuch, noch einmal anzuknüpfen an den unruhigen Geist der frühen Avantgarde.

Gründgens und Pasternak en profil. Ich weiß nicht, wer die Aufnahme gemacht hat, aber allein dieses eine Bild würde dem Fotografen, der es „geschossen“ hat, einen Platz in der Galerie der großen Künstler sichern. Ich fand es zuerst in der Pasternak-Biographie, die der junge Gerd Ruge geschrieben hatte, der schon in den 1950er-Jahren als Korrespondent nach Moskau gegangen war. Es zeigt den Schauspieler und den Dichter, als sie sich hinter der Bühne des Moskauer Theaters gegenüberstanden, in der Gründgens zusammen mit der Truppe des Hamburger Schauspielhauses gerade den „Faust“ gespielt hatte. Faust in Moskau, das deutsche Drama par excellence in deutscher Sprache, keine zwei Jahrzehnte nach dem furchtbaren Krieg, den die Deutschen nach Russland getragen hatten. Gründgens steht, noch in der Maske des Mephisto, mit dem weiß geschminkten Gesicht mit dem markanten Kinn und der betonten Nase Pasternak gegenüber, dem Studenten der Universität Marburg im Jahre 1912, dem Faustübersetzer mit einem Profil, das an den Schädel eines edlen Rassehengstes erinnert, einem vorgeschobenen Kinn, einem strengen Mund, einer unglaublichen Nase, die in eine eindrucksvolle Stirn übergeht. Man glaubt, Pasternak die Qualen anzusehen, die er nach der Verleihung des Nobelpreises hatte über sich ergehen lassen müssen. Das Bild hält einen Moment der Begegnung von Künstlern fest, an denen das 20. Jahrhundert zwar seine Spuren hinterlassen hat, letztlich aber doch abgeprallt war. Pasternak-Gründgens hinter der Bühne, sich ins Auge blickend, das ist für mich der ganze Ernst und das ganze Glück des Augenblicks, der trotz alledem möglich geworden war - trotz des Krieges, in dem alles verbrannt war, was Russland und Deutschland je verbunden hatte.

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Angehaltene Zeit. Sobald man den Zug an der Friedrichstraße oder am Ostbahnhof - alias Schlesischer Bahnhof, alias Hauptbahnhof - bestiegen hatte, war man in eine andere Zeitzone eingetreten, auch wenn man sich bis zur sowjetischen Grenze in Brest noch in der Mitteleuropäischen Zeit (MEZ) bewegte. Man war herausgefallen aus dem gewöhnlichen und hektischen Getriebe, die Diktatur des Tempos, die etwas mit Mithaltenmüssen und Mithaltenkönnen zu tun hatte, war abgestreift, man war in eine Zone der Entspannung und Entschleunigung eingetreten, die zu romantisieren keinerlei Grund besteht, die aber konstatiert werden muss, weil sonst nur von Einschüchterung, Angst, negativen Zügen also, die Rede ist. Die späteren Jahre, die Endzeit, die Stagnationszeit des Sozialismus, die breschnewistische Verfallszeit empfand man fast physisch als bleierne Zeit, als Schmerz. Aber es gab eben auch die andere, in der die Aufhebung der Diktatur der Zeit als etwas Angenehmes empfunden werden konnte. Es gab Zeit im Überfluss, denn die Freunde, die man aufsuchte, waren immer anzutreffen, immer zuhause. Das Leben spielte sich ohne große Überraschungen, überschaubar und übersichtlich ab, wenn man nicht selbst einen Anlass zur Verwirrung lieferte. Alles war vorgezeichnet, die Nachfrage nach Berufen und Qualifikationen war grenzenlos, auch wenn sie in Wahrheit vielleicht nur eine Fiktion war; doch in der realsozialistischen Ökonomie spielte die Nachfrage ohnehin keine Rolle. Man musste sich keine Sorgen um den künftigen Arbeitsplatz machen. Man heiratete früh, bald kamen die Kinder, vielleicht noch während des Studiums. Eine Atmosphäre der Sicherheit bei allen Begrenzungen und Beschränkungen. Aus dem Westen ankommend wurde man immer mit Aufmerksamkeit bedacht, man hatte etwas zu berichten, weil man von draußen kam, man konnte der Aufmerksamkeit ohne besondere Anstrengungen sicher sein. Und so saß man in den berühmten „Moskauer Küchen“, inmitten gemischter Gesellschaften mit Physikern, die in Wahrheit Historiker waren, und Geographen, die in ihrem zweiten Leben Gedichtbände edierten. Lagerfeuersituation in den beengten Verhältnissen der Moskauer Wohnungen, eine geschützte Welt der Freundschaften und des Vertrauens. Man sieht dies heute, wo das alles der Vergangenheit angehört, viel deutlicher. Jetzt sind die Freunde, die man früher wie selbstverständlich antraf, unterwegs; sie sind auf Konferenzen in Bologna oder Paris, sie müssen Geld verdienen, und sie verdienen genug, um nun selbst in die ganze Welt reisen zu können. Man muss nichts mehr erzählen, sie sehen sich jetzt selber um. Radikaler Bedeutungsverlust des Fremden nach dem Verschwinden der Großen Grenze. Mit der Öffnung kam auch die Etablierung der Herrschaft der Zeit. Die Geschichte schien plötzlich wie losgelassen, die Ereignisse überstürzten sich, manchmal konnte man nicht sagen, was der nächste Tag bringen würde. Aufregende Zeiten, die eine Neuorganisation des ganzen Nervenapparates und des Lebenshorizontes erforderten. Die geschlossene Gesellschaft im östlichen Europa des Kalten Krieges lebte in einer homogenen Zeit; das ist heute, da diese Welt zerfallen ist und sich eine Landschaft der zerklüfteten Zeit herausgebildet hat, erst richtig erkennbar. Eine Geschichte des Kalten Krieges ist ohne jene differente Zeitwahrnehmung, ohne die verschiedenen Zeitregime ganz bodenlos (und man wird hier generell darauf gestoßen, dass eine Geschichtsarbeit, die aufgehört hat, über Zeit an sich nachzudenken, ziemlich flach ist).

Verschwinden im Raum, Freiheit. Der Warschauer Pakt, der Comecon - für die junge Generation bereits bedeutungslose Kürzel aus prähistorischer Zeit - war gewiss ein Zwangszusammenhang, befestigt durch Wachen, Sperren, Mauern, Stacheldraht, von einem Eisernen Vorhang, der weiter im Osten sogar, wie man sagte, in einen Bambus-Vorgang überging. Aber das Imperium war zu groß, um lückenlos beherrscht, durchherrscht und kontrolliert zu werden. Der Ostblock hatte scharfe und unüberschreitbare Grenzen, aber in dem Land mit dem größten Territorium, in der UdSSR, gab es keine Grenzen: Man wechselte aus Russland nach Georgien, oder von Russland nach Usbekistan, von Leningrad nach Tallinn oder Riga - und überschritt keine einzige Grenze. Grenzenlosigkeit innerhalb des geschlossenen Blocks. Das sich vorzustellen, ist für Angehörige der europäischen Kleinstaatenwelt nicht ganz einfach. Der Zwangszusammenhang hatte große weiße Flecken und große schwarze Löcher, in denen man verschwinden und untertauchen konnte, mit Korridoren der Flucht, Räumen, die grenzenlos waren. Und die Leute wussten das auch. Jene, die die Enge wohl am meisten empfanden, die Bürger eines Landes, das eingesperrt war „zwischen Elbe und Oder“, waren auch besonders viel unterwegs, wohin auch immer sie entweichen konnten: in die tourismuserfahrene Tschechoslowakei, an den Plattensee oder die Küsten des Schwarzen Meeres, die Beskiden oder die Hohe Tatra. Ich bin Studenten aus der DDR begegnet an den entferntesten Punkten: auf der Grusinischen Heerstraße im Kaukasus, in den Zügen nach Swerdlowsk und auf den Datschen in der Umgebung von Leningrad. Sie setzten sich ab, zusammen mit den wilden Campern an der Steilküste der Krim, in den Expeditionen von Geologen im Pamirgebirge oder im Altai. Noch ganz spät, als das Imperium bereits bröckelte, fuhr ich mit einer Gruppe von Polen - Männer mittleren Alters - im Zug aus Moskau zurück. Sie kamen nach einer mehrtägigen Fahrt aus Ulan-Bator zurück. Sie hatten dort Halbedelsteine gesammelt, die sie zuhause weiterverkauften (es war die polnische Krisenzeit Anfang der 1980er-Jahre). Wie sich herausstellte, waren sie perfekte Landeskenner und noch viel weiter gereist. In den Jahren zuvor hatten sie ähnliche Fahrten nach Nordkorea und an die Pazifikküste unternommen. Dass man gleichsam vom Radarschirm verschwinden kann, auf dem sonst alle Bewegungen registriert werden, war eine meiner ersten Erfahrungen. Autostopp, wildes Zelten, Schwarzfahren im Zug - die allgegenwärtige Enge und Knappheit an allem ließ gar keine andere Möglichkeit, als sich selbst auf den Weg zu machen. Die Vorstellung, dass nur organisierte und kontrollierte Bewegungen stattgefunden hätten, ist ganz naiv und ahnungslos; sie geht noch im Nachhinein dem Planfetischismus auf den Leim. Natürlich gab es Reisen in den Bahnen des Staatstourismus und der Gewerkschaftsferienheime, aber noch mehr Menschen waren auf eigene Faust unterwegs. Auch in der östlichen Hemisphäre waren die Urlaubswochen eine Zeit out of control, Zeiten des Ausprobierens, Sichgehenlassens, der Libertinage und der Exzesse. Bilder, wie sie Antonioni 1970 in „Zabriskie Point“ produziert hatte - die Orgie in der kalifornischen Wüste -, waren ganz harmlos im Vergleich zu den Szenen am nächtlichen Strand von Sotschi in den 1960er-Jahren.

Zentrales Telegrafenamt. Vor-Handy-Zeit. Es ist schon im alten Westen nicht ganz einfach, sich die Kommunikation in der Zeit vor dem Mobil-Telefon vorzustellen. Um wie viel schwieriger ist der östliche, spezieller: der sowjetische Fall. Um als Student Anfang der 1980er-Jahre ein Auslandsgespräch zu führen, musste man in Moskau den Zentralen Telegrafen in der Gorki-Straße im Zentrum Moskaus aufsuchen. Dort reihte man sich ein in die Schlange der Telefonierwilligen, und das waren in einer so großen Stadt wie Moskau nicht wenige. Wenn man an der Reihe war, meldete man das Gespräch an, füllte ein Formular mit Telefonnummer und Namen des gewünschten Partners aus und ging zurück in die Reihe, bis man aufgerufen wurde. Das konnte zwei bis vier Stunden dauern. Zu bezahlen war vorab, und das Gespräch wurde auch exakt und ohne Vorwarnung nach Ablauf der bezahlten Zeit abgebrochen. Diese Prozedur war anstrengend, nervenraubend, kommunikationsfeindlich. Am besten, man gewöhnte sich für die Zeit eines längeren Moskau-Aufenthalts daran, seine Beziehungen ins Ausland abzubrechen. Selbstverständlich gingen alle Ausländer, die ein Telefon benutzten, davon aus, dass sie abgehört wurden. Steigerungen der Bürokratisierung des grenzüberschreitenden Austausches waren aber durchaus möglich. Ich entsinne mich an die Prozedur beim Verschicken der von mir erworbenen Bücher, wofür eine Abteilung in der Lenin-Bibliothek zuständig war, die von einer überaus sympathischen und kenntnisreichen, gewiss für diesen Job überqualifizierten Bibliographin geleitet wurde. Nicht alle im Lande erworbenen Bücher durften exportiert werden. Bücher, die älter waren als 10 Jahre, bedurften einer Genehmigung, Bücher, die vor 1945 erschienen waren, galten durchweg als antiquarisch kostbar und waren kategorisch von der Ausfuhr ausgeschlossen. Wenn ich mich recht erinnere, war die Liste der zur Ausfuhr bestimmten Bücher in sechsfacher Ausführung abzuliefern. Auszufüllen waren die Rubriken: Autor, Titel, Ort und Jahr des Erscheinens, Verlag, Seitenzahl, Höhe der Auflage, Preis. Und da sich im Laufe eines Jahres vielleicht eine ganze Bibliothek angesammelt hatte, saß man vor dem Gang zum Auslandspostamt tagelang, um diese Liste anzufertigen, von der man nicht wusste, ob sie auch passieren würde. Verpackt wurden die Bücher dann im Auslandspostamt unter den Augen eines dafür zuständigen Beamten. Letztlich war alles erst überstanden, wenn man wieder außer Landes war und die Bücher eingetroffen waren - was auch nicht immer der Fall war.

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Imperium, weite Welt. Es gab nur eine Fluglinie, Aeroflot, aber ihre Maschinen flogen in Welten, die nichts oder nur wenig miteinander zu tun hatten. Von Moskau aus war man in vier Stunden unter den Palmen von Suchumi, atmete den Ölgeruch, der über Baku lag, oder trat in das Dunkel der Kirche von Mzcheta in Georgien. Die Melonen und Pfirsiche kamen aus dem eigenen Land, genauso wie Öl, Gas, Diamanten. Die Destinationen, die die Anzeigetafeln auf den Flughäfen zeigten, oder die Städte, die auf den Fahrplänen eingezeichnet waren, umfassten alle Zonen des eurasischen Kontinents; das Procedere, nach dem alles ablief, war überall identisch: das Gedränge in der Warteschlange, die Währung, die Preise, die abweisende und unfreundliche Behandlung am Schalter. Das Sowjetische hatte sich über noch so differente Landschaften gelegt. Die Raster, nach denen die Städte angelegt waren, waren in zentralen Planungsbüros entworfen worden, und doch war der so homogen scheinende Raum disparat, zerklüftet: sprachlich, ästhetisch, atmosphärisch. In Tallinn gab es eine Schlafstadt, die auf den ersten Blick auch in Moskau oder Nabereshnye Tschelny stehen konnte, aber in Tallinn gab es gotische Kirchen, ein Rathaus und einen Marktplatz, der seit 800 Jahren fast unverändert geblieben war, in Tallinn war man im gotisch-mittelalterlichen Europa. Zwischen Moskau und Tallinn lagen die „Gotik-Grenzen“. In Armenien gab es die sowjetische Moderne, aber auch eine Aussicht auf die Ausgrabungen der Ruinen von Urartu, die mehrere Tausend Jahre zurücklagen und ins Zweistromland verwiesen. So konnte man als Sowjetbürger in einem Staat und doch in ganz verschiedenen Welten leben. Das Land war so groß, dass man selbst die Große Grenze vergessen konnte. Man brauchte keinen Pass, um sich über ganz Eurasien hinweg fortbewegen zu können.

DDR-Buchhandlungen. Westdeutsche Touristen, unterwegs im Ostblock, waren reich, sie hatten ganz unverdient den DM-Vorteil. Sie aßen in Restaurants in Budapest, in die sie sich zuhause in München oder Köln nicht getraut hätten. Die DM machte es möglich, sich in luxuriösen Interieurs niederzulassen, sich von einem Ballett von Kellnern bedienen zu lassen und eine Zigeunermusik-Kapelle zu bestellen. Den meisten war diese Verschiebung der Proportionen, nehme ich an, peinlich. Studenten mit ihrem wenigen Geld versuchten dieses in der Regel in Büchern anzulegen. Bücher waren im ganzen Ostblock weitaus billiger als im Westen, und so endete fast jede Fahrt eines westdeutschen Studenten nach Prag in der Buchhandlung auf dem Graben, in Moskau in der Buchhandlung Drushba auf der Gorki-Straße oder auf dem Kreschtschatik in Kiew. Auch in den Hauptstädten der Republiken waren die DDR-Verlage präsent. Es gab dort die „blauen Bände“ der Marx-Engels-Werke, für die es seit 1968 eine starke Nachfrage gab, die schön gemachten roten Bände mit marxistischen Klassikern wie Plechanow, einige kauften sogar die dreibändige Auswahl aus Lenins Werken. Aber es gab auch anderes, was man in Westdeutschland und West-Berlin nicht oder nur schwer bekommen konnte. Die gesamte Klassik und die Moderne in den Ausgaben der besten DDR-Verlage, Exemplare einer hoch entwickelten Buchkunst, Kunstbände - ich erinnere mich an das großartige Werk Chan-Magomedows zur sowjetischen Architektur der 1920er-Jahre, publiziert im VEB Verlag der Kunst Dresden, oder an Larissa Shadowas Arbeiten zu Malewitsch. Die DDR-Buchhandlungen waren, so meine Erinnerung, immer gut besucht, die Leute deckten sich ein. So gab es einen ununterbrochenen Bücher- und das heißt auch Ideentransfer, einen nie abreißenden Büchertransport und Transfer von Buchkultur. Dazu gehörten auch die Bach-, Schubert- und Mozart-Noten aus der Edition Peters oder von VEB Breitkopf & Härtel Musikverlag, Leipzig - Noten, die im Westen fast unbezahlbar waren. Diese Buchhandlungen hatten noch einen anderen Effekt: Man begriff in Tiflis oder Kiew oder Riga, dass es eine deutsche Kultur gab, der die Teilung der Welt und der Kalte Krieg nichts hatte anhaben können, und dass die querelles allemandes im größeren Zusammenhang eigentlich unerheblich waren.

Orientexpress, Autoput. Der Autoput führte nicht in den Osten, sondern in den Südosten, auf den Balkan, von München über Villach und Klagenfurt, über Lubljana und Belgrad, Skopje nach Thessaloniki oder nach Istanbul. Alle Jahre, wenn die Betriebsferien bei Ford in Köln begannen oder die Schulferien in Baden-Württemberg, setzte sich eine ungeheure Blechlawine in Bewegung. Türken, Jugoslawen, Griechen, eine moderne Völkerwanderung. In den Jahren zuvor war das Hauptmedium dieser Bewegung der Zug, vor allem der Orient-Express, der ganz und gar nichts von der Exotik des legendären Luxus-Zuges an sich hatte. Ermüdetes Volk, mit schweren Koffern, den Ferien in der Heimat entgegensehend, fast ausschließlich Männer, in Anzüge gesteckt, die ihnen nicht ganz zu passen schienen. An jedem großen Bahnhof stiegen Leute zu, und in jedem Waggon bildeten sich Mini-Gesellschaften aus Serben, Kroaten (die aber meistens mit dem D-Zug nach Rijeka fuhren), Bosniern, Mazedoniern, Albanern, Türken, Kurden, Griechen. Man sprang heraus, wenn der Zug hielt, und holte sich frisches Wasser, Obst, etwas zu essen. Später waren auf dem Autoput eher ganze Familien unterwegs, die Autos vollgepackt bis über das Dach. Tausende sind auf dieser Autostraße gestrandet, Hunderte vermutlich bei Unfällen ums Leben gekommen. Eine Via dolorosa. Sie verband den Westen mit dem Balkan und dem Südosten, aber sie führte vor allem durch Länder, durch die man sonst nicht gekommen wäre: Jugoslawien, Bulgarien, auch Rumänien. Jugoslawien war ein anderer Osten, einer, der eigentlich nicht dazugehörte, und in den man einreisen konnte mit einem gewöhnlichen Pass, in den an der Grenze ganz unbürokratisch und schnell ein Visum eingestempelt wurde. In Jugoslawien gab es westliche Autos, Illustrierte an den Zeitungskiosken, modernen Service. Jugoslawien war der Dritte Ort in dem ansonsten in ein Entweder-Oder geteilten Europa. Es ist heute fast vergessen, dass es jenseits von Ost-West diesen Dritten Ort gab, erfahrbar, eine interessante Realität. Die Wiederherstellung des Autoput nach den Jugoslawienkriegen und die Verwandlung des alten Orient-Express in einen Hightech-Express wären nützlicher als viele Debatten um das erweiterte Europa.

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Prag 1968. Gestohlene Lebenszeit. Ich habe den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in der Stadt selbst nicht mehr miterlebt. Mein Visum war zwei Tage vor dem 21. August abgelaufen, und ich musste das Land verlassen. Aber es war schon klar, dass etwas geschehen würde. Die Leute saßen jeden Abend vor dem Fernseher, wo über die Truppenbewegungen bei den Manövern berichtet und westliche Geheimdienstanalysen zitiert wurden. Die Wochen davor waren so etwas wie das vorweggenommene Ende des Kalten Krieges vor seinem wirklichen Ende zwei Jahrzehnte später. Die Perestrojka war ein großes déjà vu. Aber dazwischen lagen 20 Jahre, gestohlene Lebenszeit einer ganzen Generation. Man traute seinen Augen nicht, dass Menschen in aller Offenheit, im Radio, im Fernsehen zu sprechen begannen, sich selbstständig artikulierten und die Formelsprache sprengten. Frische Worte, unerhörte Gedanken, lange Verbotenes, das nun in den Zeitungen zu lesen war, die Rückkehr von Unpersonen in den öffentlichen Raum und ins allgemeine Gedächtnis, es war ein phantastischer, alles belebender Zustand; die Stadt füllte sich mit ausländischen Touristen. Prag war wieder zur Hauptstadt in der Mitte Europas geworden. Ich hatte das Gefühl, dass selbst das Laub der Bäume auf dem Wenzelsplatz wusste, dass etwas Unerhörtes in Gang gekommen war: Es fieberte mit, es vibrierte hörbar. Prag begann wieder zu leuchten. Ich ging in dieser Augustnacht über die tschechoslowakisch-österreichische Grenze auf der Straße von Budweis nach Linz. Es war gegen Mitternacht, kurz vor Ablauf des Visums. Der Grenzsoldat trug meinen Koffer, der schwer war von Büchern. Wir verabschiedeten uns mit Handschlag. Auf der österreichischen Seite war es vollständig dunkel, aber in einem Wirtshaus fand sich noch eine Kammer zum Übernachten.

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