Redaktionsempfehlungen zum Jahreswechsel 2024/25

Liebe Leser:innen,

in unserer Redaktion der »Zeithistorischen Forschungen« gibt es ein breites Spektrum fachlicher und persönlicher Interessen, auch über die geschichtswissenschaftlichen Inhalte hinaus. Zur Advents- und Weihnachtszeit und zum Jahreswechsel möchten wir Sie und Euch gern ein wenig daran teilhaben lassen, welche Bücher, welche Filme, welche Musik etc. die Redaktionsmitglieder im nun bald vergangenen Jahr 2024 besonders beeindruckt haben. Vielleicht ergibt sich daraus noch das eine oder andere Weihnachtsgeschenk… In jedem Fall wünschen wir angenehme Feiertage und einen guten Übergang ins Jahr 2025 – möge es neue Hoffnung, weniger Hass und Zerstörung, mehr Licht bringen!

 

Christine Bartlitz
Jan-Holger Kirsch
Daniel Morat
Christiane Reinecke
Veronika Settele
Annette Vowinckel

 

Christine Bartlitz

Hans Chifflard/Manfred Reinhardt, Wanderschäferei,
Stuttgart 2013.

Als ehemalige Buchhändlerin liegt immer ein Bücherstapel neben meinem Bett. Und egal, wie müde ich bin, wenigstens ein paar Seiten sind abends unverzichtbar – so in den vergangenen Monaten zum Beispiel dieses Buch über die Geschichte der Wanderschäferei, in dem von der urtümlich landwirtschaftlichen Betriebsweise über Jahrhunderte hinweg erzählt wird sowie abenteuerliche Unternehmungen beschrieben werden, um kostbare Schafe auf beschwerlichen Reisen wohlbehalten ans Ziel zu bringen.

 

Franz Fühmann, Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel. Ein Spielbuch in Sachen Sprache, ein Sachbuch der Sprachspiele, ein Sprachbuch voll Spielsachen. Mit Bildern von Egbert Herfurth, Berlin (Ost) 1978, Neuausgabe Rostock 2005 (und öfter).

 

 

 

 

 

 

Bereits der Titel ist toll, und dieses in der DDR entstandene Kinderbuch hat mich vieles gelehrt. Wer kennt schon ein deutsches Wort mit 16 »e«?

(Lösung: Schneeseekleerehfeedrehzehwehteekessel).

 

Ausstellung »Das Leben festhalten.
Fotoalben jüdischer Familien im Schatten des Holocaust«,
Schöneberg Museum, Berlin, 21. Juni 2024 bis 30. März 2025.

 

Die Ausstellung, kuratiert von Robert Mueller-Stahl, erzählt mit sechs Fotoalben jüdischer Berliner Familien von ihrem Leben im nationalsozialistischen Deutschland – und ist für einen Besuch unbedingt zu empfehlen. Dazu gibt es einen kleinen, aber sehr feinen Katalog.

 

Parlament. Fernsehserie, Belgien/Deutschland/Frankreich 2020–2024 (vier Staffeln mit je zehn Folgen).

Kurz vor der Europawahl im Juni 2024 bin ich auf diese Serie aufmerksam geworden – und hängen geblieben. Die Politsatire schildert den Alltag im Europäischen Parlament mit viel Insiderwissen, köstlicher Ironie und schrillem Humor, stellt dabei aber nie die Institution als solche in Frage, sondern ist ein wunderbares Plädoyer für die europäische Idee – mit all ihren Widrigkeiten in der praktischen Umsetzung...

 

 

Jan-Holger Kirsch

Claudia Dathe/Tania Rodionova/Asmus Trautsch (Hg.),
Den Krieg übersetzen. Gedichte aus der Ukraine, Berlin 2024.

Lyrik hat es schwer auf dem (deutschen) Buchmarkt. Dieser schmale, sprachlich und emotional aber ungemein starke Band ist eine editorische und verlegerische Leistung, für die der edition.fotoTAPETA, den fördernden Institutionen, den sechzehn ukrainischen Autor:innen und besonders auch den zehn Übersetzer:innen kaum genug zu danken ist. Die Gedichte umkreisen die Notwendigkeit wie auch die Unmöglichkeit des Schreibens, Sprechens, Schreiens und Schweigens in Zeiten des Krieges. Die Texte von Victoria Amelina (1986–2023) stehen wohl nicht nur wegen der alphabetischen Sortierung zu Beginn. Sie starb mit 37 Jahren infolge eines russischen Raketenangriffes.

 

Caspar Battegay, Leonard Cohens Stimme, Berlin 2024.

Der Wagenbach-Verlag behauptet, dieses Buch sei eine »Ergriffenheitserklärung für Cohen-Fans«. Solche Werbung trifft den Inhalt und den Charakter des Bandes aber nicht wirklich; man muss gar kein »Fan« oder »Verehrer« Leonard Cohens sein, um diese kluge, literatur- und kulturwissenschaftlich fundierte Darstellung mit großem Gewinn zu lesen. Dass man durch die Lektüre zum »Fan« wird, ist allerdings nicht auszuschließen, und in jedem Fall wird man Cohens Musik anders hören, seine Texte anders lesen als zuvor. Die vielen Verbindungen zur biblischen und jüdischen Geschichte sowie weitere intertextuelle Referenzen macht Caspar Battegay deutlich, ohne die Paradoxien und »absoluten Metaphern« des lyrischen Sprechens dabei aufzulösen. Am prominenten Beispiel Cohens (1934–2016) diskutiert er auch, was es heißt, »eine Stimme zu haben« oder zu »finden«, dabei nicht bloß andere nachzuahmen, sondern einen ganz eigenen Weg zu gehen. Der Band ist eine ausgezeichnete Ergänzung zu Matti Friedmans Buch »Wer durch Feuer. Krieg am Jom Kippur und die Wiedergeburt Leonard Cohens«, das mich 2023 bereits sehr beeindruckt hat.

 

Dirk Reinartz, Fotografieren, was ist. Herausgegeben von Jens Bove für die Deutsche Fotothek, Dresden, Sebastian Lux für die Stiftung F.C. Gundlach, Hamburg, Torsten Valk für das LVR-LandesMuseum Bonn, Göttingen 2024.

Leider hatte ich keine Gelegenheit, die Bonner Retrospektive zum Werk des Fotojournalisten Dirk Reinartz (1947–2004) zu besuchen. Der opulente Begleitband, wie immer bei Steidl in allerbester Druckqualität, erlaubt zum Glück Einblicke und Vertiefungen. Reinartz entwickelte eine besondere Form der visuellen Soziologie, überwiegend in Deutschland, aber zum Beispiel auch in den USA der 1970er-Jahre und bei vielen weiteren Auslandsreportagen. Tragisches und Komisches, Skurrilität und Poesie des Alltags liegen in seinen Fotos immer eng beieinander. Die Bildserien, oft für den »stern« oder das »ZEITmagazin« entstanden, erinnern zudem an Hochphasen eines anspruchsvollen, gesellschaftskritischen Magazinjournalismus.

 

Dmitri Shostakovich, The Complete String Quartets.
Quatuor Danel, accentus music 2024.

Fünfzehn Streichquartette schrieb Dmitri Schostakowitsch (1906–1975) zwischen 1938 und 1974; sie spiegeln in ihrer sehr unterschiedlichen Gestaltung seine Lebensphasen wider, seine existentiellen Ängste im Stalinismus und auch danach. Die Kombination aus Schroffheit und Schönheit, aus Dissonanz und Melodik bringt historische Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auf eine Weise zum Ausdruck, wie es eben nur die Musik vermag. Das Quatuor Danel hat seine neue Gesamtaufnahme nicht im Studio eingespielt, sondern im Februar und Mai 2022 live bei Konzerten im Mendelssohn-Saal des Leipziger Gewandhauses, was für die Intensität und Qualität der Aufnahmen aber kein Nachteil ist. Im Juni 2024 hatte ich Gelegenheit, das Quatuor Danel bei den Internationalen Schostakowitsch-Tagen im sächsischen Gohrisch zu hören, dem kleinen Kurort, in dem Schostakowitsch 1960 sein achtes Streichquartett geschrieben hatte.

 

Avishai Cohen (u.a.), Ashes to Gold, ECM 2024.

Eine ganz andere, aber wiederum sehr berührende Form der musikalischen Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart bietet hier der israelische Jazz-Trompeter Avishai Cohen (nicht zu verwechseln mit dem ebenfalls wunderbaren gleichnamigen Jazz-Bassisten). Zusammen mit Yonathan Avishai (Piano), Barak Mori (Kontrabass) und Ziv Ravitz (Schlagzeug) hat er im November 2023 dieses Album in Frankreich aufgenommen, als ein Versuch, sich vom Schock der Ereignisse des 7. Oktobers nicht völlig lähmen zu lassen. Das titelgebende Hauptwerk »Ashes to Gold«, eine fünfteilige Suite, ist inspiriert von der japanischen Kintsugi-Reparaturtechnik, bei der Scherben mit Goldlack so zusammengefügt werden, dass die Bruchlinien sichtbar bleiben.

 

Daniel Morat

Oded Tzur (u.a.), My Prophet, ECM 2024.

Das Album des in New York lebenden israelischen Jazz-Saxophonisten wurde ebenfalls kurz nach dem 7. Oktober 2023 in Frankreich aufgenommen, im selben Studio wie Avishai Cohens Album. Es gibt darin keinen direkten Bezug auf das Hamas-Massaker, aber man meint den Schmerz der Musiker hören zu können. Zum Titel »My Prophet« erklärte Tzur in einem Interview: »Ich erinnere mich daran, dass ich in der Grundschule Unterricht über die Bibel hatte und über die jüdischen Propheten las und feststellte, dass ein Prophet in diesem Zusammenhang meistens zu der Gemeinschaft kommt und sagt: ›Ihr habt eure Wege verloren, ihr kennt die Wahrheit, aber ihr habt sie vergessen.‹ Die Aufgabe des Propheten ist es also, uns wieder nach Hause zu bringen, und nicht, die Zukunft vorherzusagen.« (Süddeutsche Zeitung vom 1. Juli 2024)

 

Sebastian Conrad, Die Königin. Nofretetes globale Karriere,
Berlin 2024.

 

 

Sebastian Conrad schildert in seinem Buch nicht nur die Umstände der Entdeckung der berühmten Nofretete-Büste in Ägypten 1912, ihrer Verbringung nach Berlin 1913 und der Debatten um ihre Rückgabe schon seit den 1920er-Jahren. Er verfolgt auch Nofretetes Karriere in der globalen Populärkultur des 20. und frühen 21. Jahrhunderts, von Josephine Baker bis Beyoncé. Das hat mir an dem Buch besonders gut gefallen.

 

Das leere Grab. Ein Film von Agnes Lisa Wegner & Cece Mlay, Deutschland/Tansania 2024.

 

 

 

In diesem Dokumentarfilm begleiten die Regisseurinnen zwei Familien aus Tansania auf der Suche nach den sterblichen Überresten ihrer Vorfahren in deutschen Museumsdepots. Sie machen dabei die traumatische Gegenwart der deutschen Kolonialvergangenheit in Tansania kenntlich.

 

Christiane Reinecke

J.D. Vance, Hillbilly Elegy. A Memoir of a Family and Culture in Crisis, New York 2016 (und öfter); dt.: Hillbilly-Elegie. Die Geschichte meiner Familie und einer Gesellschaft in der Krise. Aus dem Amerikanischen von Gregor Hens, Berlin 2017/München 2024.

 

Als ich 2016 dieses Buch las, tat ich das noch im Nachdenken über autofiktionale Bücher à la Didier Fassin, Annie Ernaux oder Édouard Louis, die auf je eigene Weise um die Herkunft ihrer Autor:innen aus nicht mehr funktionierenden Arbeitermilieus kreisen. Vanceʼ »Memoir« ließ sich da durchaus einreihen – dachte ich. Doch angesichts der politischen Karriere, die der designierte US-Vizepräsident seitdem gemacht hat, dürfte nun wohl die Zeit für eine Relektüre aus einem anderen Blickwinkel gekommen sein.

 

Zadie Smith, The Fraud. A Novel, London 2023; dt.: Betrug. Roman. Aus dem Englischen von Tanja Handels, Köln 2023.

Zadie Smithʼ erfolgreicher Erstling »White Teeth« (2000) ist einer der schönsten London-Romane, die ich kenne. Kürzlich erschien von ihr »The Fraud« (2023) – in gewisser Weise auch ein London-Roman, aber einer, der im 19. Jahrhundert angesiedelt ist und sich um einen Gerichtsfall dreht, der im viktorianischen England viel Aufmerksamkeit erregte. Das Buch verrät viel über den Umgang der britischen Gesellschaft mit Race und Class.

 

Veronika Settele

Angela Steidele, Aufklärung. Ein Roman, Berlin 2022.

Das Buch spielt in Leipzig im 18. Jahrhundert. Die Protagonistin und fiktive Verfasserin des Buches ist Catharina Dorothea Bach, die älteste Tochter von Johann Sebastian Bach, die 1763 Rückschau hält auf ihr Leipziger Leben, in dem Luise Gottsched als bewunderte Freundin eine große Rolle spielte, aber auch etliche andere Frauen und als Geistesgrößen bekannt gewordene Männer. Heitere Streitgespräche über Kunst, Sprache, Musik, Wissenschaft, Religion oder Meinungsfreiheit lassen die Versprechen der Aufklärung lebendig werden, und zwar als Geschlechtergeschichte. Ich fand den Roman unterhaltsam und historisch lehrreich, weil Steidele, ohne den Text schwer werden zu lassen, geschickt viel Kontextinformation unterbringt – ich habe das Buch richtig gern gelesen.

 

Annette Vowinckel

Ben Caspit, The Netanyahu Years. Translated by Ora Cummings, New York 2017.

 

Im Klappentext dieses 2017 erschienenen Buches heißt es, es sei »a timely and important book« – wichtig ist es immer noch, zeitgemäß nicht mehr.

Wichtig ist es, weil es zeigt, wie der in den USA als zweitältester Sohn eines radikal-revisionistischen Historikers aufgewachsene Benjamin Netanjahu durch die geschickte Nutzung von Talkshows und Netzwerken seinen politischen Aufstieg choreographierte. Unzeitgemäß ist das Buch, weil Caspit seinerzeit davon ausging, dass Netanjahus Karriere ein Ablaufdatum in nicht allzu weiter Ferne habe. Dass der am längsten amtierende Premierminister seines Landes noch Krieg und Krise vom Ausmaß des 7. Oktobers 2023 und der militärischen Konfrontation mit der Hamas in Gaza zu verantworten haben würde, hatte Caspit sicher ebenso wenig eingepreist wie einen Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofes – das ist das Risiko einer Biographie zu Leb- bzw. Amtszeiten.

Ich hatte das Buch seit Jahren im Regal stehen, habe es aber erst 2024 gelesen. Gegen Ende wird es kleinteilig und langatmig. Aber die erste Hälfte bietet wirklich faszinierende Einblicke in das Psychogramm eines Politikers, von dem man geahnt hatte, dass er ein ganz großer Manipulator ist.

Da der Verlag Thomas Dunne Books/St. Martin’s Press, der zur Macmillan Group gehörte, seine Arbeit 2020 eingestellt hat, gibt es keine Verlagsseite zu diesem Buch, und es scheint auch nur noch als Kindle-Version und antiquarisch erhältlich zu sein.