Fluchtlinien

Neue literarische Texte aus Deutschland und Frankreich

  1. Der Eigen-Sinn der Literatur
  2. Unterschiedliche Begriffe und Konzepte für ein Phänomen
  3. Flüchtlingsromane in Deutschland
  4. Flüchtlingsromane in Frankreich
  5. Resümee

Anmerkungen

1. Der Eigen-Sinn der Literatur

Der Begriff »Flucht« beschreibt, wie es im Editorial des vorliegenden Hefts heißt, einen »Handlungszusammenhang in asymmetrischen Machtverhältnissen«, aber auch verschiedene Räume und Orte, die verlassen, durchquert oder als Ziele angesteuert werden. Romane und andere literarische Texte zu diesem Thema können dazu beitragen, dem »Eigen-Sinn« mehr Gewicht zu verleihen, aber auch den Flüchtenden selbst und ihrer Wahrnehmung von Flucht, Vertreibung und Akzeptanz oder Ablehnung eine Stimme zu geben. Was genau ist aber der »Eigen-Sinn« der Literatur? Seit 2015 boomt eine unter dem Schlagwort »Flüchtlingsliteratur« verhandelte Prosa, die die Lebenswege von Flüchtenden und Geflüchteten unterschiedlicher Kulturen in den Blick nimmt. Doch welchen Mehr- und Eigenwert hat die Literatur? Sind die Dokumentationen, die zahlreichen journalistischen und wissenschaftlichen Beiträge nicht ausreichend?

Der bekannte französische Schriftsteller Éric-Emmanuel Schmitt (geb. 1960) hat sich schon vor einigen Jahren zu dieser Frage geäußert. Er zeigte sich unangenehm berührt von der Bilderflut, von Fernseh-Aufnahmen, wie sie jeden Abend über den heimischen Bildschirm defilieren, dem scheinbar dokumentarischen Gestus, den Bildern von mageren, geduckten Gestalten, die massenhaft Flugzeuge oder Schiffe verlassen, um in Europa eine neue Heimat zu suchen. Die Kamera rücke eine Art »sous-humanité« ins Bild, die der Humanität der Europäer unterlegen sei; Menschen, denen man nicht das Wort überlasse, sondern von denen man lediglich den bittenden müden Blick zeige. Ihn gemahnten solche Bilder zugleich an die Propagandafilme der Nationalsozialisten, in denen Massen von Juden so gefilmt wurden, dass sie an Ratten erinnerten. Diese Reflexion nahm Schmitt zum Anlass, sich auf die Stärke der Literatur, genauer des Romans zu besinnen. Während Historiker sich nicht einmischen dürften, Dinge nur so zeigen sollten, wie sie sich tatsächlich abgespielt hätten, komme der Literatur und besonders dem Roman die Aufgabe zu, Stellung zu beziehen, also einen bestimmten Standpunkt, eine Perspektive zu wählen: »Die Medien erzählen die Dinge von außen: die Tatsachen, wie die Gesellschaft sie wahrnimmt, voller Floskeln. Was der Romancier beitragen kann, ist die Perspektive desjenigen, von dem man spricht, des illegalen Einwanderers beispielsweise. Ich kann mir erlauben, was der Historiker oder der Journalist nicht tut: den Standpunkt dessen einnehmen, von dem gesprochen wird, und die Dinge so erzählen, wie er sie empfindet.«[1]

2. Unterschiedliche Begriffe und Konzepte für ein Phänomen

Die Möglichkeit der Fiktion, eigene Welten zu schaffen, neue Räume, die abseits der realen liegen, Figuren zu kreieren, aus deren Perspektive die Welt anders wahrgenommen wird – dies sind spezifische Ausdrucksmittel der Literatur, die ich im Folgenden an einigen ausgewählten Romanen des 21. Jahrhunderts, besonders der Zeit ab 2015, aufzeigen möchte. Im Zentrum stehen dabei Texte, in denen die Figur des Flüchtlings eine zentrale Rolle spielt, d.h. es handelt sich um literarische Versuche, Flüchtende oder Geflüchtete und deren Wahrnehmungen im Modus einer narrativen Fiktion darzustellen. Dabei sollen die Kontexte der Migration und die grundlegend asymmetrischen Machtverhältnisse für die Handlungen wie auch Erfahrungen der Menschen in Bewegung berücksichtigt werden, eingedenk der Problematik, dass der Begriff des Flüchtlings (»réfugié«) ebenso unscharf ist wie die häufig synonym verwendeten anderen Termini (»migrants« etc.).[2] Wie problematisch eine Generalisierung ist, verdeutlichen die Sozialwissenschaftlerinnen Francine Saillant, Marguérite Cognet und Mary Richardson: »Der Flüchtling wird zunächst mit einer Masse der Rechtlosen assoziiert; er verfügt lediglich über seine Identität als Flüchtling. Einmal im Aufnahmeland angekommen, verliert er diese drückende und flüchtige Identität wieder (wenn es ein öffentlicher Flüchtling ist), um in die anonyme Masse der Migranten einzutreten und dann, nach und nach, im Diskurs dieser Bürger zu werden, dieses Individuum, diese Person, die selbst über ihre Art der Zugehörigkeit entscheiden kann, die je nach Milieu, dem sie sich angeschlossen hat, neu definiert wird.«[3] Der Zeithistoriker Olivier Forcade hat auf die Janusköpfigkeit der Bezeichnung »réfugié« aufmerksam gemacht, die sich je nach geopolitischen und zeithistorischen Kontexten anders gestaltet und die im 21. Jahrhundert erneut anders konnotiert werde: »[…] als Opfer ist er [d.h. der Flüchtling] eine positive und ruhmreiche Figur, wie der Vertriebene, der Deportierte, die Exilanten der Welt in den 1970er- bis 1990er-Jahren; als Geflüchteter ist er das schwarze, verdächtige, masochistische Bild einer Geschichte der Ablehnung des Anderen.«[4]

Auffällig ist, dass der deutsche Buchmarkt 2015 und 2016 in wachsendem Maße von Migrationsliteratur bestimmt wurde.[5] Richard Kämmerlings beobachtete im Februar 2016, dass der deutsche Bücherfrühling im Zeichen von Fluchtgeschichten stehe. Der Autor wertete die Publikationen von Schriftstellern wie Abbas Khider (»Ohrfeige«, 2016), Jan Böttcher (»Y«, 2016) und Shida Bazyar (»Nachts ist es leise in Teheran«, 2016) indes nicht als unmittelbare Reaktionen auf die aktuellen Ereignisse, sondern vielmehr als Narrationen über Flucht und Vertreibung, die angesichts der täglichen Bilder von Flüchtlingen nun endlich gehört und gelesen würden.[6]

Dabei soll nicht aus dem Blick geraten, dass der in den zahlreichen Besprechungen verwendete Begriff »Flüchtlingsliteratur« unscharf ist. Der Historiker Claus-Dieter Krohn optiert deshalb für den Begriff »Exilliteratur«, da »Flüchtlingsliteratur« zumindest im deutschen Kontext zu stark an die Fluchtbewegungen infolge des Zweiten Weltkrieges geknüpft sei.[7] Auch in Frankreich wird für den Begriff »littérature d’exil« als eigenes Genre geworben, dem indes noch eine weitere Konnotation zugesprochen wird, nämlich zugleich auch »littérature comme exil« zu sein.[8] Andere Begriffe sind etwa »interkulturelle«, »Gastarbeiter-«, »Migranten-« oder »Migrationsliteratur«, die indes weiter gefasst und weniger auf vor allem politisch oder religiös motivierte Flucht ausgerichtet sind.[9] Wenn man hingegen von aktueller »Flüchtlingsliteratur« spricht, so wird deutlich, dass damit primär die jüngsten Erfahrungen über Flucht gemeint sind, die wir mit den Geflüchteten in Europa ab 2015 verknüpfen sowie mit den bereits angesprochenen Mediendarstellungen – seien es nun TV-Berichte, Presseartikel oder Dokumentarfilme.[10] Im Französischen wird dieser literarische Trend häufig umschrieben, etwa als »la littérature et les réfugiés«,[11] als »représentation littéraire« der »figure du réfugié«.[12] Man könnte in Anlehnung an den Romanisten Ottmar Ette auch von einem Zwischen-Welten- bzw. Zwischen-Kulturen-Schreiben sprechen. Ette machte am Beispiel von Werken wie André Acimans »Out of Egypt. A Memoir« (1994) schon 2005 deutlich, dass in Texten, die von Flucht, von Aufbruch handeln, Räume und Zeiten keine festen Größen mehr sind: »Bereits in Out of Egypt waren hinter den verdoppelten Orten, Plätzen und Räumen die mobilen Dynamiken sichtbar geworden, die feste Strukturen immer wieder aufs Neue in offene, vektorisierte Strukturierungen überführen. Ein mobiles Koordinatensystem wird entworfen, das die Orte aus der Erfahrung, die Räume aus der Bewegung, die Vergangenheit aus dem Erleben und die Gegenwart aus dem Prozeß sich herausbildender Zukunft entstehen und ein mobiles Koordinatennetz sich bilden läßt.«[13]

Konzeptionell ist die Erforschung solcher Literatur eng an Vorstellungen des Hybriden geknüpft, sei es in Form des »cultural hybrid«,[14] eine Aktualisierung des »Fremden« nach Georg Simmel, oder des dritten Raumes, des third space nach Homi K. Bhabha. Bei diesen Konzepten geht es darum, die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Kulturen zu akzentuieren – und auch den Raum, der zwischen den Kulturen entsteht.[15] Ein anderer Zugang ist es, das performative Moment solcher Fremdheitserfahrungen stärker zu konturieren und zu fragen, wie Fluchtbewegungen und die Genese von hybriden Identitäten und Räumen auch Ausdruck finden in einem nomadisierenden Schreiben. Ein solches Schreiben stellt stärker das Fluide, das Moment der Bewegung und Oszillation zwischen Kulturen und unterschiedlichen Räumen heraus; es richtet sich gegen Festschreibungen, indem es alternative Schreibweisen betont, die gängige Oppositionen zugleich kritisch hinterfragen.[16] So argumentiert auch Krohn, dass häufig Erfahrungen der Exterritorialisierung zu Figuren des »Dazwischen« führen, die vergleichbar dem Benjamin’schen Flaneur Erscheinungen instabiler Verhältnisse und des Übergangs in den Blick nehmen.[17] Edward Said thematisiert solche Exterritorialisierungserfahrungen in »Reflections on Exile« (2000), indem er die westliche Moderne als Zeitalter der Flüchtlinge, der »Displaced Persons« und der massenhaft zu beobachtenden Migration charakterisiert. Migration und Raum sind dabei unmittelbar miteinander verknüpft, wie vielfach gezeigt worden ist.[18] Räume als Übergangs- oder Sehnsuchtsorte spielen in vielen der untersuchten Texte eine zentrale Rolle. Sie werden mal affirmativ, mal subversiv inszeniert und stehen häufig in einem Spannungsfeld von Illusionierung und Desillusionierung.

Nach wie vor besonders aktuell ist dabei das Konzept der Heterotopie von Michel Foucault, das einen anderen Raum meint, der gleichzeitig real und imaginiert ist und der sich bei der Überschreitung einstellt: »Es gibt gleichfalls – und das wohl in jeder Kultur, in jeder Zivilisation – wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig präsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb jeder Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können.«[19] In zahlreichen der neueren Romane finden sich solche heterotopisch organisierten Zwischenwelten, die besonders den Erfahrungen Ausdruck verleihen, die mit Flucht und Migration verknüpft sind. Im Folgenden sollen einige der interessantesten Texte, die in besonders signifikanter Weise Erfahrungen von Flucht und Migration inszenieren, kurz vorgestellt werden. Dabei handelt es sich um Texte, die durch ihre Paratexte (Autorname, Titel, aber auch Klappentext oder Peritexte wie Rezensionen, Interviews[20]) verdeutlichen, dass Fluchterfahrungen verhandelt werden, ohne dass dabei besonders unterschieden würde zwischen Texten von Migranten selbst und von anderen Autoren, die im Medium der Fiktion Fluchterfahrungen darstellen.

3. Flüchtlingsromane in Deutschland

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In »Ohrfeige« (2016), einem Roman des aus Bagdad stammenden Abbas Khider, zwingt der Erzähler, der aus dem Irak geflüchtete Karim Mensy, dessen Asylbescheid nach dreieinhalb Jahren Aufenthalt in Deutschland widerrufen worden ist, eine bayerische Beamtin der Ausländerbehörde auf ungewöhnliche Art, ihm endlich zuzuhören. Ein Büro in der Behörde, ein heterotopischer Ort nach Foucault, avanciert zum Schauplatz einer Handlung, welche die Tristesse der Flüchtlingsheime, sprachliche Isolation und eine kafkaesk anmutende Bürokratie ebenso kritisiert wie die vor allem auf Gewinnmaximierung bedachten Schlepperbanden, die eigentlichen Gewinner des Systems. Dass die Beamtin den wenig auf Distinktion und Individualisierung ausgerichteten Namen »Schulz« trägt, deutet bereits die Allgemeingültigkeit der kritischen Bestandsaufnahme an. Durch die Sprache wird eigens betont, dass sich dieses Flüchtlingsdrama an einem dritten oder anderen Ort abspielt; sie oszilliert zwischen dem Realistischen und dem Märchenhaften, dem Konkreten und dem Metaphorischen. Zunächst als Vexierspiel zwischen Tatsächlichem und Möglichem angelegt, wird das Drama dann aber schnell als Traum, als Halluzination des kiffenden Protagonisten entlarvt und festgeschrieben. Dabei ist die Sprache manchmal allzu plakativ, etwa wenn Karim reflektiert, für die Beamtin immer nur eine Nummer gewesen zu sein, ein Aktenzeichen ohne Geschichte: »Nicht mehr wert als die Nummern, die ich ziehen musste, um zu warten.«[21]
 
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Ein Text, der dagegen insbesondere auch die Rolle der medialen Verfasstheit vieler Zwischenorte reflektiert, ist Senthuran Varatharajahs Roman »Vor der Zunahme der Zeichen« (2016), der einen Facebook-Dialog zwischen einem aus Sri Lanka eingewanderten Studenten und einer Kommilitonin mit kosovarischem Hintergrund in Szene setzt.[22] Der Roman changiert zwischen verschiedenen realen und virtuellen Orten und Zeiten. In einem Erinnerungsdiskurs, der die Zeit vor der Flucht für die tamilische Minderheit in Sri Lanka als immer stärker werdende Bedrohung heraufbeschwört, wird zugleich Migrationserfahrung als Generator des Schreibens deutlich, das vor allem ein zwischen den Zeichen nomadisierendes ist. Das Schreiben der eigenen gebrochenen Biographie avanciert damit zum Zufluchtsort, bietet eine Rückzugschance vor einer Mehrheitsgesellschaft, die bereits den angeblich hautfarbenen Buntstift, den sie dem Migranten aushändigt, zum Zeichen der eingeforderten Integration macht, indem sie implizit »Whiteness« zur Norm erhebt, d.h. die weiße Hautfarbe. Richard Kämmerlings spricht in diesem Kontext des Schreibens als Zufluchtsort treffend von der »Ortlosigkeit« oder »Vielortigkeit des Homo migrans«, die damit betont werde.[23]
 
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Dies setzt auch ein kleiner Text der deutschen Kulturwissenschaftlerin und Radiojournalistin Julia Tieke und des syrischen Medienaktivisten Faiz in Szene, der bereits im Paratext davon kündet, dass hier nur kurze Notizen aus dem Dazwischen geboten werden, aus dem Übergangsraum zwischen den Welten, denen die Flüchtigkeit bereits durch das Medium eingeschrieben ist: »Mein Akku ist gleich leer. Ein Chat von der Flucht« (2015). Wiederum steht ein heterotopisch organisierter Raum im Zentrum. So schickt der auf der Flucht vor dem Islamischen Staat durch die Wälder irrende Faiz seine Chat-Nachrichten an Julia, die er in der Türkei bei einem Radioprojekt kennengelernt hat und die versucht, ihm aus der Ferne Hilfe zu leisten. Sie fragt ihn am 3. Oktober 2014: »Salam, Faiz. Wo bist du? Ich hab von unserem Freund Hozan gehört, dass du unterwegs bist.« Erst einen Tag später antwortet er ihr, aus Mazedonien, verzweifelt, dass es ihm nicht gelingt, nach Serbien zu gelangen. Bereits 14 Tage lebe er hier »im Dschungel«, »inmitten von Bäumen«. Sie verspricht Rettung, will mit guten Freunden in Mazedonien telefonieren. Der Text macht dabei den Leser zum Mitreisenden dieser Odyssee, die sich aus den jeweils mit Datum versehenen Chatverläufen zusammensetzt.[24]

»Julia: Es tut mir leid, dass du das alles durchmachen musst. Skopje ist etwa 140 Kilometer weit weg von dort, wo du jetzt laut Facebook bist.
Faiz: Mein Akku ist gleich leer. Vielleicht gehe ich zur Polizei. Um diese furchtbare Reise zu beenden und nach Athen zurückzugehen.
Julia: Oh. Sie würden dich einfach zurück nach Athen schicken?
Faiz: Ja. Nachdem sie uns geschlagen haben.
Julia: Kannst du dein Handy aufladen? Ich kann versuchen, über diese Freunde Geld zu schicken.
Faiz: Neiiiiin! Ich brauche kein Geld.
Julia: Ok.
Faiz: Wir müssen Menschen bleiben. Nur das.«[25]

In dem multimodal angelegten Text, der im Paratext einen erkennbaren autobiographischen Bezug herstellt und somit einen Authentizitätseffekt zeitigt, mischen sich Fotos mit kurzen Nachrichten, die Fluchtlinien einer Reise skizzieren: Eine Hütte im mazedonischen Wald, ein Kleintransporter, eine dörfliche Stromladestation vermitteln einen »effet de réel«, ein besonders eindringliches Bild dieses anderen Raumes, der durch mobile Zeitkonfigurationen ebenso wie durch transkulturelle Dynamiken und vektorielle Bewegungen im Raum charakterisiert ist.[26] Das transitorische Moment wird dabei offenkundig, denn die Flucht setzt ja das Moment der Bewegung voraus – jedes Bleiben ist dabei immer nur ein vorübergehendes, die Bewegungen dagegen sind nicht vorhersehbar und können sich netzartig erweitern. Wie Ette schreibt: »Dieser Aufschub […] weiterer Fluchtbewegungen ist […] nicht mehr und nicht weniger als ein Atemholen in einer diskontinuierlichen Bewegung, deren Vektorizität sich komplex aus einzelnen, nicht einer gemeinsamen Richtung, einer gemeinsamen Sinngebung verpflichteten Bewegungen zurechnen lässt.«[27]

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Ist die dialogische Struktur den beiden letztgenannten Texten gleichsam eingeschrieben, so optiert auch Shida Bazyar in ihrem Roman »Nachts ist es leise in Teheran« (2016) für eine Struktur, welche die Polyperspektivität und Polyvalenz der geschilderten Räume und Zeichen deutlich macht. Der Ausgangspunkt ist eine Kritik an der Sprache. Wie Éric-Emmanuel Schmitt im Interview von 2009 kritisierte die Autorin 2016 auf der Leipziger Buchmesse, dass die Nachrichten über »Flüchtlingsströme« oder »Flüchtlingswellen« Migrationsbewegungen als Naturereignis, als Bedrohung zeigten – ein Narrativ, das verhindere, dass man über die komplizierten Gründe für Flucht nachdenke, über die Geschichte der Flüchtlinge, bevor sie an Europas Stränden ankommen.[28] Dieser einseitigen Festschreibung stellt sie einen Generationenroman gegenüber, der unterschiedliche Fluchterfahrungen und auch die Macht der Bilder thematisiert. So erinnert die Diskussion darüber, welches Bild nach der Flucht des Schahs aufgehängt werden soll, an Ereignisse der deutschen Geschichte, den Umgang mit der Repräsentation von Macht ebenso wie denjenigen mit unterschiedlichen religiösen Kulturen: »Auf dass nie wieder ein Foto eines Einzelnen in den Klassenräumen hängt, sagt Peyman. Auf dass dort bald der Ayatollah, zurück aus dem Exil, hängt, sagt seine Mutter. Auf dass bald Marx und Engels, Che Guevara und Castro, Mao und Lenin in den Räumen hängen, sagen Sohrab und ich in den Pausen, sagen es inzwischen sogar im Lehrerzimmer, sagen es lauter, als wir es jemals durften. Und warten auf den Moment, in dem wir bestimmen werden, wer die leeren Wände füllt.«[29] In Kapiteln, die teils den nach der Machtübernahme Ayatollah Khomeinis aus dem Iran geflüchteten Eltern, teils der bereits in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Kindergeneration sowie als Epilog auch der zweiten Generation der in Deutschland Geborenen eine Stimme verleihen, wird deutlich, wie unterschiedlich Heimat jeweils konstruiert wird. Ist Nahid, die Mutter, immer noch verloren in den Zeichen des Exils, fühlt sie sich wohl in der Vertrautheit der Stadt, die ihr einst Heimat war und die nun bloß noch als Sehnsuchtsort fungiert, so erlebt sich die in Deutschland aufgewachsene Tochter Laleh unsicher in diesem Land, das sie nur aus Erzählungen kennt und dessen Sprache ihr ebenso fremd erscheint wie dessen Kultur. Auch ihr Bruder Morad lebt zwischen den Welten, die ihm gleichermaßen fern und vertraut vorkommen. In einem Epilog wird angedeutet, dass es vielleicht Lalehs Tochter Pastou gelingen könnte, diesen Zwischenzustand, das Zwischen-den-Kulturen versöhnen zu können – durch eine Welt, in der Reisen, nicht Fluchtwege vorherrschen.

4. Flüchtlingsromane in Frankreich

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Paola Piganis Roman »Vénus d’ailleurs« (2015) schildert die Flüchtlingserfahrung zweier Geschwister, Mirko und Simona, Albaner aus dem Kosovo, die nach einem Aufenthalt im Transitland Italien im französischen Lyon eine neue Heimat finden. Während Simona sich schnell einlebt, bleibt Mirkos Wunsch(t)raum die verlassene Heimat, was bereits durch den Paratext angedeutet wird. Venus als Schaumgeborene markiert dabei ein Schönheitsideal, aber auch dessen Destruktion durch Gedichte von Baudelaire oder Rimbaud, und weist schon durch das ihr attribuierte Element auf das Flüchtige, die Destabilisierung der Zeichen hin, die auch im Text selbst immer wieder thematisiert wird.[30]
 
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Shumona Sinha nimmt ihre Erfahrungen als Dolmetscherin für OFPRA (Office Français de Protection des Réfugiés et Apatrides) zum Anlass eines Textes, der eben diese hybride Rolle eigens reflektiert. Ihr Roman »Assommons les pauvres!« (2011) spielt gleich im Titel auf das gleichnamige Gedicht Baudelaires an und betont, wie Europa zum Sehnsuchtsort avanciert für Menschen, die bereit sind, ihre Heimat zu verlassen und zu lügen, um hier Anerkennung zu finden – und dabei doch nur als Flüchtlinge und Bittsteller wahrgenommen werden. Die Zwischenposition der Dolmetscherin wird auch durch die Struktur des Romans verdeutlicht:[31] Die Erzählerin befindet sich an Übergangsorten, im Gefängnis, im Zug, wo man ihr stets aus unterschiedlichen Perspektiven andere Narrative von Vertreibung und Flucht unterbreitet. Es bildet sich ein Labyrinth[32] aus Erinnerungen und Wunschvorstellungen, Realem und Imaginärem, aber auch einer globalen Welt, in der alle Orte längst vermessen und einem Staat zugeordnet worden sind, in dem nurmehr zirkuliert werden kann, aber nicht mehr wirklich gereist, in dem es nur noch Durchgangslager gibt, aber kein Ankommen mehr möglich erscheint.[33] So müssen sich die Flüchtlinge zurechtfinden, »kümmerlich, missgestaltet, auf einem Auge blind, der eine auf dem anderen in den Kellern gestapelt«, um Wurzeln zu schlagen »in einem Land, das sie nicht mögen, aber ersehnen«.[34]
 

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Die labyrinthisch anmutende Bürokratie, die einem Flüchtling durch das Attribut »politisch« überhaupt erst zu seiner Identität verhilft, schildert auch der in Bosnien in eine kroatische Familie hineingeborene Velibor Čolić in »Manuel d’exil. Comment réussir son exil en trente-cinq leçons« (2016). Der Protagonist muss sein Land verlassen, weil er nicht zum Mörder werden möchte, und avanciert mit nur drei Wörtern im Gepäck (»Jean, Paul et Sartre«) zum Asylsuchenden in einer ganzen Reihe anderer Geflüchteter aus unterschiedlichen Kulturen. Aufnahme findet er in einem Transitraum, der zwischen den Welten und Kulturen angesiedelt ist und eine identitäre Verunsicherung zur Folge hat: »Im Spätsommer 1992 trifft sich das ganze Elend der Welt in Rennes. Irak und Bosnien, Somalia und Äthiopien, mehrere Länder des ehemaligen Ostblocks. Dazu ein paar Vagabunden, Männer, die seit langem, vielleicht schon immer, zwischen den verschiedenen Behörden und Grenzen, zwischen der richtigen Welt und der Unterwelt der Bürger zweiter Klasse verlorengegangen sind, ohne Papiere, ohne Gesicht und ohne Hoffnung.«[35] Interessant ist die Vorstellung der unterschiedlichen Räume, die hier evoziert werden: administrative, reale, imaginäre, solche erster und zweiter Klasse. Der Erzähler, der zugleich als Alter Ego des Autors fungiert, wird gezwungen, alles zu vergessen – sein Land, seine Sprache, die Freunde, die Dinge, die Schrecken des Krieges –, und sich eine neue Sprache bewohnbar zu machen, von der ihm zunächst nur Bruchstücke entgegenschlagen: »Du … Essen … ja … mjam, mjam«.[36] Und der, obwohl er in seiner Heimat die höchste Literaturauszeichnung errungen hat, in Frankreich Kurse für Analphabeten besuchen muss. Der Roman spiegelt diesen Prozess, das Ringen um die Sprache und unbekannte Zeichen, in einer gebrochenen Struktur, die sich aus Essay, tagebuchartigen Notizen und Roman-Elementen zusammensetzt. Muriel Steinmetz beschrieb Čolićs Stil treffend folgendermaßen: »Kurze fragmentarische Erzählungen bilden diesen Mosaikroman, dieses zersplitterte Selbstportrait, genährt von einem ausgeprägten Sinn der Tragikomödie, geführt bis zu den Grenzen der Selbstironie.«[37]
 

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Dass auch die französische Metropole Paris mit ihren zahlreichen Flüchtlingen längst zum Transitraum avanciert ist, verdeutlicht »Les échoués« (2015) von Pascal Manoukian (geb. 1949), den laut eigener Aussage seine armenischen Wurzeln immer wieder als Reporter und Fotograf in unterschiedliche Konfliktregionen der Welt führten.[38] Während Gavroche in Victor Hugos Epos »Les Misérables« (1862) im Bauch des Elefanten auf der Place de la Bastille Zuflucht fand, so treffen sich zahlreiche Flüchtlinge unterschiedlicher Herkünfte und Kulturen auf dem Schwarzmarkt des Paris von heute. Manoukian schildert das Schicksal dreier Flüchtlinge, die aus Somalia, Moldawien und Bangladesch 1992 nach Frankreich kommen. Dass sie dort nur ein Übergangslager finden, gleichsam ständig auf der Flucht vor den Autoritäten in einem Land, das ihnen die reguläre Aufnahme verweigert, hebt bereits der Paratext hervor. Die Fotografie auf dem französischen Buchcover zeigt vier Passbilder, die zusammen mit Zahnbürsten, einer ausgedrückten Cremetube und einem Tablettenstreifen notdürftig mit Schnur an einem Baum befestigt sind – Erinnerungsfragmente eines vergangenen Lebens, Zeugen eines Alltags auf der Flucht, einer Suche danach, erneut Wurzeln zu schlagen: »Er hatte lange gebraucht, bis er in diesem für Könige gestalteten Wald ein wenig Chaos entdeckte. Er war einem Hirsch gefolgt, um die richtige Stelle zu finden. Tiere und Illegale haben dieselben Bedürfnisse: Sie mussten versteckt unter Menschen leben, in der Nähe einer Wasserquelle, mit zwei Fluchtwegen.«[39]
 

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Einen prominenten Transitraum schildern Béatrice Huret und Catherine Siguret in »Calais mon amour« (2017), der als Anspielung auf Alain Resnais’ Filmdrama »Hiroshima mon amour« (1959) ebenfalls interkulturelle Begegnungen in Szene setzt, die eng mit Erfahrungen von Krieg und Flucht verknüpft sind. In Calais, dem Ort, an dem Tausende von Flüchtlingen stranden – zwischen England, das die Einreise der Flüchtlinge verweigert, und Frankreich, das sie möglichst schnell wieder loswerden möchte –, begegnen sich zwei Menschen, für die vor allem der universale Liebescode entscheidend ist, wie bereits im Film von Resnais. Die in dem heterotopisch organisierten Zwischenraum spielende Liebe zwischen einer Französin und einem iranischen Flüchtling betont das individuelle Menschenrecht, das zum universalen Prinzip des Handelns avanciert.[40]
 
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Éric-Emmanuel Schmitt verdeutlicht mit seinem Roman »Ulysse from Bagdad« (2008), dass die Figur des Reisenden als Suchender auch der europäischen Kultur eingeschrieben ist. Er inszeniert einen Migranten, der, innerlich zerrissen zwischen zwei Welten, den Odysseus-Mythos zugleich spiegelt und dekonstruiert. Die Begegnung des antiken Helden Odysseus, der nur das Ziel hat, von seinen Irrfahrten wieder heimzukehren, mit den modernen Helden, den Migranten, deren Ziel es ist, zu gehen: Das ist der Dialog, den Schmitt an diesem dritten Ort der Begegnung, dem Roman, schildert. So thematisiert das Buch den modernen Odysseus, der aus dem von Kriegen erschütterten Irak flieht, um in England Schutz zu finden. Das Ziel ist die Flucht – und die Suche nach sich selbst an einem unbekannten, anderen Ort. Dies verbindet ihn mit dem antiken Helden und unterscheidet ihn zugleich, gilt es doch nicht nur heimzukehren, sondern die neue Heimat überhaupt erst zu finden: »Vor drei Millionen Jahren träumte ein Mann, Odysseus, davon, nach einem Krieg nach Hause zurückzukehren. Ich dagegen, ich träume davon, mein Land hinter mir zu lassen, das der Krieg verwüstet hat. Ich bin zwar gereist und auf meiner Reise Tausenden von Hindernissen begegnet, aber ich bin das Gegenteil von Odysseus geworden. Er ist zurückgekehrt, ich kehre meinem Land den Rücken. An mir ist es, zu gehen, an ihm, zurückzukehren. Er kehrte an einen Ort zurück, den er liebte; ich entferne mich von einem Chaos, das ich verabscheue. Er wusste, wo sein Platz war, ich suche danach. Für ihn war alles durch seine Herkunft bestimmt, er musste bloß an seinen angestammten Platz zurückkehren, wo er dann sterben konnte, glücklich und anerkannt. Ich dagegen, ich werde mir außerhalb meiner Heimat ein Haus bauen, im Ausland, woanders. Seine Odyssee, das war eine Reise voller Nostalgie, meine ist ein Abschied, randvoll mit Zukunft.«[41]

Dabei wird deutlich, dass der Protagonist – wie wir alle – je nach historischem Moment und soziokulturellem Kontext viele unterschiedliche Identitäten verkörpert. Das unterstreicht der innere Monolog: »Welcher Saad handelt in mir in dem Moment, als die Amerikaner ankommen? Saad der Iraker, gegen Bush, für Saddam? Saad der Demokrat, für Bush, gegen Saddam? Saad der Muslim, gegen Bush, in der Achse des Bösen und des Kreuzzugs, für Saddam?«[42] Dadurch, so Schmitt, unterscheide sich der moderne Odysseus vom antiken, den mit der Sehnsucht nach Ithaka auch eine bestimmte Identität verbinde: »Dies soll zeigen, dass zwischen der Epoche von Odysseus und heute etwas passiert ist. Dass wir die Kontingenz, die Historizität unserer Identitäten entdeckt haben. Die geographischen, ethnischen, kulturellen Identitäten sind weder stabil genug, noch beständig genug, um ein Lebewesen als anders als die anderen zu definieren.«[43] Die Entscheidung zum Fortgehen bewertet Schmitt wie einen Verrat am Vater, der für ihn als Sinnbild nationaler und kultureller Wurzeln fungiert, während der Sohn vor allem die Freiheit suche.[44] So ist in Schmitts Roman auch eine Neukonzeption Penelopes in Form der Mutter zu beobachten, denn sie ist diejenige, die ihren Sohn dazu ermutigt, aufzubrechen und sein Heimatland zu verlassen.

Der identitätssuchende Saad Saad, dem die innere Zerrissenheit gleichsam bereits durch den Namen eingeschrieben ist – bedeutet der Name doch auf Englisch, der Sprache seines neuen Heimatlandes, »traurig«, auf Arabisch hingegen »Hoffnung« –, ist demnach eine Figur des fremden Anderen, der Alterität in uns allen. So formuliert der Ich-Erzähler an einer Stelle: »Denn das hat jeder schon einmal erlebt, und sei es nur für eine Sekunde im Laufe eines Tages: Dann nämlich, wenn dir bewusst wird, dass dir von Natur aus keine der Identitäten, die dich ausmachen, gehört. Es hätte ebenso gut sein können, dass das, was dich charakterisiert, dir nicht zuteilgeworden wäre. Um Haaresbreite wärst du woanders geboren, hättest eine andere Sprache gelernt, eine andere religiöse Erziehung bekommen und wärst in einer anderen Kultur groß geworden. Man hätte dir eine andere Ideologie beigebracht, du hättest andere Eltern, andere Lehrer, andere Vorbilder gehabt. Zum Schwindligwerden! Und ich, der Flüchtling ohne Aufenthaltsgenehmigung, bin es, der sie alle daran erinnert, und zwar jeden Einzelnen. An die Leere. An den Zufall, der ihrem Dasein zugrunde liegt. Aus diesem Grund hassen sie mich.«[45] Damit betont Schmitt eben auch jene Dynamik, welche die Räume von Exilanten als mobile erfahrbar macht, und das Reservoir an Mythen, das ebenfalls Bewegungen zwischen Figuren und Orten verdichtet sowie zugleich wieder in gegenwärtige Bewegungsmuster übersetzt.[46]

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In »Eux, c’est nous« (2015), einem Buch, das sich ausdrücklich an eine junge Leserschaft richtet und als Initiative von 40 Kinderbuch-Editoren entstanden ist,[47] geht es darum, dass wir alle immer auch Fremde sind – wie der Titel bereits impliziert. In seinem Beitrag »L’instinct, le cœur et la raison« rekurriert Daniel Pennac wie Éric-Emmanuel Schmitt auf die Bilder von Millionen von Flüchtlingen, die den Zuschauer täglich konfrontieren, und fragt, warum uns diese »hordes«,[48] diese Horden oder Massen, Angst machen, wo es doch immer schon Migranten gegeben habe: angefangen zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den verfolgten osteuropäischen Juden, den Russen, die vor der Revolution flüchteten, den Armeniern, die dem Genozid in der Türkei entgehen wollten, den Spaniern, die in den 1930er-Jahren dem Franquismus zu entfliehen versuchten, und den italienischen Einwanderern, die vor dem Faschismus und der wirtschaftlichen Misere flüchteten. Nicht zu vergessen die Chilenen und Argentinier, die in den 1970er-Jahren die südamerikanischen Diktaturen hinter sich lassen wollten, die Vietnamesen oder Chinesen, die als Folge des Vietnam-Krieges in den Westen kamen, oder die Bewohner der Balkanländer, die in den 1990er-Jahren vor dem Bürgerkrieg flohen.[49] Was, so argumentiert Pennac weiter, wenn wir versuchen, nur noch Individuen zu sehen, den einzelnen Menschen, der bloß den Wunsch hat, in Frieden zu leben: »Diese Leute, die ich, du, ihr sein könnten. Wir. Die aber sie sind.«[50] Wie sehr unsere Auffassung vom fremden Anderen immer schon durch die medialisierten Bilder in unseren Köpfen vorgeprägt ist, verdeutlicht eine Fotomontage von Serge Bloch im Paratext des Buches, der ein aus einem herausgerissenen Zeitungsblatt gefaltetes Papierboot zeigt, auf dem mit wenigen Strichen Menschen angedeutet werden: Chiffre der Flüchtlinge, die sich tatsächlich in großen Mengen häufig viel zu kleinen Booten anvertrauen und sich auf die Reise in eine unsichere Zukunft begeben.
 
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Das Schiff kann mit Roland Barthes als Raum zwischen dem Ein- und Ausgeschlossenen gesehen werden, als Raum, den sich Menschen temporär bewohnbar machen, in Bezug zu einem unbestimmten Außen.[51] Barthes verdeutlicht dies im Kontext der Abenteuerromane Jules Vernes, bei denen Reise zugleich Kartographierung und Klassifizierung ist. In den aktuellen Flüchtlingsromanen wird das Schiff dagegen häufig demythifiziert und als prekärer Ort gezeigt. So schildert Laurent Gaudé in »Eldorado« (2006), wie eine junge Mutter zwei Jahre nach ihrer Flucht aus Nordafrika den Retter, einen Kommandanten der italienischen Marine, darum bittet, ihr eine Waffe zu geben, da sie sich an dem Mann rächen möchte, der ihr wie vielen anderen zunächst die Rettung auf seinem Schiff anbot, das sich dann aber als Todesfalle erwies, als die Schlepper sich plötzlich nachts auf dem einzigen Rettungsboot davonstahlen und die im Schiff eingepferchten Menschen ohne Wasser und Nahrung ihrem Schicksal überließen. Zwar hat sie selbst wie durch ein Wunder den Transport überlebt, doch ihr Baby musste sie – wie so viele – den Fluten übergeben, als es leblos an ihrer Brust lag.[52]
 

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Gilbert Sinoué greift in »Un bateau pour l’enfer« (2005) ebenfalls die Metaphorik des Schiffes als Zwischenraum auf, diesmal aber in einer Narration, die zugleich ein Erinnerungsdiskurs ist.[53] So verweist die ebenso abenteuerlich wie unrealistisch anmutende Geschichte über die SS Saint-Louis, die am 13. Mai 1939 aus Hamburg aufbricht, mit 937 vor der nationalsozialistischen Verfolgung fliehenden jüdischen Passagieren an Bord, davon 550 Frauen und Kinder, indirekt auf aktuelle Flüchtlingsschicksale. Obwohl alle mit Visa und gültigen Papieren ausgestattet sind, verweigern zunächst Kuba, dann auch die USA, Kanada und die lateinamerikanischen Staaten die Aufnahme der Passagiere. Das Schiff wird vom Übergangsort zum Fluchtort, schließlich zur Falle, wie auch im Roman von Gaudé.

5. Resümee

Wie die Beispiele gezeigt haben, boomt sowohl in Deutschland als auch in Frankreich spätestens seit 2015 das, was man als Flüchtlingsliteratur bezeichnet. Der Trend resultiert zum einen daraus, dass viele Geflüchtete versucht haben, ihre Erfahrungen im Medium der Schrift zu verarbeiten. Zum anderen suchten zahlreiche Leser/innen in der Literatur Antworten auf die aktuelle Situation, tauchten ein in die Schicksale einzelner, wo die Bilder vieler neben Ratlosigkeit neue Ängste schürten. Kulturinstitutionen proklamierten den neuen Trend der Flüchtlingsliteratur, während Verlage vermehrt Bücher von Autoren mit Migrationserfahrungen publizierten und Rezensenten diese besprachen. Viele der häufig unter dem Terminus subsumierten, sehr unterschiedlichen Texte schildern indes nicht aktuelle Biographien und Schicksale, sondern stellen frühere Geschichten von Flucht ins Zentrum. Dabei finden in der Literatur häufig die Stimmen der Flüchtenden selbst ihren Niederschlag, die im Medium der Fiktion den Prozess der Flucht in den Blick rücken. Viele dieser Texte sind multiperspektivisch organisiert, gehorchen dem Bachtin’schen Konzept der Dialogizität. Auch fluide Identitäten und Mechanismen von Ein- und Ausschluss werden betont. Neben einer Konfrontation neuer Geschichten mit alten Mythen sowie einer Überlagerung verschiedener Zeitschichten und Erinnerungsbruchstücke kommt es dabei auch zur Inszenierung typischer Übergangsorte, Transiträume oder Heterotopien, wie Flüchtlingsunterkünfte, Asylheime oder Auffanglager. Das Schiff ist mit seiner mythisch aufgeladenen symbolischen Kraft ein besonders häufig inszenierter Raum, der zugleich auf die Mobilität der Räume und Zeiten hinweist, wo sich antiker Mythos, Geschichte und aktuelle Politik begegnen. Die französischen und deutschen Texte arbeiten sich dabei auch an den unterschiedlichen Flüchtlingspolitiken des anvisierten Ziellandes ab. Während in deutschen Texten der oft sehr lange bürokratische Aufnahmeprozess ins Zentrum gerückt wird, die Enge in den Asylunterkünften, sind es in den französischen mehr die Versuche, möglichst lange unerkannt zu bleiben, um als französischer Staatsbürger akzeptiert zu werden, oder die Situation in den Übergangslagern und die Stationen der Flucht selbst.

In Gaudés Roman gibt der italienische Marinekommandant der aus Nordafrika mit Hilfe von Schleppern geflüchteten jungen Frau schließlich die Waffe; er reflektiert, was er selbst an ihrer Stelle getan hätte, und ob es einen Schuldigen überhaupt gibt: »Der Kommandant dachte, an ihrer Stelle wäre ihm vor allem daran gelegen gewesen, sich an den Mitgliedern der Besatzung zu rächen. Sie waren es, die das Schiff verlassen hatten. Sie hatten die Männer und Frauen um sie herum dem Tod überlassen. Sie hatten sie angelogen. Sie hatten das Kind getötet, indem sie keine Wasserreserven an Bord ließen. Ja, ohne jeden Zweifel, er hätte versucht, die Mannschaft der Vittoria zu finden und sie für ihre Niedertracht bezahlen zu lassen. Aber das sagte er der Frau nicht, aus Angst, ihr Rachegelüste einzuflüstern, die sie gar nicht hatte. Und vielleicht hatte sie ja recht. Wer war schuldig? Wen sollte man als ersten verantwortlich machen? Den Mann, der die abgebrochene Reise gewollt und organisiert hatte, oder diejenigen, die sich ganz konkret mitten in der Nacht in das Rettungsboot geschlichen hatten und sang- und klanglos verschwunden waren? Wer war als erster zu verurteilen in dieser Kette von Verantwortlichkeiten, in der jeder einzelne am Schicksal der zu einem langsamen Tod verdammten Hungerleider verdient hatte?«[54]

Wie aktuell diese Frage ist, muss hier nicht eigens betont werden. Längst hat sie andere, weltpolitische Dimensionen angenommen. Dass sie je nach Beobachterstandpunkt verschieden beantwortet werden kann, verdeutlichen die unterschiedlichen Erzählungen, die von der Perspektive der Flüchtenden ebenso handeln wie von derjenigen der Schlepper oder der Retter. Die untersuchten Texte führen vor Augen, dass gerade Literatur in der Lage ist, Gegenwelten zur Darstellung zu bringen. Durch ungewöhnliche Perspektiven oder häufige Perspektivwechsel ist es möglich, scheinbar bekannte Szenarien zu hinterfragen und den rein informativen, dokumentarischen Berichten alternative Deutungsmodelle entgegenzusetzen. Dies umfasst sowohl Literatur, die Einwanderer selbst geschrieben haben, als auch literarische Werke der Mehrheitsgesellschaft, die sich die Perspektive des fremden Anderen zu eigen macht, um neue Welten zu entwerfen und gängige Darstellungsmuster zu durchkreuzen.

Auch bereits bekannte Werke können rezeptionsästhetisch gesehen ein zusätzliches Wirkungspotential entfalten, wie der Text von Sinoué deutlich macht. Gerade die »Flüchtlingsliteratur« zeigt jenen »Eigen-Sinn«, der sich dann einstellt, wenn Werke, die von früheren Migrationserfahrungen handeln, im Kontext aktueller geopolitischer Herausforderungen neu gelesen werden.

Anmerkungen:

[1] »Les médias racontent les choses de l’extérieur: les faits perçus par la société, avec la langue de bois habituelle. Ce que peut apporter le romancier, c’est le point de vue de celui dont on parle, du clandestin, par exemple. Je peux me permettre ce que l’historien ou le journaliste ne font pas: épouser le point de vue de celui dont on parle, et raconter les choses telles qu’il les ressent.« Interview d’Éric-Emmanuel Schmitt, l’épaisseur de l’être. Propos recueillis par Thomas Yadan pour Evene.fr, 16.1.2009. Hier und im Folgenden stammen die Übersetzungen der Zitate ins Deutsche von der Autorin (Kirsten von Hagen), soweit nicht anders angegeben.

[2] Zur Figur des Flüchtlings vgl. Francine Saillant/Marguérite Cognet/Mary Richardson, Représentation de l’accueil et de l’Humanitaire dans les sites d’internet des oganisations transnationales, nationales et locales reliées à l’intervention auprés des réfugiés, in: Anthropologica 47 (2005), S. 115-127, hier S. 122, und Aglaia Blioumi, Transkulturelle Metamorphosen. Deutschsprachige Migrationsliteratur am Beispiel Griechenland, Würzburg 2006, S. 23.

[3] »Le réfugié est d’abord associé à la masse de sans droits, ne disposant que de l’identité de réfugié, puis une fois arrivé à la terre d’accueil, il perd à nouveau cette identité pesante et fugitive (s’il est un réfugié public), pour rejoindre une autre masse anonyme de migrants, puis devenir peu à peu, dans le discours, ce citoyen, cet individu, cette personne devant faire des choix quant au sort d’appartenance à redéfinir dans le milieu qu’il a rejoint.« Saillant/Cognet/Richardson, Représentation de l’accueil (Anm. 2), S. 125.

[4] »[…] victime, il est une figure positive et glorieuse, à l’image du déplacé, du déporté, des exilés du monde dans les années 1970–1990; réfugié, il est l’image noire, suspecte, doloriste d’une histoire du rejet de l’autre.« Olivier Forcade, Conclusion, in: ders./Philippe Nivet (Hg.), Les Réfugiés en Europe du XVIe au XXe siècle, Paris 2008, S. 331-340, hier S. 333.

[5] Frank Kaspar, Aktuelle Literatur zu Vertreibung und Immigration, in: Deutschlandfunk Kultur, 26.5.2015.

[6] Richard Kämmerlings, Man sollte uns zwingen, den Flüchtlingen zuzuhören, in: Welt, 8.2.2016.

[7] Claus-Dieter Krohn, Die Herausforderungen der Exilliteraturforschung durch die Akkulturations- und Hybridtheorie, in: Doerte Bischoff/Susanne Komfort-Hein (Hg.), Literatur und Exil. Neue Perspektiven, Berlin 2013, S. 24-46, hier S. 25.

[8]Michel Agier, Préface: La littérature d’exil est dans l’atelier, in: Delphine Leroy/Marie Leroy (Hg.), Histoires d’écrits, histoires d’exils, Tübingen 2014, S. IX-XII, hier S. IX.

[9] Vgl. zur Diskussion der Begriffe: Blioumi, Transkulturelle Metamorphosen (Anm. 2), S. 26.

[10] Vgl. Kämmerlings, Man sollte uns zwingen (Anm. 6).

[11] Vgl. einen Fernsehbericht über die Rolle der Literatur im aktuellen Flüchtlingsdiskurs vor dem Hintergrund der Frankfurter Buchmesse: Sven Waskönig, La littérature et les réfugiés, in: Arte, 16.10.2015.

[12] Vgl. das internationale Kolloquium der Université du Québec à Montréal, »La figure du réfugié: représentations littéraires, artistiques et médiatiques« in Montréal am 12./13.5.2016.

[13] Ottmar Ette, ÜberLebensWissen 2. ZwischenWeltenSchreiben, Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin 2005, S. 11.

[14] Krohn, Die Herausforderungen der Exilliteraturforschung (Anm. 7), S. 38.

[15] Vgl. Blioumi, Transkulturelle Metamorphosen (Anm. 2), S. 25.

[16] Vgl. Kirsten von Hagen, Inszenierte Alterität. Zigeunerfiguren in Literatur, Oper und Film, München 2009.

[17] Krohn, Die Herausforderungen der Exilliteraturforschung (Anm. 7), S. 38.

[18] Vgl. Ette, ÜberLebensWissen (Anm. 13); Amalia Barboza u.a. (Hg.), Räume des Ankommens. Topographische Perspektiven auf Migration und Flucht, Bielefeld 2016; Ivonne Fischer-Krapohl/Viktoria Waltz (Hg.), Raum und Migration. Differenz anerkennen – Vielfalt planen – Potenziale nutzen, Dortmund 2007; Claire Horst, Der weibliche Raum in der Migrationsliteratur, Berlin 2007.

[19] Michel Foucault, Andere Räume [1967], in: Karlheinz Barck/Peter Gente/Heidi Paris (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992, S. 34-46, hier S. 39, und Christoph Keitel/Lars Allolio-Näcke, Erfahrungen der Transdifferenz, in: Lars Allolio-Näcke/Britta Kalscheuer/Arne Manzeschke (Hg.), Differenzen anders denken. Bausteine zu einer Kulturtheorie der Transdifferenz, Frankfurt a.M. 2005, S. 105-117, hier S. 111f.

[20] Der Begriff »Paratext« geht zurück auf den französischen Literaturwissenschaftler Gérard Genette, der in seinem zentralen Werk Seuils (Paris 1987; dt.: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt a.M. 1989) das Konzept der sogenannten Paratexte erläutert, des vermeintlichen »Beiwerks«, das tatsächlich aber nicht nur den Text bereitstellt, sondern auch entscheidend seine Lektüre lenkt.

[21] Abbas Khider, Ohrfeige. Roman, München 2016, S. 12. Khider (geb. 1973) lebt nach der Flucht aus dem Irak und verschiedenen Transit-Stationen seit 2000 in Deutschland, erhielt politisches Asyl und später die deutsche Staatsangehörigkeit. Er schreibt auf Deutsch und wurde für seine Werke vielfach ausgezeichnet.

[22] Senthuran Varatharajah, Vor der Zunahme der Zeichen. Roman, Frankfurt a.M. 2016. Varatharajah (geb. 1984) war in den 1980er-Jahren mit seiner Familie aus Sri Lanka in die Bundesrepublik geflüchtet. Auch er schreibt auf Deutsch und erhielt bereits viele Literaturpreise. »Vor der Zunahme der Zeichen« ist sein Debütroman.

[23] Kämmerlings, Man sollte uns zwingen (Anm. 6).

[24] Faiz/Julia Tieke, Mein Akku ist gleich leer. Ein Chat von der Flucht, Berlin 2015. Faiz (geb. 1988) war aus Syrien zunächst in die Türkei geflüchtet, später nach Deutschland.

[25] Ebd., S. 7f.

[26] Vgl. Ette, ÜberLebensWissen (Anm. 13), S. 15.

[29] Shida Bazyar, Nachts ist es leise in Teheran. Roman, Köln 2016, S. 12. Die Autorin (geb. 1988) ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Für ihren Debütroman erhielt sie mehrere Auszeichnungen.

[30] Paola Pigani, Venus d’ailleurs, Paris 2015. Die Autorin (geb. 1963) stammt aus einer italienischen Emigrantenfamilie.

[31] In die literarische Figur sind Erfahrungen der Autorin eingeflossen. Dass die Figur als ihr Alter ego rezipiert wurde, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Sinha die Stelle als Dolmetscherin für Flüchtlinge bei der französischen Migrationsbehörde verlor, als ihr Roman veröffentlicht wurde.

[32] Das Bild des Labyrinths verwendet auch Marc Weitzmann, Shumona Sinha et la trahison de soi, in: Le Monde, 15.9.2011.

[33] Shumona Sinha, Assommons les pauvres!, Paris 2011; dt.: Erschlagt die Armen! Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Lena Müller, Hamburg 2015, 5. Aufl. 2016. Die Autorin (geb. 1973 in Kalkutta) lebt seit 2001 in Paris. Für dieses Buch, ihren zweiten Roman, erhielt sie in Frankreich und Deutschland mehrere Preise.

[34] »[r]abougris, difformes, borgnes, entassés les uns sur les autres dans les sous-sols«, um Wurzeln zu schlagen »dans une terre qu’ils n’aiment pas mais qu’ils désirent«. Weitzmann, Shumona Sinha (Anm. 32).

[35] »Cette misère du monde qui s’est donné rendez-vous à Rennes en cette fin d’été 1992. L’Irak et la Bosnie, la Somalie et l’Éthiopie, plusieurs pays de l’ex-bloc soviétique, des hommes perdus depuis longtemps, peut-être depuis toujours, entre les diverses administrations et les frontières, entre le vrai monde et ce sous-monde des citoyens de seconde classe, sans papiers, sans visage et sans espoir.« Velibor Čolić, Manuel d’exil. Comment réussir son exil en trente-cinq leçons. Roman, Paris 2016, S. 23; dt.: Die Welt ist ein großer Flipper. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz, Hamburg 2017, S. 19. Der Autor (geb. 1964 in Bosnien) war 1992 nach Frankreich geflüchtet.

[36] »Toi… Manger… oui… Miam, miam.« Čolić, Manuel d’exil (Anm. 35), S. 23; dt.: Die Welt ist ein großer Flipper (Anm. 35), S. 20.

[37] »De brefs récits fragmentaires composent ce roman mosaïque, cet autoportrait en miettes nourri d’un sens aigu de la tragi-comédie menée aux frontières de l’autodérision.« Muriel Steinmetz, Comment être réfugié dans la littérature?, in: L’Humanité, 23.6.2016.

[38] Vgl. den Klappentext der deutschen Übersetzung des Romans.

[39] »Il avait mis du temps avant de trouver un peu de chaos dans cette forêt dessinée pour les rois. C’est en suivant un chevreuil qu’il avait découvert l’endroit. Les animaux et les clandestins ont des besoins communs: vivre cachés au milieu des vivants, à proximité d’une source d’eau et de deux lignes de fuite.« Pascal Manoukian, Les échoués. Roman, Paris 2015, S. 84; dt.: Nachtvögel. Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Dorothee Calvillo, Bremen 2017, S. 101.

[40] Béatrice Huret/Catherine Siguret, Calais mon amour. Témoignage, Paris 2017.

[41] »Il y a trois mille ans, un homme, Ulysse, rêvait de revenir chez lui après une guerre qui l’en avait éloigné. Moi, j’ai rêvé de quitter mon pays dévasté par la guerre. Quoique j’aie voyagé et que j’aie rencontré des milliers d’obstacles pendant ce périple, je suis devenu le contraire d’Ulysse. Il retournait, je vais. À moi l’aller, à lui le retour. Il rejoignait un lieu qu’il aimait; je m’écarte d’un chaos que j’abhorre. Il savait où était sa place, moi je la cherche. Tout était résolu, pour lui, par son origine, il n’avait qu’à régresser, puis mourir, heureux, légitime. Moi je vais édifier ma maison hors de chez moi, à l’étranger, ailleurs. Son odyssée était un circuit nostalgique, la mienne un départ gonflé d’avenir.« Éric-Emmanuel Schmitt, Ulysse from Bagdad. Roman, Paris 2008, S. 272; dt.: Odysseus aus Bagdad. Roman. Aus dem Französischen von Marlene Frucht, Frankfurt a.M. 2015, S. 296f.

[42] »Quel Saad agit en moi au moment où les Américains arrivent? Saad l’irakien [sic], contre Bush, pour Saddam? Saad le démocrate, pour Bush, contre Saddam? Saad le musulman contre Bush, dans l’axe du Mal et de la Croisade, pour Saddam?« Schmitt im Interview mit Thomas Yadan (Anm. 1).

[43] »C’est pour montrer qu’il s’est passé quelque chose entre l’époque d’Ulysse et aujourd’hui. Que l’on a découvert la contingence, l’historicité de nos identités. Les identités géographiques, ethniques, culturelles ne sont pas assez solides, ni assez consistantes pour définir un être comme différent des autres.« Ebd.

[44] Ebd.

[45] »Parce que chaque individu a éprouvé ceci, ne fût-ce qu’une seconde au cours d’une journée: se rendre compte que par nature, ne lui appartient aucune des identités qui le définissent, qu’il aurait pu ne pas être doté de ce qui le caractérise, qu’il s’en est fallut d’un cheveu qu’il naisse ailleurs, apprenne une autre langue, reçoive une éducation religieuse différente, qu’on l’élève dans une autre culture, qu’on l’instruise dans une autre idéologie, avec d’autres parents, d’autres tuteurs, d’autres modèles. Vertige! Moi, le clandestin, je leur rappelle cela. Le vide. Le hasard qui les fonde. A tous. C’est pour ça qu’ils me haïssent.« Schmitt, Ulysse from Bagdad (Anm. 41), S. 231; dt.: Odysseus aus Bagdad (Anm. 41), S. 252f.

[46] Vgl. Ette, ÜberLebensWissen (Anm. 13), S. 11.

[47] Eux, c’est nous, Paris 2015. Der Erlös des Bandes kommt der seit 1939 bestehenden Organisation Cimade zu Gute, die es sich zum Ziel gesetzt hat, vor allem Kriegsflüchtlingen zu helfen. Vgl. Nathalie Riché, Les réfugiés expliqués aux enfants, in: L’Express, 22.11.2015.

[48] Daniel Pennac, L’instinct, le cœur et la raison, in: Eux, c’est nous (Anm. 47), S. 5-13, hier S. 7.

[49] Ebd., S. 13.

[50] Ebd., S. 5: »Ces gens qui pourraient être moi, toi, vous. Nous. Mais qui sont eux.«

[51] Roland Barthes, Nautilus und Trunkenes Schiff [1957], in: ders., Mythen des Alltags, Frankfurt a.M. 1964, S. 39-42.

[52] Laurent Gaudé, Eldorado. Roman, Arles 2006; dt.: Eldorado. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer, München 2008.

[53] Gilbert Sinoué, Un bateau pour l’enfer. Récit, Paris 2005.

[54] »Le commandant pensa qu’à sa place, il aurait eu à cœur, avant tout chose, de se venger des membres de l’équipage. C’étaient eux qui avaient abandonné le navire. Eux qui avaient laissé pour morts des hommes et des femmes au milieu desquels ils avaient vécu. Ils leur avaient menti. C’étaient eux qui avaient tué l’enfant en ne laissant aucune réserve d’eau. Oui, sans aucun doute, il aurait essayé de retrouver l’équipage de Vittoria et il leur aurait fait payer leur saleté. Mais il ne dit rien à la femme, de peur de lui souffler des désirs qu’elle n’avait pas. Et puis peut-être avait-elle raison. Qui était le coupable? À qui s’en prendre en premier? L’homme qui avait voulu et organisé ce voyage avorté ou ceux qui, concrètement, s’étaient glissés en pleine nuit dans le canot de sauvetage, sans faire de bruit? Qui était à châtie en premier dans cette chaîne de responsabilités où chacun avait touché de l’argent sur le destin de pouilleux condamnés à l’agonie?« Gaudé, Eldorado (Anm. 52), S. 35f. (frz. und dt.).

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