1/2015: Offenes Heft

Aufsätze | Articles

Viele Übersichtsdarstellungen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts stützen sich auf das »konsumistische Narrativ«: die These, dass die Arbeitsgesellschaft der ersten durch die Konsumgesellschaft der zweiten Jahrhunderthälfte abgelöst worden sei. Betrachtet man dagegen die im Aufsatz besprochenen jüngeren arbeits- und konsumgeschichtlichen Studien, wird erstens deutlich, dass die Etablierung arbeitsgesellschaftlicher Phänomene im Laufe des 20. Jahrhunderts nur langsam erfolgte. Zweitens gewannen konsumgesellschaftliche Strukturen und Angebote nicht erst seit dem »Wirtschaftswunder« der Zeit nach 1945 an Bedeutung, sondern bereits in der ersten Jahrhunderthälfte. Konsum- und arbeitsgesellschaftliche Aspekte, so die These, etablierten sich im deutschsprachigen Raum nahezu parallel. Erstere ersetzten letztere nicht – vielmehr ergänzten sie sich. Vor diesem Hintergrund wird abschließend nach Ansätzen gefragt, die über das konsumistische Narrativ hinausführen.

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From Work Society to Consumer Society? Critique of a Leitmotif of German-Language Contemporary Historiography

Quite a number of accounts of the history of the twentieth century are based on the ›consumerist narrative‹: They claim that the work society of the first half of the century was replaced by the consumer society of the second half. However, the current scholarship in labour and consumption historiography discussed in this article makes it clear that, on the one hand, aspects of a work society only emerged slowly over the course of the twentieth century. On the other hand, consumerist phenomena became important well before the post-WWII ›economic miracle‹. They therefore complemented work society rather than replacing it. Against this background the author asks, in the final section, how contemporary historiography might overcome the pitfalls of the consumerist narrative.

Communist China and Vietnam looked like the future to many West German feminists in the years after 1968. This article reconstructs a lost history of influence, identification and emulation, tracing some of the ways that Chinese and Vietnamese communism inspired and attracted West German feminists from the late 1960s to the early 1980s. Beginning in a spirit of socialist universalism, West German feminists drew on reports of the experience of East Asian women who they felt lived in the ›liberated zones‹ of post-revolutionary society. Like the French radicals who declared that ›Vietnam is in our factories‹, West German feminists created a global framework for their activism. Looking east, they borrowed or adopted models of consciousness-raising and direct action from China and Vietnam. This article tracks the arc of exchange, from the enthusiasm of the late 1960s and 1970s to the West German feminist disenchantment with both East Asian communism and the global South by the early 1980s.

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Guerilla-Mütter und ferne Ebenbilder. China und Vietnam im Blick westdeutscher Feministinnen 1968–1982

 

Für viele westdeutsche Feministinnen nach 1968 verkörperten China und Vietnam die Zukunft. Der Aufsatz rekonstruiert, wie und warum der chinesische und vietnamesische Kommunismus den westdeutschen Feminismus inspirierte und interessierte; so zeigt sich eine Geschichte der Beeinflussung, Identifizierung und Übertragung. Am Beginn stand die Idee eines sozialistischen Universalismus: Westdeutsche Feministinnen stützten sich dabei auf Erfahrungsberichte ostasiatischer Frauen und nahmen an, diese lebten in »befreiten Zonen« der postrevolutionären Gesellschaft. Ähnlich wie die französischen und italienischen Radikalen, die erklärten, Vietnam sei »in unseren Fabriken«, schufen westdeutsche Feministinnen einen globalen Bezugsrahmen für ihr Denken und Handeln. Aus China und Vietnam übernahmen oder entlehnten sie politische Aktionsformen. Der Aufsatz verfolgt diese Beziehungsgeschichte – vom Enthusiasmus der späten 1960er- und der 1970er-Jahre bis zur Desillusionierung über den ostasiatischen Kommunismus und die Länder des globalen Südens in den frühen 1980er-Jahren.

 

Wann und wie wandelten sich in der DDR-Gesellschaft langfristig politische Einstellungen und Wertorientierungen, wie sie dann 1989 in der Herbstrevolution sichtbar wurden? Anknüpfend an Konrad H. Jarauschs These von der »Umkehr« als fundamentalem Demokratisierungsprozess im geteilten Nachkriegsdeutschland untersucht der Beitrag die Möglichkeiten und Grenzen der Stellvertreterbefragungen, die das westdeutsche Meinungsforschungsunternehmen Infratest im Auftrag der Bundesregierung von 1968 bis 1989 durchgeführt hat. Befragt wurden westdeutsche Besucher der DDR über die Ansichten eines von ihnen definierten Gesprächspartners im ostdeutschen Staat, den sie besucht und mit dem sie ausführlich gesprochen hatten. Dieser Serie zufolge stand eine breite und wachsende »schweigende Mehrheit« der DDR-Einwohner dem System distanziert gegenüber, war aber weder im westlichen noch im östlichen Sinne besonders ideologisch präformiert. Sie maß die DDR vor allem an ihren praktischen Leistungen im Hinblick auf Lebensstandard und Perspektiven. Das Interesse an Politik sank ab Mitte der 1970er-Jahre, stieg dann aber wieder an und orientierte sich zunehmend an westlichen Politikformen.

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In Search of the Silent Majority in the East. The Secret Infratest Proxy Surveys and East German Society, 1968–1989

When and how did long-term political attitudes and value orientations in East German society change, ultimately resulting in the autumn revolution of 1989? Picking up on Konrad H. Jarausch’s argument that divided post-war Germany was subject to a fundamental process of democratisation, the article investigates the potential and limitations of the proxy surveys conducted by the West German polling institute Infratest for the Federal government from 1968 to 1989. For these surveys, Infratest interviewed West German visitors to the GDR about the opinions of one of their friends or relatives in East Germany whom they had visited and with whom they had spoken at length. According to this survey series, a broad and growing silent majority of East Germans had a distanced attitude towards the communist system, albeit without any particular ideological predisposition in either the Western or the Eastern mode. This majority based their judgements of the GDR above all on practical achievements in terms of living standards and life perspectives. The population’s interest in politics declined from the mid-seventies onwards, but rose again in later years and was increasingly oriented towards Western-style politics.

Debatte | Debate

  • Frank Bösch

    Geteilte Geschichte

    Plädoyer für eine deutsch-deutsche Perspektive auf die jüngere Zeitgeschichte

  • Dorothee Wierling

    Über Asymmetrien

    Ein Kommentar zu Frank Bösch

Essays

  • Berna Pekesen

    Vergangenheit als Populärkultur

    Das Osmanenreich im türkischen Fernsehen der Gegenwart

Quellen | Sources

  • Johanna Sänger

    Zwischen allen Stühlen

    Die Sammlung Industrielle Gestaltung als Archiv zur materiellen Kultur der DDR

Besprechungen | Reviews

Neu gelesen

  • Adelheid von Saldern

    Gegen Entmischung und Monotonie der Städte

    Alexander Mitscherlichs »Anstiftung zum Unfrieden«

  • Cornelia Siebeck

    »Einzug ins verheißene Land«

    Richard von Weizsäckers Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985

Neu gehört

  • Boris Belge

    Eine »wahnsinnige Chronik des 20. Jahrhunderts«

    Alfred Schnittkes 1. Symphonie als Schlüsselwerk der sowjetischen Musikgeschichte

Neu gesehen

  • Patricia Vidović

    Subjektive Historiographie

    Die ungarische Filmemacherin Márta Mészáros und ihre »Tagebuch«-Trilogie (1982–1990)

zu Rezensionen bei »H-Soz-Kult/Zeitgeschichte«

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