»Ungeheuer schlaff«

Der Film »Zur Sache, Schätzchen« (1968): Über Leistungsdenken und Gedankenspiele

Anmerkungen

DVD-Cover Zur Sache, Schätzchen

Zur Sache, Schätzchen (Bundesrepublik Deutschland, 1968), 77 Minuten, Regie: May Spils, Drehbuch: Werner Enke, Produktion: Peter Schamoni, Musik: Christian Schultze, Kamera: Klaus König, Darstellende: Werner Enke, Uschi Glas, Henry van Lyck, Inge Marschall, Helmut Brasch.

 

Im Laufe des 20. Jahrhunderts verwandelte sich die arbeitsfreie Zeit in ein Produkt der Leistungsgesellschaft: Der »Kult der Effizienz« dirigiere die Freiheit unserer Freizeit, so 1972 der Zukunftsforscher Horst Opaschowski.[1] Jede Leistung bedürfe der »Abschlaffung«, verkündete ein Jahr später der Philosoph Franz Vonessen auf einer von der Carl Friedrich von Siemens Stiftung organisierten Vortragsreihe zum »Sinn und Unsinn des Leistungsprinzips«; eine Ausnahme bilde nur das »ernste Spiel der Gedanken« zum reinen Selbstzweck. Das allein am Erfolg orientierte Leistungsdenken sei ein »tödlicher Scherz«. Die wahre Leistung bestehe in der Ruhe, erinnerte er an Blaise Pascals berühmtes Diktum, also in der Fähigkeit des Menschen, in seinem Zimmer zu bleiben.[2]

Im Jahr 1968 erhielten Millionen von Kinobesuchern Einblick in ein solches »Zimmer irgendwo in einem Schwabinger Wohnblock«, das ein Bohémien bewohnte, den es nicht interessierte, »draußen rumzurennen«.[3] Die Handlung des Films »Zur Sache, Schätzchen« von May Spils (der eigentlich »Die Gafler« heißen sollte – ein Fantasieausdruck –, dann aber aus kommerziellen Gründen umbenannt wurde) ist rasch erzählt: Ein von Werner Enke dargestellter junger Mann namens Martin beobachtet nachts von seinem Zimmer aus einen Einbruch in ein gegenüberliegendes Elektrofachgeschäft. Sein Freund Henry (Henry van Lyck) nötigt ihn deshalb zu einer ordnungsgemäßen Aussage bei der Polizei. Martin, kein Freund von Autoritäten, foppt die Beamten, verdrückt sich auf höchst verdächtige Weise aus der Wache und ist von da an auf einer immer auch spielerischen Flucht, die ihn an einem schönen Sommertag episodenhaft durch Münchens Straßen, ins Freibad und in den Zoo führt. Anstatt an einer vom Impresario Victor Block (Helmut Brasch) organisierten »Prominentenparty« teilzunehmen, auf der ihn Henry und Anita (Inge Marschall) erwarten – Anita möchte sich gerne mit ihm verloben –, verbringt Martin Abend und Nacht in seinem Zimmer mit der Bürgerstochter Barbara (Uschi Glas), die er im Schwimmbad kennengelernt hat. Nachdem Barbara im Morgengrauen wieder zu ihren Eltern zurückgekehrt ist und während Anita ihm eine Szene macht, dringen die Polizeibeamten in die Wohnung ein. Martin provoziert einen der Polizisten so lange mit einer angeblich ungeladenen Waffe, bis dieser die Nerven verliert und auf Martin schießt.

»Zur Sache, Schätzchen« verweigert jedes existenzialistische Pathos, vielleicht sogar das Pathos der Verweigerung selbst. Martin hat nichts Heroisches an sich und stirbt auch nicht einmal den Heldentod. »Es wird böse enden«, lautet sein berühmt werdender Ausspruch. Aber anders als bei dem sterbenden Jean-Paul Belmondo in Jean-Luc Godards »À bout de souffle« (1960) sind seine sarkastischen letzten Worte nicht an die Zuschauenden, sondern an die Polizisten gerichtet. »Moment, Moment, so schnell noch nicht. Ich muss erst überall noch so’n bisschen rumfummeln. Na, da haben Sie ja nochmal Schwein gehabt.« Es ist nur ein Streifschuss.

Für die bundesdeutsche Kritik war »Zur Sache, Schätzchen« schon deshalb eine Ausnahme unter den Werken des Neuen Deutschen Films, weil dieser Film von einer Frau gedreht wurde und als Komödie unterhalten sollte. Die Münchner Regisseurin May Spils und ihr Lebenspartner Werner Enke gehörten zur »Neuen Münchner Gruppe« um Klaus Lemke, Peter Schamoni, Rudolf Thome und Max Zihlmann. Ihre Arbeiten bezogen sich in der entschlossenen Ablehnung der Konventionen durchaus auf das Oberhausener Manifest von 1962, den programmatischen Aufruf zur Erneuerung der westdeutschen Filmproduktion, der den Beginn des Neuen Deutschen Films markiert, und wichen doch zugleich von dessen puristischer Ernsthaftigkeit ab.[4] Wie May Spils in einer Notiz für den Produzenten Peter Schamoni vermerkte, wollte sie vor allem kein verstaubtes Kino machen.[5] Der in Schwarz-Weiß gedrehte Film war deutlich von der Nouvelle Vague beeinflusst, stand aber auch den Arbeiten von Alexander Kluge, Volker Schlöndorff und Franz-Josef Spieker nahe.[6]

Werner Enke und Henry van Lyck spielen sich selbst, so wie sie sich in einem Schwabing erfunden haben, das in den 1960er-Jahren zum gegenkulturellen Zentrum der Bundesrepublik geworden war. Hauptmerkmal des Films ist der subversive Sprachwitz, der sich einer Sinnhaftigkeit verweigert, aber stets eigenwilligen Sinn herstellt und überraschende Situationen kreiert. Martin pflegt eine von ihm auch so bezeichnete »Pseudophilosophie«, bei der es das Wichtigste sei, dass am Schluss nichts dabei rauskomme. Wenn Martin im Film deutlich macht, dass er selten weiß, was er möchte, aber sehr genau sagen kann, was ihn nicht interessiert, dann gilt dies auch für »Zur Sache, Schätzchen« insgesamt. Das Neue an dem Film lässt sich leichter über das verstehen, was er nicht sein will – nämlich Protest, Welterklärung und Dekonstruktion. »Zur Sache, Schätzchen« macht sich nicht nur über die spießige Nachkriegsgesellschaft lustig, sondern ist zugleich auch eine deutliche Distanzierung von der Popkultur der späten 1960er-Jahre selbst, von Modeboutiquen und Musikbusiness, von der Fassade der »Lachleute und Nettmenschen«, wie es über zehn Jahre später eine geistesverwandte Punkband auf den Punkt brachte.[7] Mit den Worten von May Spils war Schwabing im Jahr 1967 keine Philosophie mehr, »sondern nur noch eine ganz reizvolle Durchgangsstation für junge Leute zwischen 17 und 30 Jahren«.[8] Und wenn Martin mit dem Hinweis, Henry wolle ihr nur die Freude am Leben einsuggerieren, Barbara vor diesem warnt, dann klang damit durchaus auch eine Kritik am Pophedonismus von »Münchens Espresso-Jeunesse« an.[9] Peter W. Jansen sah in dem Film tatsächlich ein ganz anderes, ernsthaftes Freiheitsprinzip: »Heiterkeit ist Freiheit, aber Freiheit heißt auch Bewußtsein, und bewußtes Sein lebt in der Melancholie.«[10] »Zur Sache, Schätzchen« ist eine melancholische Komödie und ein Statement für die individualistische Schwabinger Philosophie. Spils und Enke hielten, trotz der in den 1970er- und 1980er-Jahren entstandenen, nicht immer geglückten Sequels, unbeirrt Abstand zum Kulturbetrieb.

Der Film basiert bei allem Slapstick auf einem Leiden an der Gegenwart, das nicht kulturkritisch sein möchte. Das Politische findet auf der Ebene der Sprache, in Sprachspielen statt – so vor allem, als Martin auf der Polizeiwache stichelnd und spöttelnd den Nationalsozialismus herbeiphantasiert und -assoziiert (»Vorbestraft?« – »Ja, ja« – »Na, weswegen?« – »NS-Vergangenheit«). Der Film ist zitatenreich und, so Jansen, amalgamierend, in diesem Sinne postmodern.[11] Als Martin Gert Fröbe als »Goldfinger« parodiert – »Wir haben es bisher in unserer Epoche auf jedem Gebiet zu Höchstleistungen gebracht. Nur nicht in der Kriminalität« –, verweist er zugleich auf das Hauptthema des Films, das Leben in der Leistungsgesellschaft, und dessen mögliche Subversion durch Gedankenspiele: Martin, unschuldiger Beobachter einer Straftat, erfindet sich spontan und situationistisch als Krimineller, der es nicht lassen kann, mit der Waffe zu spielen.

Die Akteure in »Zur Sache, Schätzchen« haben viel Freizeit, aber deshalb mit Ausnahme von Martin nicht unbedingt Freiheit. Gearbeitet wird auch, aber zumeist sinnlos: Die Polizisten verrichten gedankenlos ihre Pflicht, Anita arbeitet in einer Schwabinger Boutique ohne Kundschaft, und der ominöse Victor Block organisiert den Kulturbetrieb am Telefon und auf Partys. Henry hätte gerne Erfolg ohne Arbeit und Leistung. Martin aber, so verkündet er es sachlich, kann schlicht nicht arbeiten. Barbara, die Tochter aus gutem Hause, will das nicht verstehen und versucht ihn quasi therapeutisch zu betreuen: »Du kannst ein bisschen arbeiten. Bisschen Geld verdienen.« Woraufhin Martin wiederholt: »Nein, ich kann nicht arbeiten.« Er kann es nicht, weil er zu schlaff ist; eigentlich, so fügt er an, bräuchte er Frischzellen. Wobei angemerkt sei, dass Martin, so er denn will, durchaus energievoll Aktivität entwickeln kann. Aber er kann aus ganz grundsätzlichen Erwägungen nicht arbeiten, weil er sich dieser Art der verwertbaren Vitalität, die Jugendlichkeit und Leistungsstärke gleichsetzt, verweigert. Mit der Ablehnung von Arbeit negiert Martin auch alles, was mit dieser in Lebenssinn verwandelten Notwendigkeit verbunden ist: Ehrgeiz, Motivation, Leistungswille und Darstellungsdrang.

Gespiegelt wird die Leistungsdebatte in den ungleichen Freunden Martin und Henry. Letzterer, eher ein Darsteller von Leistungsbereitschaft denn wirklich zur Leistung bereit, stürmt zu Beginn des Films in Martins Wohnung, weckt den am helllichten Tag noch schlafenden Martin und reißt die Vorhänge auf. Martin solle doch endlich aufstehen. »Wozu denn?«, fragt dieser. Er habe »‘nen wichtigen Termin«, tut Henry geschäftig. »Terminhetze, was?«, macht sich Martin lustig, und Henry antwortet indigniert: »Na klar, Terminhetze. Findet bei dir natürlich nicht statt.« Und auch Anita, welche die kleinbürgerliche Popideologie des braven Hedonismus personifiziert, hat nur 20 Minuten Zeit für Martins Geburtstag (dem das nur Recht ist). Dass Martin es gar nicht gerne mag, »wenn sich die Dinge morgens schon so dynamisch entwickeln«, steht in starkem Kontrast zur Beschleunigung und zur Disziplinierung, die Henry und Anita von außen ins Zimmer transportieren.

Henry lebt von Martins Einfällen, die er an den ominösen Block und dessen Agentur »An- und Verkauf sämtlicher Ideen« veräußert. So drängt er Martin, für Block einen Songtext abzuliefern (»Also, jetzt los, ran, arbeiten!« – »Wieso, unheimlich gemütlich im Bett, Henry«). Block wolle nämlich ins ganz große Geschäft einsteigen. »Der zotige Block, wollte doch Kleists Gesammelte Werke umschreiben und neu als Schundromane rausbringen«, fällt Martin ein einziges Mal im Film ein vernichtendes Urteil: »Block, das Faktotum, dann soll er doch das neue Antriebsbuch zur Arbeit endlich auf’n Markt bringen. Den Artikel ›Ich soll siebzig Sachen in der Woche schaffen, wie schaffe ich zwei‹ kann er sofort von mir haben.« An diesem Betrieb nimmt Martin nicht teil; er ist kein Unternehmer seiner selbst, eher boykottiert er seine Kompetenzen. Wenn jede Aktivität und Produktivität auf Verwertbarkeit bezogen ist, dann bleibt für ein geglücktes Leben nur das Nichtstun: »Es ist besser, wenn man nichts tut, als wenn man irgendwas tut, da kommt man viel weiter, das kannst du mir glauben.« Für Martin bedeutet das von Arbeit, Leistung und Wettbewerb unkorrumpierte Leben notwendigerweise den Rückzug in das eigene Zimmer. So kommt bei ihm, als er mit Barbara im Zoo vor dem Affenkäfig steht, durchaus Neid auf die Tiere auf, die den ganzen Tag im Käfig rumsitzen und nachdenken können. Freiheit sei bedrückend, teilt er ihr in tiefem Ernst mit: »Den ganzen Tag überall hingehen zu können, alles tun zu können, was man will, das macht mich ganz krank.« Es habe ihn schon immer interessiert, zu wissen, »zu was man fähig ist, wenn der Raum aufs äußerste begrenzt ist«.

Martins Philosophie repräsentiert eine Möglichkeit des von den Lebensbedingungen erschöpften Selbst ohne Depression.[12] Das kann nur als Abgrenzung zur Erlebnisgesellschaft funktionieren und flirtet mit Eskapismus, wenn Martin, allerdings mit gewisser Unsicherheit, die Phantasie gegenüber den wirklichen Erlebnissen bevorzugt. Vor allem aber bedeutet es, Situationen selbst herzustellen, das eigene Leben zu inszenieren, Bedeutungen und Sinn willkürlich zu verschieben. Zugleich reagiert Martin nur selten auf Ereignisse – er greift nicht ein, als er den Einbruch beobachtet, und er trägt in der Polizeiwache nichts zur Klärung des Verdachts bei, er habe womöglich selbst etwas mit der Straftat zu tun. Zumeist passiver Beobachter der »dynamischen Entwicklungen«, ignoriert er einen Voyeur, als dieser in die Umkleidekabinen im Freibad stiert, und bleibt teilnahmslos, als dort eine Limonadenflasche auf den Steinplatten zerschmettert. Als jedoch Barbara in die Glassplitter tritt, versucht Martin, der sich auf den ersten Blick für sie interessiert, sie noch zu warnen. Seine Aktivität ist situationsbedingt und nicht reflexartig.

Das Nichtstun korrespondiert also mit der Verweigerung von erwarteten Handlungen. Denn der als hochgradig talentiert und kreativ gehandelte Martin könnte wohl ohne Probleme eine Karriere starten. Als Henry ihn endlich genug gedrängt hat, knittelt er mühelos die Reime für den nächsten Schlager. Der Soziologe Hermann Pfütze deutete 1967 Leistungsverweigerung als Protestform einer eigentlich privilegierten Generation, die sich Konkurrenz und Lohngefüge entziehe.[13] Der »Spiegel« fasste vier Jahre später in einer Titelstory zusammen, dass gebrannte Kinder und richtungslose Schwärmer, die Sensibelsten und Hehrsten, Neurotiker und Schelme die einzig noch sinnvolle Tat darin sähen, nicht zu tun, was die Gesellschaft erwarte: »Keine Leistung mehr, kein sogenannter Konsum: Es sieht ja aus, als sei das möglich.«[14]

Die Nichtteilnahme an einer allzu gut funktionierenden, geschichtslosen bundesdeutschen Gesellschaft, die niemals nach dem Sinn ihrer Leistungen fragt, wurde zu einem politischen Programm der Verweigerung, mit dem auch Geschlechterstereotype verändert werden konnten. Der heterosexuelle Martin entzieht sich Erwartungen an Männlichkeit, wenn er die Rolle des Ernährers ablehnt. Er wird sich nicht verloben; stattdessen unterbreitet er Barbara ein Angebot für eine neue Lebensform, die in den 1970er- und 1980er-Jahren wiederum auf neue Weise Modelle der gleichberechtigt seriellen monogamen Beziehungen definieren sollte: »Ich haue gern ab. Du auch?« Diese Freiheit funktioniert als konsequente Individualisierung und Ablehnung von Verantwortung. Was bleibt, ist die Angst vor dem Altwerden, weil es, so Martin, das Einzige sei, dem man sich nicht entziehen könne. Martin führt an der Zimmerwand eine akribische Strichliste, die bis zum 50. Lebensjahr reicht – mehr Zeit gibt er sich nicht.[15]

In den zeitgenössischen Filmkritiken wird Martin zumeist den Gammlern zugerechnet. An einer Stelle des Films wird allerdings explizit ironische Distanz zu diesen Aussteigern der 1960er-Jahre aufgebaut, als Barbara und Martin vom Auto aus eine Meute beobachten, die einen langhaarigen jungen Mann verfolgt. Da werde der schmutzigste Gammler Münchens kostenlos gewaschen, macht Martin sich lustig und verdeutlicht zugleich, dass er von den Spießbürgern und den Gammlern gleichermaßen wenig hält. 1967 hatte der Regisseur Peter Fleischmann in München einen Aufsehen erregenden Dokumentarfilm unter dem Titel »Herbst der Gammler« gedreht.[16] Die von den Medien so bezeichnete Gruppe der »Gammler«, die im Englischen Garten nächtigte, erwies sich dabei als äußerst heterogen; sie umfasste Trebekinder, also Heranwachsende, die aus bedrängten Lebenssituationen ausgerissen waren, ebenso wie selbsternannte und selbstbewusste Beatniks. Im Film werden die »Gammler« von der schaulustigen Bevölkerung Münchens dabei dauernd mit dem Thema der Arbeitsverweigerung konfrontiert. Und manchen der Umstehenden kommt der offen geäußerte Gedanke, dass ein »kleiner Hitler« hier wieder für Ordnung sorgen könne. Die »Gammler« selbst verteidigen sich eher passiv und betonen ihre grundsätzliche Arbeitsfähigkeit und -bereitschaft. Ihr jetziges Leben sei letztlich ein Ausstieg auf Zeit.

Martin gibt ganz andere Antworten auf die Arbeits- und Leistungsdebatte, weil er gegebene Ordnungen und Diskurse nicht anerkennt und sie durch eigene ersetzt. Die Figur des Martin kann sicherlich in eine Reihe mit anderen literarischen Antihelden wie Ilja Iljitsch Oblomow, Holden Caulfield oder den Gestalten aus den frühen Romanen von Eckhard Henscheid gestellt werden, und nicht von ungefähr beziehen sich in Deutschland spätere Leistungsverweigerer, die seit Richard Linklaters gleichnamigem Film aus dem Jahr 1991 »Slacker« genannt werden, auf Werner Enkes »Pseudophilosophie«. Diese steht dabei in Widerspruch zur durchaus ernstgemeinten These, dass es wichtig sei, Spuren zu hinterlassen. Als Barbara einwirft, dass Kinder doch schöne Spuren seien, weiß Martin einmal keine Antwort. Kinder verlangen nach Verantwortung, also nach der Anerkennung von Leistung und Stress, ein Leben im Zimmer oder auf der Flucht wäre mit ihnen kaum möglich. Dass Martin sich mit Barbara am Ende des Sommertags in seine Wohnung zurückzieht, ist eine Entscheidung, die nicht nur der Erfüllung des Begehrens geschuldet ist, sondern sich auch gegen Blocks »Prominentenparty« richtet, auf der sexuelle und geschäftliche Kontakte geknüpft werden. Es ist durchaus als verquerer politischer Akt zu verstehen, dass Martin schließlich die Zerstreuung ablehnt und in Ruhe in seinem Zimmer bleibt. Doch als die Idylle mit Barbara im Morgengrauen beendet ist, dringt die Ordnung wieder ein: Zunächst in Gestalt von Anita, dann repräsentiert durch die beiden etwas trottelhaft gezeichneten Polizisten. Die eigenen Räume als Fluchtort und einzige Möglichkeit nicht verwerteter Kreativität sind immer auch in Gefahr. Gleichwohl stellen sie Ende der 1960er-Jahre eine Option zur Produktion künstlerischer Spuren dar. Nicht von ungefähr fokussiert auch der Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann zur gleichen Zeit seine Lyrik, seine Filme und seinen Roman »Keiner weiß mehr« (1968) auf seine Wohnung in der Kölner Engelbertstraße 65, vierter Stock, die er nur als teilnahmsloser, mitunter pöbelnder Beobachter verlässt.[17]

Blaise Pascal hat in seiner Abhandlung zur Zerstreuung sehr genau herausgearbeitet, warum der Mensch nicht ruhig in seinem Zimmer bleiben kann. Und er kann dies jenseits der Not seines sterblichen Zustands umso weniger, je mehr er in der verallgemeinerten Wettbewerbsgesellschaft gezwungen ist, alle seine Fähigkeiten zu verwerten.[18] Martin hingegen braucht keine Abschlaffung zur Erfüllung des Leistungsdenkens, weil er immer schon »ungeheuer schlaff« in Gedanken ist. Der Sinn des Stresskonzepts stellte sich in den 1970er-Jahren vor allem auch in diesem Zusammenhang her. Werner Enke hat dazu in seiner Rolle als Martin eine bis heute attraktive, wenn auch außerhalb des Schwabings der 1960er-Jahre kaum realisierbare Lebenspraxis angeboten: Man muss nicht nur erfindungsreicher, gedankenspielerischer und sprachwitziger sein als die anderen, sondern seine Kompetenzen auch sogleich wieder dem Markt entziehen.

Anmerkungen:

[1] Horst W. Opaschowski, Freizeit als Zweitberufszeit? Zur Problematik der Freizeit in der modernen Leistungsgesellschaft, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 23 (1972), S. 505-513, hier S. 506.

[2] Franz Vonessen, Die Leistung der Danaiden. Prinzipien und Probleme der sogenannten Leistungsgesellschaft, in: Carl Friedrich von Siemens Stiftung (Hg.), Sinn und Unsinn des Leistungsprinzips. Ein Symposion, München 1974, S. 54-72, hier S. 72, Anm. 16.

[3] Hier und im Folgenden beziehen sich alle Zitate auf das Drehbuch, wiedergegeben in: Reinhold Keiner/Lisa Wawrzyniak, Zur Sache, Schätzchen. Inhaltsanalyse eines »Jungen Deutschen Films«, Kassel 2011. Dieses E-Book stellt neben der von Christian Ganzer gestalteten Website <http://zursacheschaetzchen.de> eine reichhaltige Materialquelle zu diesem modernen Klassiker des deutschen Films dar. Zum kommerziellen Erfolg von »Zur Sache, Schätzchen«: Julia Knight, Women and the New German Cinema, London 1992, S. 8. Der Film ist 2013 in einer digital restaurierten Fassung von Ascot Elite Home Entertainment neu auf den Markt gebracht worden.

[4] Christian-Albrecht Gollub, May Spils and Werner Enke – Beyond Pure Entertainment?, in: Klaus Philipps (Hg.), New German Filmmakers. From Oberhausen through the 1970s, New York 1984, S. 303-319, und Temby Caprio, Women’s Film Culture in the Sixties: Stars and Anti-Stars from Papas Kino to the German New Wave, in: Women in German Yearbook. Feminist Studies in German Literature & Culture 15 (2000), S. 201-225.

[5] May Spils, »Ich mache einen Film« (Produktionsnotiz), URL: <http://sozialgeschichte.deutsches-filminstitut.de/mov/r012c.pdf>.

[6] Peter W. Jansen, Zur Sache, Schätzchen, in: Filmkritik Nr. 2/1968, S. 129f.

[7] S.Y.P.H., Lachleute und Nettmenschen, auf: S.Y.P.H., dito. Pure Freude 04 (1979).

[8] Spils, »Ich mache einen Film« (Anm. 5).

[9] Dieser Ausdruck findet sich in: Striche in Schwabing, in: Spiegel, 15.1.1968, S. 109.

[10] Jansen, Zur Sache, Schätzchen (Anm. 6), S. 130.

[11] Ebd.

[12] Vgl. Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2008.

[13] Hermann Pfütze, Sensible Rebellen – narzißtische Ideale. Jugend in der Krise der Gesellschaft, in: Soziale Welt 18 (1967), S. 190-198, hier S. 190, S. 192.

[15] Ingeborg Villinger, »Stelle sich jemand vor, wir hätten gesiegt.« Das Symbolische der 68er Bewegung und die Folgen, in: Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.), 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998, S. 239-255, hier S. 241, Fn. 11.

[16] Der Film ist der DVD zu Fleischmanns Film »Die Hamburger Krankheit« als Bonusmaterial beigegeben. Zu den »Gammlern« vgl. Tina Gotthardt, Abkehr von der Wohlstandsgesellschaft. Gammler in den 60er Jahren der BRD, Saarbrücken 2007, und Detlef Siegfried, Time is on my Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006, S. 399-428.

[17] Beispielhaft: Rolf Dieter Brinkmann, Wie ich lebe und warum, in: Renate Matthaei (Hg.), Trivialmythen, Frankfurt a.M. 1970, S. 67-74.

[18] Dazu Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsfigur, Frankfurt a.M. 2007.

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