Wider die Logik der Selbstausrottung

Rudolf Bahros Suche nach einer gesellschaftlichen „Alternative“


Anmerkungen

Rudolf Bahro, Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus, Köln/Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1977.

Cover des Buches von Bahro, die AlternativeGleich nach dem Erscheinen im August 1977 erntete das Buch von damaligen Stars der linksintellektuellen Szene wie Herbert Marcuse oder Ernest Mandel allerhöchstes Lob. Marcuse stellte fest, das Werk des bis zum Zeitpunkt seiner Verhaftung durch die Staatsorgane der DDR nur Insidern bekannten Autors Rudolf Bahro sei „der wichtigste Beitrag zur marxistischen Theorie und Praxis, der in den letzten Jahrzehnten erschienen ist“.1 Mandel, der führende Denker der trotzkistischen Vierten Internationale, bezeugte, Bahro sei ein „wirklicher Kommunist“ und „Revolutionär“. Keinen Gefallen an Bahros Werk fanden hingegen jene Theoriearbeiter, die dem „real existierenden Sozialismus“ nahe standen. So erklärte beispielsweise der Marburger Politologe Wolfgang Abendroth, Bahro verliere sich „in gelegentlich zutreffender, aber häufig verzerrter und übersteigerter Kritik der sozialistischen Länder“.2 Ihm hielt der Theologe Helmut Gollwitzer entgegen, Abendroth beschränke sich in seiner Auseinandersetzung mit Bahro auf eine Rechtfertigung des Sowjetsystems und übersehe die Herausforderung der „Alternative“ für die marxistische Theoriebildung: „Die kommunistische Zielsetzung wird hier endlich einmal wieder ernst genommen, wird aus dem Himmel der Ideale heruntergeholt in ‚konkrete Denkbarkeit‘; den schon erreichten Verhältnissen wird die Melodie ihrer Möglichkeiten vorgesungen, und diese wird zum Kriterium der Kritik - zu einem Kriterium, dem keiner sich entziehen kann, dem es um das Ziel des Sozialismus noch ernst ist.“3

Vor dem Hintergrund einer sich verschärfenden Blockkonfrontation rangen in jenen Jahren Intellektuelle um die Frage, wie den Destruktivkräften der Moderne entgegengetreten werden könne, deren Wirken in neokolonialen Kriegen, der fortdauernden Ausbeutung der „Dritten Welt“ und der schleichenden Gefährdung der Lebensgrundlagen wahrgenommen wurde. Gollwitzer hatte in seinem Aufsatz auf eine Parole von Rosa Luxemburg rekurriert: „Sozialismus oder Barbarei“. Die Sympathisanten des „real existierenden Sozialismus“ glaubten, wer der - für sie ausschließlich im System des Kapitalismus steckenden - Barbarei Einhalt gebieten wolle, müsse wohl oder übel die Sowjetunion und deren Bündnispartner verteidigen. Bahro zeigte in seinem Buch nun auf überzeugende Weise, welche Elemente der Barbarei im östlichen System selbst enthalten waren. Um den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen zu sein, bedürfe dieser „Sozialismus“ einer kulturrevolutionären Erneuerung.

Kritik an den „Deformationen“ der sozialistischen Idee hatte die Geschichte der Sowjetunion seit der Oktoberrevolution begleitet. In den ersten beiden Hauptteilen seines Buches, die dem „Phänomen des nichtkapitalistischen Weges zur Industriegesellschaft“ und der „Anatomie des real existierenden Sozialismus“ gewidmet sind, konnte sich Bahro auf eine Reihe von dissidenten Denkern und Denkerinnen der sozialistisch-kommunistischen Bewegung stützen. Doch er wählte einen anderen Ansatz. Die „Deformationstheorien“ waren für ihn Ausdruck einer „romantizistischen Verarbeitung der Geschichte“ (S. 163). Der Vorstellung, der Sozialismus wäre heute auf einem besseren Wege, wenn die Führer der Kommunistischen Partei damals weiser gehandelt hätten, müsse man misstrauen.

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Bahro erinnerte an die von der materialistischen Geschichtsforschung ans Licht gebrachten Zusammenhänge zwischen Ökonomie und Politik, indem er die Grundlagen jeglicher Herrschaft von Menschen über Menschen, wie sie sich auch im „real existierenden Sozialismus“ gezeigt hätten, auf die Arbeitsteilung zurückführte. Die Evolution der menschlichen Gattung habe es nicht erlaubt, die „Fähigkeit zur Teilnahme an der sozialen Synthesis“ (S. 171) gleich in allen Individuen auszubilden. Die Spaltung der Gemeinwesen in „die da oben“ und „die kleinen Leute“ - oder um einen von Bahro gerne verwendeten Begriff zu zitieren: die „Subalternen“ - sei inzwischen allerdings nicht mehr notwendig. Die Herrschaft von Menschen über Menschen könne weitgehend durch die „Verwaltung von Sachen“ abgelöst werden, wie dies schon Karl Marx erhofft habe. Solche Ideale hatten auch die russischen Revolutionäre auf ihre Fahnen geschrieben, doch ihr Weg der nachholenden Entwicklung führte nicht ins Reich der „allgemeinen Emanzipation“, sondern - unter Lenin und vor allem unter Stalin - in eine industrielle Despotie.

In den inzwischen industrialisierten, „protosozialistischen“ Gesellschaften sei es möglich, die Frage der Emanzipation neu zu stellen - so Bahros Hoffnung in den 1970er-Jahren. Diese Vision entwickelte er im abschließenden dritten Teil seines Buches: „Zur Strategie einer kommunistischen Alternative“. Sein theoretisches Konzept sprengte den alten Arbeiterklasse-Marxismus und öffnete den Horizont für ein „neues Denken“, das die soziale und die ökologische Frage zusammenbringen sollte. Bahro hielt zunächst einmal fest, die „welthistorische Mission des Proletariats“ sei innerhalb der marxistischen Theorie „nirgends zwingend bewiesen“ (S. 233). Die „Idee des Fortschritts“, die sich mit dieser Mission verbinde, müsse zudem „radikal anders interpretiert werden, als wir es gewohnt sind“ (S. 311). Die zu jener Zeit noch gängige „realsozialistische“ Vorstellung, den Kapitalismus dank Produktionswachstum eines Tages „überholen“ zu können, verwarf Bahro in Bausch und Bogen: Die „Kulturrevolution“ sei „das Mittel, die kapitalistische Struktur endgültig abzulösen“ (S. 313), zugleich „die Bedingung für den Bruch mit der extensiven Wirtschaftsdynamik, für die Wiedereinordnung des Menschen in das Naturgleichgewicht“ (S. 323; alle Hervorhebungen im Original).

Bahros Kritik des „real existierenden Sozialismus“ war auf dem Boden einer tiefen Verbundenheit mit dem kategorischen Imperativ des jungen Marx gewachsen: „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.4 Was diesem Ziel im Wege stand, musste angeprangert werden. So heftete der junge Philosophiestudent Rudolf Bahro im Oktober 1956 einen scharfen Protest gegen die Haltung der SED zum Ungarnaufstand an die Wandzeitung seines Instituts und forderte darin eine Demokratisierung der DDR. Erstmals geriet Bahro dabei ins Visier der Stasi. Diese vermutete in ihm einen „Parteifeind“, konnte das aber nicht beweisen.

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In einem Gedicht „An Hyperion“ aus dem Jahr 1967 formulierte Bahro: „Nein, wir sind nicht gesinnt, im Vorläufigen uns einzurichten.“5 Dass die Parteiführung nicht mehr wollte als die Sicherung ihrer eigenen Macht, war ihm Mitte der 1960er-Jahre klar geworden. Doch erst der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei im August 1968 öffnete ihm ganz die Augen. Den für die Aggression Verantwortlichen wollte er eine Antwort liefern, „gegen die sie ideell so ohnmächtig sein sollten, wie wir es waren gegen die Panzer“.6 Während Bahro offiziell an seiner Dissertation arbeitete, schrieb er im vermeintlich Verborgenen an der „Alternative“.

Obwohl die Staatsmacht bereits seit 1974 auf dem Laufenden war, griff sie erst nach Erscheinen des Buches im Westen ein.7 Bahro wurde verhaftet und im Juni 1978 wegen „nachrichtendienstlicher Tätigkeit“ zu acht Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Verhaftung und Verurteilung lösten damals weltweit Proteste und eine breite Solidaritätsbewegung aus. So fand beispielsweise im November 1978 ein „Internationaler Bahro-Kongress“ statt, an dem mehr als 2.000 Personen teilnahmen. Im Rahmen einer groß angelegten Amnestie zum 30. Jahrestag der DDR im Oktober 1979 kam auch Rudolf Bahro frei. In der DDR konnte und wollte er nicht bleiben. So reiste er samt seiner Familie in die Bundesrepublik aus.

Bahros Verbindung marxistischer Analyse mit ökologischem Denken stellte ein Novum dar. Kritik an der Zerstörung der natürlichen Ressourcen im Zuge der industriellen Entwicklung war zwar bereits bei Marx angeklungen, doch in der Arbeiterbewegung und im „real existierenden Sozialismus“ fand sie kaum Widerhall. Das, was später „Industrialismus“ hieß, wurde von Sozialdemokraten wie Kommunisten über lange Zeit hinweg beinahe ungebrochen als Ausdruck des Fortschritts begrüßt. Einer der wenigen, die nicht in solchen Fortschrittsjubel einstimmen mochten, war Walter Benjamin. In seinen nachge-lassenen geschichtsphilosophischen Thesen finden sich luzide Bemerkungen zu einem vulgärmarxistischen Begriff von Naturbeherrschung, der die Rückwirkungen der Ausbeutung der Natur auf die Gesellschaft vollkommen ausblendet.8 Ernst Bloch bemühte sich in seinem Werk um das Verständnis eines möglichen „Subjekts der Natur“ und warf die Frage nach einer „Technik ohne Vergewaltigung“ auf.9 Der Funke zur ökologischen Bewegung, die sich in den 1960er- und 1970er-Jahren formierte, sprang allerdings nicht über.

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Anders bei Bahro: Mit dem in der „Alternative“ entwickelten theoretischen Rüstzeug versehen, konnte er nach der Übersiedelung in die Bundesrepublik direkt in den grünen Parteibildungsprozess eingreifen und seine Botschaft wirksam verbreiten: Rot und Grün sollten zusammengehen, denn beide verbinde die wahrgenommene Gefahr der ökologischen Krise, erklärte Bahro auf dem Karlsruher Gründungskongress der GRÜNEN im Januar 1980. Damit artikulierte er eine Meinung, die in der Aufbauphase zum Konsens der Partei werden sollte. Doch unter der Oberfläche und bald auch ziemlich offenkundig wuchsen die Spannungen zwischen den divergierenden Kräften der „Fundis“ und „Realos“. Bahro glaubte den Kampf um die GRÜNEN führen zu müssen - und verlor ihn beim Hamburger Parteitag im Dezember 1984.10 Er war Philosoph und hatte wohl nicht die Statur zum politischen Führer. Das zeigte sich auch beim vergeblichen Versuch im Dezember 1989, seine einstigen Genossen und Genossinnen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands von einem öko-sozialen Programm für eine reformierte DDR zu überzeugen.

Gehört Bahro deshalb zu den Gescheiterten? Er selbst hat es nicht so gesehen. Der Fall der Mauer gab ihm die Gelegenheit, an den Ort seiner philosophischen Ausbildung, die Humboldt-Universität zu Berlin, zurückzukehren und Sozialökologie zu lehren. Zentral ging es ihm dort um jene Fragen, die er - von einer Krebskrankheit gezeichnet, an der er schließlich im Dezember 1997 starb - in einem „Spiegel“-Interview so zusammengefasst hatte: „Warum zerstört der Mensch sich selbst und die Erde? Welche politische Wende ist nötig?“11 Gegen die „Logik der Selbstausrottung“ wollte Bahro eine „Logik der Rettung“ formulieren - so heißt sein zweites Hauptwerk, das zehn Jahre nach der „Alternative“ erschienen war.12 Auch wer mit Bahros Antworten nicht einverstanden ist, sollte seinen Denkansatz nicht allzu schnell verwerfen. Der Berliner Politologe und Publizist Michael Jäger schreibt in einer Besprechung der Bahro-Biographie: „Die entscheidende Frage ist, ob man sein Problembewusstsein für ein Problembewusstsein hält oder nur für eine irre Marotte.“13

Anmerkungen:

1 Herbert Marcuse, Über Bahro, den Protosozialismus und den Spätkapitalismus, in: kritik. Zeitschrift für sozialistische Diskussion 6 (1978) H. 19, S. 5-27, hier S. 5.

2 Wolfgang Abendroth, Weder Strategie noch - insgesamt - richtige Analyse, aber eine wichtige Quelle zum Problem des gegenwärtigen Entwicklungsstadiums des realen Sozialismus, in: Das Argument 20 (1978), S. 60-66; hier zitiert nach Guntolf Herzberg/Kurt Seifert, Rudolf Bahro - Glaube an das Veränderbare. Eine Biographie, Berlin 2002, S. 227.

3 Helmut Gollwitzer, „Die menschliche Herausforderung, der Bahro sich gestellt hat“. An Wolfgang Abendroth, in: Hannes Schwenger (Hg.), Solidarität mit Rudolf Bahro. Briefe in die DDR, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 31-37, hier S. 34.

4 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1843/44), in: ders., Die Frühschriften, hg. von Siegfried Landshut, Stuttgart 1964, S. 216; Hervorhebung im Original.

5 Rudolf Bahro, ... die nicht mit den Wölfen heulen, Köln 1977, S. 124.

6 Ders., „Ich werde meinen Weg fortsetzen“. Eine Dokumentation, 2., erw. Aufl. Köln 1977, S. 71.

7 Zu den möglichen Gründen vgl. Herzberg/Seifert, Rudolf Bahro (Anm. 2).

8 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt a.M. 1991, S. 691-704, hier bes. These XI (S. 698f.).

9 Siehe dazu beispielsweise Ernst Bloch, Gesamtausgabe, Bd. 5, Frankfurt a.M. 1977, S. 802ff.

10 Bahros Gang durch die GRÜNEN wird in Teil II unserer Bahro-Biographie detailliert beschrieben. Siehe Herzberg/Seifert, Rudolf Bahro (Anm. 2).

11 „Die wollten nur Macht“. Der Philosoph Rudolf Bahro über Kommunismus, Bhagwan und seine Krankheit, in: Spiegel, 26.6.1995, S. 46-51, hier S. 51.

12 Rudolf Bahro, Logik der Rettung. Wer kann die Apokalypse aufhalten? Ein Versuch über die Grundlagen ökologischer Politik, Stuttgart 1987.

13 Michael Jäger, Wege, die nach Rom führen, in: Freitag, 11.10.2002, S. XVI.

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