Die westdeutsche Geschichtsdidaktik ist seit ihrer Konstituierung eine akademische und daher theorieorientierte Teildisziplin der Geschichtswissenschaft. Ihre Initialzündung lag Anfang der 1970er-Jahre in der Kritik an dem überkommenen Historismus, der Forderung nach einem Perspektivwechsel und nach mehr Theoriebildung. Mit dem durch die Historische Sozialwissenschaft produzierten Wissen konnten neue Ansprüche auf die Orientierung der Lebenspraxis in der Öffentlichkeit erhoben werden. Forciert wurde eine Geschichtsdidaktik, die diesen Anspruch in neue Strategien des Lehrens und Lernens umsetzte.1 In den 1980er-Jahren wurden die Makroaggregate der Gesellschaftsgeschichte durch die Betonung subjektiv erfahrener Geschichte ergänzt. Doch auch die Geschichtsdidaktiker kritisierten die aufkommende Laienbewegung aufgrund ihrer Theorieferne und unkritischen Identifikationen mit den zu untersuchenden Objekten als „Barfußhistoriker“.2 Das war ganz im Sinne einer Disziplin, deren Vertreter sich als Historiker verstanden und keineswegs auch nur in die Nähe von Pädagogen geraten wollten. Mit der neuen Geschichtsdidaktik sollte die ältere Geschichtsmethodik3 überwunden und in enger Anlehnung an Geschichtstheorie und Fachwissenschaft ein theoretisches Instrumentarium zur Reflexion von Vermittlungsprozessen auch außerhalb der Schule geschaffen werden. Karl-Ernst Jeismann und Jörn Rüsen führten zwei geschichtsdidaktische Fundamentalkategorien ein, das „Geschichtsbewusstsein“4 und die „Geschichtskultur“,5 die aus dem Theoriebestand der Geschichtswissenschaft inzwischen nicht mehr wegzudenken sind.
Dennoch ist die westdeutsche Geschichtsdidaktik alles andere als eine Erfolgsstory: Bald nach der Überwindung der Krise der deutschen Geschichtswissenschaft, die eigentlich eine Krise des Historismus war und in der „Wozu noch Geschichte?“ gefragt wurde,6 schien die Geschichtsdidaktik aus der Perspektive der Fachwissenschaft nicht mehr erforderlich. Die Geringschätzung, die sich bis zur Verachtung steigerte, führte die Geschichtsdidaktiker in ein Imageproblem, das sie bis heute nicht haben lösen können. Infolge der nicht konsequent weitergeführten Grundlagenforschung und der mangelnden Integration der Arbeitsfelder Theorie, Empirie und Pragmatik geriet die Geschichtsdidaktik weiter in die Krise. Die Konzentration auf das diffuse und bislang nicht restlos erschlossene Forschungsgebiet der „Geschichte in der Öffentlichkeit“ und der hohe theoretische Anspruch der Disziplin haben das Verhältnis zu den Geschichtslehrern schwer belastet. Deren wiederholte Forderung nach einer umfassenden geschichtsdidaktischen Pragmatik, nach einer Unterrichts-Methodik, ist nur unzureichend eingelöst worden.7 Die konsequente lerntheoretische Wende an den Schulen im Sinne des Klippertschen Methodenlernens8 ist von der Geschichtsdidaktik nicht reflektiert und letztlich von Geschichtslehrern und Schulbuchverlagen allein verantwortet worden. Das Imageproblem führte zu einem Aussterben der Geschichtsdidaktik in den Historischen Seminaren: Lehrstühle wurden umgewidmet, nicht wieder besetzt oder zuletzt zu Juniorprofessuren herabgestuft.9 Der wissenschaftliche Nachwuchs blieb aus, zumal von geschichtsdidaktischen Qualifizierungsarbeiten offen abgeraten wurde. Welcher aufstrebende Fachhistoriker ist schon bereit, den „Makel Geschichtsdidaktik“ in seinen Lebenslauf aufzunehmen?
Die Zukunft der universitären Geschichtsdidaktik erscheint besiegelt: Sie ist trotz des anhaltenden Geschichtsbooms ein Auslaufmodell, vielleicht ist sie auch schon tot. Ein Neubeginn dürfte nur möglich sein, wenn Aufgabenfelder, Methoden und Ziele grundlegend überdacht und an den gesellschaftlichen Gegebenheiten orientiert werden. Dabei stellen die fehlende theoretische Bestimmung von „Öffentlichkeit“ sowie die künstliche Trennung zwischen schulischer und außerschulischer Geschichtsdidaktik die größten Barrieren dar. Eine Perspektive für die geschichtsdidaktische Diskussion im Bereich der Pragmatik könnte in den Impulsen der amerikanischen Public-History-Bewegung10 liegen. Geschichtsdidaktische Pragmatik bezeichnet die planmäßige und zielbestimmte Organisation historischen Lernens.11 Im Sinne einer Methodik, die Prinzipien, Strategien und Handlungsmuster entwickelt, ist sie angewandte und konkrete Theorie.
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Public History steht in den USA nicht nur für die Beschäftigung mit Geschichte in der Öffentlichkeit, sondern für über 50 Studiengänge, die sich auf die Ausbildung von Historikern für Vermittlungsaufgaben und Dienstleistungen konzentrieren.12 Ihre Entstehung in den 1970er-Jahren stand im unmittelbaren Zusammenhang mit der Bildungsexpansion und der daraus resultierenden Beschäftigungskrise für Historiker an den amerikanischen Universitäten. Universitätsprofessoren bemühten sich um den zielgerichteten Ausbau der Anwendungsbereiche von Geschichte in Praxisfeldern jenseits von Schule und Universität, den Non-Teaching-Careers. Dieser pragmatische Zugang wurde durch die Kritik an der amerikanischen Geschichtswissenschaft ergänzt, die ausschließlich forschende Historiker hervorbringe. Die Public-History-Bewegung beabsichtigte die Aufwertung alternativer Zugänge zur Geschichte in der Öffentlichkeit und die Betonung angewandter Geschichtswissenschaft.13 Der wegen seiner Mehrdeutigkeit umstrittene Begriff Public History sollte den Gegensatz zu akademisch betriebener Geschichtswissenschaft bezeichnen.14 In ihrem Selbstverständnis sind Public Historians bis heute professionelle Historiker, den Methoden des historischen Forschens verpflichtet und somit Teil der Geschichtswissenschaft. In ihrer Tätigkeit außerhalb von Schule und Universität und den Präsentationsformen der Forschungsergebnisse gehen sie über die traditionelle Geschichtswissenschaft hinaus. Im Bewusstsein, dass sich Geschichtswissenschaft auch nach den Gesetzen des Marktes betreiben lässt, decken sie die gesamte Palette historischer Dienstleistungen ab: historische Beratung in Verbindung mit Unternehmensgeschichte und -archiv, kulturtouristische Programme, Entwicklung historischer Ausstellungen, Begleitmaterialien, Rahmenprogramme, Gutachten, Dokumentationen, Jubiläumsschriften, Beiträge für Zeitungen, Magazine, Zeitschriften, Bücher und Internet, Drehbücher und Beratung für Radio-, Fernseh-, Kino- und CD-ROM-Produktionen sowie Ahnenforschung. Ihre Auftraggeber sind staatliche Einrichtungen, Parteien, Verbände, Unternehmen, Anwaltssozietäten, Museen, Vereine, Familien und Privatpersonen. Public Historians fordern von der Geschichtswissenschaft mehr unternehmerischen Geist und Konkurrenzfähigkeit.15
Die Public-History-Bewegung hat auf der Basis einer intensiven Berufsfeldforschung, die unter ständigem Kontakt mit in der Praxis tätigen Historikern stattfand,16 Ansätze zu einer Methodik außerschulischer Vermittlung von Geschichte entwickeln können. Sie sind in das Public-History-Curriculum eingegangen: Studierende erlernen Präsentations- und Darstellungsformen, die dem Medien- und Informationszeitalter entsprechen.17 Dabei werden schriftliche, mündliche, ikonographische und gegenständliche Quellen als Medien historischen Lernens eingesetzt.18 Exkursionen, Gruppenprojekte, handlungs-, erfahrungs- und produktionsorientierte Seminare bieten den Studierenden Anregungen für Sozial- und Arbeitsformen, die in einer späteren Berufstätigkeit eingebracht werden können.19
Die Analyse und Erschließung der Berufsfelder sowie die Kooperation mit den in der Praxis tätigen Historikern ist in der Bundesrepublik bislang nur von so genannten „Leuchtturm-Projekten“20 intensiv betrieben worden. Eine systematische Berufsfeldforschung durch die Geschichtsdidaktik bleibt ein Desiderat. Bei der derzeitigen Ausbildung von Historikern fehlt die Einsicht, dass die traditionellen Darstellungsformen der Geschichtswissenschaft um solche erweitert werden müssen, die der öffentlichen Kommunikation entsprechen. Obwohl die Geringschätzung der Darstellungsformen Erzählung und Personalisierung als überholt gilt, werden diese bei der Ausbildung von Historikern, die künftig als Multiplikatoren mit dem nicht-wissenschaftlichen Publikum kommunizieren, kaum berücksichtigt. Ebenso wird der sachgerechte Einsatz von Primärzeugnissen wie Fotografien, Filmen und Objekten, die sich aufgrund ihrer Eindringlichkeit als Medien historischen Lernens in besonderem Maße eignen, nicht thematisiert. Geschichtsdidaktische Prinzipien, Probleme und Strategien wie Auswahl, Chronologie, Exemplarität, Problemorientierung und Multiperspektivität werden selten auf Vermittlungsprozesse außerhalb der Schule übertragen. Ein an der gesellschaftlichen Wirklichkeit orientiertes Geschichtsstudium muss die Finanzierung von Projekten, insbesondere das Fundraising, sowie die Vereinbarkeit historischer Dienstleistungen mit einem kritischen Wissenschaftsbegriff reflektieren.21 Die deutsche Geschichtswissenschaft benötigt daher eine Diskussion um ihr tradiertes Objektivitätsideal. In den USA hat es bereits eine erbitterte Auseinandersetzung um die Rolle der Public Historians im Zusammenhang allgemeinerer Objektivitätsfragen gegeben.22
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Eine Qualifizierung für außerschulische Vermittlungstätigkeiten setzt die Beherrschung der Methoden historischen Forschens voraus. Angesichts der verbindlichen Einführung stärker berufsbezogener, modularisierter und verkürzter Studiengänge stehen die Historischen Seminare vor der Herausforderung, Methodenkompetenz und Praxisbezug in den neuen Bachelor- und Master-Studiengängen integriert zu vermitteln. Für neue, der Informations- und Dienstleistungsgesellschaft entsprechende Methoden und Prinzipien der Vermittlung müssen im Rahmen der Hochschuldidaktik Ausbildungsmaterialien entwickelt werden.
Die Geschichtswissenschaft sollte sich als eine kommunikative Disziplin verstehen, die Vermittlungsfragen nicht externalisiert. Ein auf die Pragmatik fokussierter Neubeginn geschichtsdidaktischer Bemühungen erfordert nicht nur das Zusammenwirken sämtlicher noch verfügbarer Kräfte, sondern auch die Einsicht der Fachwissenschaft in die Notwendigkeit, Vermittlungsprozesse innerhalb und außerhalb der Universität theoretisch und methodisch zu fundieren und professionell zu evaluieren. Die universitäre Geschichtsdidaktik sollte sich endlich zutrauen, eine theoretisch begründete, aber dennoch angewandte Geschichtswissenschaft zu sein. Engagierte Forschung allein wird angesichts der immer kleiner werdenden finanziellen Möglichkeiten für die Legitimation der Geschichtswissenschaft nicht mehr ausreichen. Sie ist jedoch die Voraussetzung, den öffentlichen Nutzen unserer Disziplin unter Beweis zu stellen.
1 Jörn Rüsen, Grundlagenreflexion und Paradigmawechsel in der westdeutschen Geschichtswissenschaft, in: Geschichtsdidaktik 11 (1986), S. 388-405, hier S. 398.
2 Vgl. Thomas Lindenberger, Wer hat Angst vor den Barfußhistorikern? Plädoyer für einen rationalen Dialog, in: Geschichtsdidaktik 11 (1986), S. 17-20.
3 Die „Didaktik der Geschichte“ kam erst nach 1945 als akademisches Fach an die Pädagogischen Hochschulen und Universitäten. Sie galt als Teildisziplin der Pädagogik und fokussierte lediglich Fragen des Geschichtsunterrichts. Zur Geschichte der Geschichtsdidaktik vgl. Horst Kuss, Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht in der Bundesrepublik Deutschland (1945/49-1990). Eine Bilanz, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 45 (1994), S. 735-758 (Teil I) und Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 46 (1995), S. 3-15 (Teil II).
4 Z.B. Karl-Ernst Jeismann, Geschichtsbewußtsein als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik, in: Jahrbuch für Geschichtsdidaktik 1 (1988), S. 1-24.
5 Z.B. Jörn Rüsen, Geschichtskultur, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 46 (1996), S. 513-521.
6 Willi Oelmüller (Hg.), Wozu noch Geschichte?, München 1977.
7 Vgl. zuletzt Michael Sauer, Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht heute. Eine Bestandsaufnahme und ein Plädoyer für mehr Pragmatik, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 55 (2004), S. 212-232.
8 Heinz Klippert, Methoden-Training. Übungsbausteine für den Unterricht, Weinheim 2004.
9 Die renommierten geschichtsdidaktischen Lehrstühle an den nordrhein-westfälischen Universitäten Düsseldorf, Bochum und Duisburg existieren nicht mehr: In Düsseldorf wurde der Lehrstuhl umgewidmet, in Bochum eine Juniorprofessur und in Duisburg eine Honorarprofessur eingerichtet.
10 Die Entwicklung der amerikanischen Public History dokumentiert die Zeitschrift The Public Historian, die seit 1978 im Auftrag des National Council on Public History und der University of California, Santa Barbara herausgegeben wird.
11 Jörn Rüsen, Ansätze zu einer Theorie historischen Lernens I: Formen und Prozesse, in: Geschichtsdidaktik 10 (1985), S. 249-265, hier S. 251.
12 Parker Hubbard Cohen, A Guide to Graduate Programs in Public History, Indianapolis 1996; ders./Robert Vane (Hg.), A Collection of Public History Course Syllabi, Indianapolis 1996.
13 Robert Kelley, Public History: Its Origins, Nature, and Prospects, in: The Public Historian 1 (1978) H. 4, S. 16-28; Ronald J. Grele, Whose Public? Whose History? What is the Goal of a Public Historian?, in: The Public Historian 3 (1981) H. 1, S. 40-48; Martin Blatt, Public History, in: Peter N. Stearns (Hg.), Encyclopedia of Social History, New York 1994, S. 597-599.
14 Phyllis K. Leffler/Joseph Brent (Hg.), Public and Academic History. A Philosophy and Paradigm, Malabar 1990.
15 Richard Foreman, History Inside Business, in: The Public Historian 3 (1981) H. 3, S. 41-61.
16 James B. Gardner/Peter S. LaPaglia (Hg.), Public History. Essays from the Field, Malabar 1999; Barbara Howe, Careers for Students of History, Washington 1989.
17 Glenda Riley, Organizing A Public History Course. An Alternative Approach, in: The History Teacher 16 (1982), S. 35-52; Noel J. Stowe, Developing a Public History Curriculum Beyond the 1980s. Challenges and Foresight, in: The Public Historian 9 (1987) H. 3, S. 20-37.
18 Thomas J. Schlereth, Material Culture Research and Historical Explanation, in: The Public Historian 7 (1985) H. 4, S. 21-36; Jo Blatti, Public History and Oral History, in: Journal of American History 77 (1990), S. 615-625; Michael Frisch, A Shared Authority. Essays in the Craft and Meaning of Oral an Public History, New York 1990; Daniel J. Walkowitz, Visual History. The Craft of the Historian-Filmmaker, in: The Public Historian 17 (1995) H. 1, S. 53-64; Daniel David W. Kingery (Hg.), History from Things. Essays on Material Culture, Washington 1996.
19 Barbara Howe, State of the State of Teaching Public History, in: Teaching History 18 (1993), S. 51-58.
20 Michaela Hänke-Portscheller, Berufswerkstatt Geschichte. Lernorte für die Erinnerungskultur, Köln 2003.
21 Vgl. Theodore J. Karamanski, Ehtics and Public History. An Anthology, Malabar 1990.
22 Peter Novick, That Noble Dream. The „Objectivity Question“ and the American Historical Profession, New York 1988.