Die Historiographie der „neuen Kriege“ muss Mediengeschichte sein

Anmerkungen

Das Beschreibungs- und Erklärungsmodell der „neuen Kriege“, wie es vor allem der Politologe Herfried Münkler entwickelt und publizistisch äußerst wirkungsvoll vertreten hat, kommt ohne die Berücksichtigung der medialen Faktoren nicht mehr aus. An wesentlichen Stellen seiner scharfsinnigen historischen Phänomenologie des Krieges, die gerade durch die Konfrontation der Aktualität mit den Erscheinungsformen der vormodernen Kriege des 16. und 17. Jahrhunderts ihre besondere Prägnanz gewinnt, wird immer wieder auf die gewandelte Rolle des Fernsehens verwiesen.1 In den kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten beiden Jahrzehnte werde der Kampf mit Waffen „zunehmend durch den Kampf mit Bildern konterkariert“. TV-Kamerateams seien für die Kriegsparteien inzwischen ein beliebig handhabbares Instrument der Aufmerksamkeitssteuerung, ja die durch Fernsehbilder erst hergestellte „Weltöffentlichkeit“ sei zur „Ressource“ des Krieges geworden. Münklers Argumentation kulminiert dann in der These, die „Verwandlung der Berichterstattung über den Krieg in ein Mittel seiner Führung“ bedeute den „wahrscheinlich größte[n] Schritt bei der Asymmetrisierung des Krieges“. Ein Hauptbefund der Studie, die Ablösung der staatlich monopolisierten Kriege durch radikal asymmetrische Formen der Auseinandersetzung, wird also am Medium Fernsehen festgemacht - alles deutet darauf hin, dass Münklers Konzept der „neuen Kriege“ eine umfassende Theorie ihrer medialen Repräsentation quasi mitformuliert. Doch dieser Eindruck täuscht. Die medialen Spiegelungen der kriegerischen Ereignisse und vor allem der audiovisuelle Diskurs des Fernsehens werden nur am Rande beachtet; Münkler belässt es bei Anmerkungen und Anfügungen. Nur eingestreut wird der Hinweis, man dürfe den „wachsenden Einfluss der Medien auf die politischen Entscheidungsabläufe“ nicht unterschätzen. Dabei bietet Münklers Konzept der „neuen Kriege“ eigentlich alle Voraussetzungen, um eine solche Beiläufigkeit zu überschreiten, denn optisch-visuelle Begriffe fungieren als Grundkategorien: „Erscheinungsformen“ und „Erscheinungsweisen“ der „neuen“ Realitätsformationen sollen aufgezeigt werden. Alles kreist um die Problematik der Sichtbarkeit; eine unübersichtliche „Gemengelage“ wird als das hervorstechendste Charakteristikum der aktuellen Kriege kenntlich gemacht.

Die Notwendigkeit, die Denkfigur der „neuen Kriege“ zu einem umfassenden Modell der medialen Wahrnehmung weiterzudenken, wird dringlicher, wenn man die Blickrichtung der historischen und aktuellen Analyse zur Perspektive einer künftigen Historiographie der „neuen Kriege“ erweitert. Diese Historiographie muss in ihren wesentlichen Teilen zweifellos - wie die Zeitgeschichte insgesamt2 - als Mediengeschichte angelegt sein. Vor allem das Fernsehen fungiert in den neuen Kriegen längst nicht mehr bloß als Spiegel der Ereignisse, sondern ist zu einem Entscheidungsraum geworden. Von der Repräsentation des Krieges im Raum-Zeit-Kontinuum des Fernsehprogramms hängt ab, ob die Öffentlichkeit den Einsatz militärischer Gewalt als legitim akzeptiert oder ob der moralische Druck auf die Regierenden zum Zwang wird, den Krieg baldmöglichst zu beenden. Gerade das Unterdrücken von Fernsehbildern belegt die Entscheidungsfunktion, die dem Fernsehen und seinem audiovisuellen Diskurs inzwischen zugefallen ist. Von den „ethnischen Säuberungen“, die die Reitermilizen gegenwärtig in der Provinz Darfur im südlichen Sudan vollziehen, gibt es keine Fernsehbilder. Allein die Bilder des Flüchtlingselends, dieser Eindruck drängt sich auf, genügen wohl nicht, um die Weltöffentlichkeit auf Dauer zu alarmieren und die Großmächte zum Eingreifen zu bewegen.

Der Golf-Krieg von 1991 bedeutete für die mediale Repräsentanz des Krieges eine Zäsur. Zum ersten Mal stellte CNN als Nachrichtenkanal neuen Typs eine beinahe lückenlose Medienrealität zur Verfügung, die den Krieg beinahe in Echtzeit quasi medial verdoppelte. Diese Konzentration des Fernsehdiskurses auf den Krieg war zugleich ein Publikumstest. Es stellte sich heraus, dass die nicht mehr zu steigernde Präsenz des Krieges in den TV-Programmen einem verstärkten Informationsbedürfnis der Zuschauer entsprach. Seitdem sind auch die öffentlich-rechtlichen Sender bereit, bei drohenden militärischen Konflikten den Charakter eines Nachrichtenkanals anzunehmen. Die neuen Darstellungsformen, die CNN damals kreierte - beständige Direktschaltungen zu den Originalschauplätzen, permanente Befragungen und Kommentierungen von Experten -, sind weltweiter Standard einer Krisenberichterstattung geworden. Das Fernsehen füllt ganz selbstverständlich die umfassenden Funktionen einer öffentlichen Wahrnehmung, ja einer Definition der Ereignisse aus; es wirkt wie eine Beglaubigungsagentur. Erst durch seine mediale Repräsentation wird das Ereignis als „wirklich“ verbürgt und auf die Agenda der Aufmerksamkeit gesetzt. Das Fernsehen gewinnt Verfügungsmacht über alle anderen Medien, wird durch die Suggestivität und Allgegenwart seiner globalen Bilderströme zu einem sinnlichen Erfahrungsraum. Die hochwirksame Sphäre der Bilder und Töne verweist nicht mehr zeichenhaft auf das Geschehen, sondern wird selbst zum Ereignis und überformt es. Im öffentlichen Diskurs, in den Reden der Politiker, den vielen Talkshows oder Pressekommentaren machen sich die Sprecher kaum noch bewusst, wie sehr die Bilder des Fernsehens Blickrichtung und Wertung vorgeben, wie unmittelbar die Bild- und Tonfragmente des Fernsehens für das Ganze genommen werden.

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Nun wäre es verfehlt, die Zeige- und Erkenntnispotenziale der Fernsehbilder gänzlich zu negieren. Die besondere Nähe, die die Kamera herstellt, das Körperlich-Physische und die sinnliche Präsenz des Bildhaften erfahren gerade in der Kriegsberichterstattung eine bedrängende Zuspitzung. Im Zeitalter der weltweiten televisionären Vernetzung und der leichten Verfügbarkeit von Aufnahmeapparaturen können die Bilder der Opfer und ihrer Leiden nicht auf Dauer unterdrückt werden. Der Preis und die Konsequenzen des militärischen Handelns werden dadurch permanent auf den Bildschirmen in aller Welt sichtbar gemacht. Es ist ein immer noch weit verbreitetes Missverständnis, die Bilder der zivilen Opfer oder der „Kollateralschäden“ allein als einen oberflächlichen und folgenlosen Reiz zu bewerten. Dies unterschätzt das moralische Empfinden der Zuschauer und das moralische Urteil, das diese Bilder nach sich ziehen.3 In liberalen und postheroischen Gesellschaften bleibt die Unterstützung der Öffentlichkeit für die militärischen Aktionen der Exekutive eine höchst labile Angelegenheit. Die Fernsehberichterstattung gleicht daher einem alltäglichen plebiszitären Test, bei dem die politischen und moralischen Legitimationen des Krieges beständig überprüft werden. Unversehens übernimmt das Fernsehen die Funktion eines Kontrollmediums, das seine Kontrollkameras überall verteilt hat. Im fortdauernden Irak-Krieg wurde dies überdeutlich: Die offiziösen Kriegsgründe der Bush-Regierung kollabierten vor aller Augen, weil die Belegbilder fehlten und die Erfolgsmeldungen durch die internationale Berichterstattung widerlegt wurden.

Eine Historiographie der „neuen Kriege“ verfehlte ihr Objekt, wenn sie diese fundamentalen Funktionen der Fernsehbilder ignorierte. Das Fernsehen ist nicht nur Bühne und Ausdrucksfläche, sondern ein eigenständiger Akteur, mit dem von Anfang an kalkuliert wird. Bereits in der Vorphase des Krieges fällt dem Fernsehen eine Hauptrolle zu: In den Nachrichtensendungen wird der Gegner definiert, werden Kriegsgründe und Kriegsziele ausgesprochen, wird ein Kriegsklima erzeugt. Mit der Verkündung eines Ultimatums wird schließlich eine Dramaturgie etabliert, die dem Zeitmedium Fernsehen auf ideale Weise angepasst erscheint. Die Kriegspolitik erhält die Aura des Unausweichlichen und Alternativlosen. Seit dem Golf-Krieg von 1991 gehört das vom Fernsehen proklamierte, durch Fernsehbilder rezent gehaltene Ultimatum zum Grundrepertoire der moralisch legitimierten militärischen Interventionen.

Besonders bemerkenswert ist für die Historiographie, dass die Phasen und Etappen der neuen Kriege hochgradig von TV-Bildern abhängig sind. Fernsehbilder markieren Zäsuren und lösen dramatische Umschwünge aus. Die Schreckensbilder der Flüchtlinge, die zu Tausenden das Kosovo verließen, und die unmenschlichen Bedingungen in den mazedonischen Auffanglagern ließen den Krieg in ein neues Stadium treten; für die kriegführende NATO entstand ein enormer Handlungsdruck. Die Fernsehbilder waren ein Beschleunigungsfaktor hin zu einem schnellen Kriegsende. Schließlich wird die wachsende Durchdringung von Kriegsereignis und Fernsehberichterstattung an den Schlusseinstellungen besonders markant. Die weltweit zirkulierenden Triumphbilder, der Sturz der überdimensionalen Saddam-Statue in Bagdad,4 das Aufziehen der eigenen Hoheitszeichen, das Durchstreifen der Paläste durch die Stoßtrupps, das Eindringen in das Interieur der Macht vor den Augen der Kameras - all dies erscheint beinahe schon als ein vorrangiges Kriegsziel. Die Sieger nehmen die Definitionsmacht des Fernsehens in ihre eigenen Hände, greifen auf traditionelle Muster der Kriegsfotografie zurück und schreiben dem Medium so seine Inszenierung vor, die jedoch nur den faden Eindruck eines déjà vu hervorruft. Vielleicht sind die „gloriosen“ Schlusstableaus des Irak-Krieges (die sich inzwischen jedoch als trügerisch erwiesen haben), auch eine Reaktion auf den Golf-Krieg und den Kosovo-Krieg, bei denen die Akteure solche medialen Schlussgesten versäumten.

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Eine Historiographie der „neuen Kriege“ muss zwischen den Medienintentionen und den Medieneffekten präzise unterscheiden. Im Irak-Krieg tat die „Koalition der Willigen“ alles, um die Medienrepräsentation im eigenen Sinn zu modellieren. Zahllose Pressekonferenzen boten Perspektiven und Bilder an, die den Krieg als perfekt organisierte, zielgenaue Aktion belegen sollten, die die eigenen Opfer auf ein Minimum reduzierte. Die „embedded correspondents“ lieferten mitreißende Aktionsbilder eines schier unaufhaltsamen, rasanten Vormarsches und schöpften die faszinierende Oberfläche des hochtechnisierten Krieges ab. Vor allem in den ersten Tagen des Krieges tauchten Aufnahmen von massenhaft kapitulierenden irakischen Truppen auf, die in der fast künstlerischen Ausnutzung der Bildräume inszeniert und manipuliert wirkten. So ausgeklügelt dieses Bildprogramm des asymmetrischen Krieges auch sein mochte: Die Bilder entwickelten ihre eigene Dynamik und verkehrten die Intentionen in ihr Gegenteil. Das Ausspielen einer uneinholbar überlegenen Waffentechnik und das Feiern der eigenen Stärke brachten außerhalb der USA ganz andere Medieneffekte hervor, wurden als unerträgliche Arroganz und rücksichtslose Zerstörung gesehen. Als die Folterbilder von Abu Ghureib publik wurden, waren die Bildprogramme der amerikanischen Armee vollends diskreditiert. Was hier sichtbar wurde - die krude Sexualisierung der militärischen Gewalt, die Demütigung wehrloser Gefangener -, zerstörte wohl endgültig das Wunschbild eines Krieges, der im Zeichen der Humanität und der Demokratie geführt werden sollte. Auch solche Bildwechsel muss eine Historiographie der „neuen Kriege“ registrieren und nachzeichnen.

Anmerkungen:

1 Ich beziehe mich im Folgenden vor allem auf Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek bei Hamburg 2002. Verwiesen sei auch auf sein Buch Der neue Golfkrieg, Reinbek bei Hamburg 2003, wo Münkler im 1. Kapitel kurz auf die „Rolle der Medien“ eingeht. Als kritische Auseinandersetzung mit Münkler und anderen Autoren vgl. Martin Kahl/Ulrich Teusch, Sind die „neuen Kriege“ wirklich neu?, und Sven Chojnacki, Wandel der Kriegsformen? - Ein kritischer Literaturbericht, beide in: Leviathan 32 (2004), S. 382-401 bzw. S. 402-424. Die Medialisierung von Kriegen wird dort nicht berücksichtigt.

2 Thomas Lindenberger, Vergangenes Hören und Sehen. Zeitgeschichte und ihre Herausforderung durch die audiovisuellen Medien, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 1 (2004), S. 72-85.

3 Vgl. dazu den Essay von Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, München 2003.

4 Vgl. dazu den Beitrag von Lars Klein in dieser Ausgabe. Zu den fotografischen Triumphbildern der modernen Kriege, die durch ihre vielfache Verbreitung zu Ikonen wurden, vgl. Gerhard Paul, Bilder des Krieges - Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn 2004.

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