„GIB AIDS KEINE CHANCE“

Eine Präventionsbotschaft in zwei deutschen Staaten

Anmerkungen

Das Jahr 2012 bot der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Köln (BZgA) Grund zum Feiern: Einer ihrer einflussreichsten „Mitarbeiter“ konnte auf 25 Dienstjahre zurückblicken. Rund drei Viertel aller Bundesbürger waren dem Jubilar, der sich seit 1987 traditionell in den Farben Weiß, Rot und Schwarz kleidet, im Vorjahr auf der Straße, im Kino oder im Internet begegnet.1 Zwar hatte er sich im Laufe der Jahre hier und da etwas verändern müssen – gleichwohl wurde er durch seinen Arbeitgeber niemals ersetzt.2 Die Rede ist vom Slogan „GIB AIDS KEINE CHANCE“, dem Markenzeichen der zentralen BZgA-Aidspräventionskampagne.

Trotz der Popularität des Slogans ist ein bemerkenswertes Kapitel seiner Geschichte heute weitgehend vergessen. Dieses spielte gegen Ende der 1980er-Jahre und betraf die beiden „Systemgegner“ Bundesrepublik und DDR. Lediglich einige Ost-Berliner Mediziner und Ministeriale, Mitarbeiter des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden sowie Hunderte DDR-Bürger, die sich am 1. Dezember 1988 neugierig zum Dresdener Lingnerplatz 1 aufmachten, werden sich eventuell noch daran erinnern: an eine Ausstellung, deren Titel mit jener 1987 in der Bundesrepublik entwickelten BZgA-Präventionsbotschaft identisch war. Die Aufforderung „GIB AIDS KEINE CHANCE“ stellt in gesundheits-, aber auch in gesellschaftspolitischer Hinsicht eine zentrale Quelle für den deutsch-deutschen Umgang mit einer neuen Bedrohung dar und kann als Signum eines zwischen den beiden Staaten verlaufenden Transferprozesses gesehen werden.

1. Entstehung, Ziele und Rezeption einer Präventionsbotschaft „Made in West-Germany“
 

Das Motto „GIB AIDS KEINE CHANCE“ entstand in der Bundesrepublik auf dem Höhepunkt der parlamentarischen Diskussion über Maßnahmen zur HIV-Bekämpfung. Wolfgang Müller, Leiter des „Aids-Referats“ der BZgA,3 benannte aus der Rückschau den seinerzeit in Bonn debattierten Grundkonflikt: Dem Konzept der „‚gesellschaftlichen Lernstrategie‘ mit den Prinzipien Eigenverantwortung, Freiwilligkeit und Anonymität stand damals die [...] seuchenmedizinisch begründete individuelle ‚Such- und Kontrollstrategie‘ gegenüber. Deren Ziel ist es, Infizierte als Infektionsquellen ausfindig zu machen und möglichst zu isolieren, um auf diesem Weg die vermuteten Infektionsketten zu unterbrechen.“4 Diese Auseinandersetzung über traditionelle oder neue Maßnahmen zum Schutz der Bundesbürger war keine ausschließlich gesundheitspolitische. Mit ihr verbunden waren zentrale Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenlebens: Wertvorstellungen, Sexualität, Krankheit und Tod sowie die Pflichten und Rechte des Staats.

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„Spiegel“-Cover vom 9.2. und 25.5.1987.
In den Jahren 1983 bis 1988 gab es insgesamt neun „Spiegel“-Titel zum Thema Aids.

Während ein Großteil der Politiker, allen voran Bundesgesundheitsministerin Rita Süssmuth, sich gegen restriktive Maßnahmen wie zwangsweise HIV-Antikörpertests, namentliche Meldepflicht und Isolation stemmte, befürworteten andere eben jene „harte“ Gangart. Insbesondere Peter Gauweiler, Staatssekretär im bayerischen Innenministerium, machte sich für Zwangsuntersuchungen stark. Im Sommer 1987 wurden in seinem Bundesland entsprechende Maßnahmen eingeführt.5 Im gleichen Jahr forderten Professoren der Essener Universitätsklinik, die Grundrechte der Bürger zum Schutz der Allgemeinheit einzuschränken.6 Zudem polarisierte Aids die Bevölkerung. Laut Umfragen sprachen sich 51 Prozent der Bürger für eine namentliche Meldepflicht HIV-positiver Menschen aus.7

Den Diskussionen in Gesellschaft und Politik waren medizinische Artikel über eine ominöse Erkrankung vorausgegangen. Diese war erstmals 1981 in den USA beobachtet worden und betraf scheinbar zunächst nur homosexuelle Männer. Spätestens 1983 machten die westdeutschen Massenmedien die Krankheit zum Thema. Berichte über die rasante Verbreitung des Virus und die Tatsache, dass mittlerweile auch heterosexuelle Männer, Frauen und Kinder infiziert waren, verbreiteten Angst.8 Um einer Panik entgegenzuwirken, verschickte die BZgA die Broschüre „AIDS – Was Sie über AIDS wissen sollten“ 1985 an sämtliche Haushalte der Bundesrepublik, mit einer eindringlichen Mahnung der Gesundheitsministerin: „Nutzen Sie diese Informationen. Und handeln Sie verantwortungsbewußt.“9 Süssmuths Appell an das „präventive Selbst“10 war angesichts der Tatsache, dass die Medizin der Bedrohung hilflos gegenüberstand, eine aus der Not geborene Reaktion. Allerdings traf sie den Nerv einer Zeit, in der die Gesundheitspolitik zunehmend auf Erziehung und Prävention zielte. Dass für die Politik Handlungsdruck bestand und eine verängstigte Republik zu beruhigen war, zeigte die Demoskopie: 60 Prozent der Westdeutschen zählten 1987 Aids zu den gefährlichsten Krankheiten, und 92 Prozent meinten gar, dass niemand vor dem Virus sicher sei.11
 

 

Titelblatt der Postwurfsendung von 1985
(Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung)

Trotz der Ängste setzte sich in der Bundesrepublik die liberale „gesellschaftliche Lernstrategie“ durch. Eine Koalitionsvereinbarung und ein Sofortprogramm12 flankierten das Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Ordnung, das Zwangsmaßnahmen auch deshalb eine Absage erteilte, weil die Meldepflicht, etwa bei infizierten Homosexuellen, an deren Verfolgung im „Dritten Reich“ erinnerte. Mit vielen Millionen DM unterstützte der Staat nun den Ausbau präventiver Maßnahmen, so auch die 1987 im Auftrag des Gesundheitsministeriums entwickelte Kampagne „GIB AIDS KEINE CHANCE“. Sie verfolgte drei Ziele: erstens die Verbreitung von HIV im Bundesgebiet durch Auf-klärung und den Hinweis auf Präventionsmöglichkeiten zu stoppen; zweitens das Verantwortungsbewusstsein der Bürger zu fördern; und drittens ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, das eine Stigmatisierung Infizierter verhindere.13 Die BZgA kooperierte mit nichtstaatlichen Stellen, etwa mit der 1983 von Aktivisten der Schwulenbewegung gegründeten „Deutschen AIDS-Hilfe e.V.“ (DAH). 1985 war auf Bundesebene die Entscheidung gefallen, der DAH die Aufklärung Homosexueller anzuvertrauen und ihre Arbeit staatlich zu fördern.14 Während die BZgA fortan eher die „breite Bevölkerung“ erreichte, entwarf und verteilte die DAH zielgruppenspezifisches Informationsmaterial.

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Seit 1987 konnten Bundesbürger auf BZgA-Plakaten und in TV-Spots den in schwarzen und roten Buchstaben auf weißem Untergrund geschriebenen Slogan „GIB AIDS KEINE CHANCE“ lesen. Bevor sich die Bezeichnung „AIDS“ etablierte, waren mit Blick auf Homosexuelle als „Hauptbetroffenengruppe“ negativ konnotierte Begriffe wie „GRID“ (Gay-related immune deficiency) oder „Schwulenkrebs“ zirkuliert.15 Erst 1982 bürgerte sich sukzessive das neutralere „Acquired immunodeficiency syndrome“ ein, das – wie bei Akronymen üblich – in Großbuchstaben mit Punkten abgekürzt wurde („A.I.D.S.“). Wenig später verschwanden die Punkte, und heute wird oft nur noch der Anfangsbuchstabe groß geschrieben. Aus dem Akronym ist ein eigenständiges Substantiv geworden („Aids“), dessen veränderte Schreibweise jene „Normalisierung“ der öffentlichen Bedrohungswahrnehmung spiegelt, die Mitte der 1990er-Jahre aufgrund wirksamer Therapien begann.16

Die forcierte Sensibilisierung der Öffentlichkeit für Präventionsmaßnahmen sollte nicht paternalistisch erfolgen, sondern auf Augenhöhe – so lässt sich zumindest der Imperativ Singular des Satzes deuten. Außerdem wurde der Aids-Bedrohung durch das Wort „Chance“ ihr schicksalhafter Charakter genommen. Ob man sich infiziere, hänge vom individuellen Verhalten ab. Dieses Konzept war anscheinend effektiv: 81 Prozent der Befragten fühlten sich laut Forsa 1988 gut informiert, jüngere Menschen verhielten sich bei sexuellen Kontakten zunehmend verantwortungsbewusster, die Akzeptanz von Kondomen war hoch, und Infizierte wurden nicht ausgegrenzt.17 „Die Aufklärungskampagne 1987“, so das Fazit der repräsentativen Erhebung, „hat die Bereitschaft verstärkt, im Alltag mit HIV-Positiven und AIDS-Kranken zusammenzuleben.“18
 

 

Ein Motiv der Anzeigenkampagne von 1987
(Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung)

Nichtsdestotrotz stießen die BZgA-Informationen anfangs auch auf Kritik. Katholische Theologen forderten, nicht Kondome zu propagieren, sondern eine Veränderung der „Lebensgewohnheiten“.19 Homosexuelle Männer empfanden die Maßnahmen der Kölner Bundesbehörde als einen Eingriff des Staats in ihre eigenständige schwule Identität.20 Die DAH monierte eine fehlende Unterscheidung bezüglich des Ansteckungsrisikos von „Hauptbetroffenengruppen“ und „Allgemeinbevölkerung“. Die „diffusen Informationen“ der Regierung würden ein gesellschaftliches Klima begünstigen, „in dem sich leicht falsche Schuldzuweisungen, Angst und Hysterie ausbreiten können“.21 Gleichwohl waren sich die Mitarbeiter der DAH und der BZgA einig, dass eine wirksame Aidsprävention nur über die fortgesetzte Aufklärung der Bevölkerung zu erreichen sei.22

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2. Von Köln nach Dresden: „GIB AIDS KEINE CHANCE“ in der DDR
 

 

Die Plakatkampagne der DDR – mit unverkennbarer Nähe zum Westen
(Deutsches Hygiene-Museum Dresden)

Der Slogan „GIB AIDS KEINE CHANCE“ wurde auch jenseits der Mauer rezipiert. In Dresden bereitete das 1987 zur zentralen Konsultationsstelle der Aids-Aufklärung avancierte Deutsche Hygiene-Museum (DHMD) entsprechende Materialien vor. Ende August 1988 entschied das DHMD kurzerhand, den Titel einer für Dezember geplanten Ausstellung noch einmal zu ändern. Auf Seite 1 des Storyboards strichen die Verantwortlichen die Überschrift „AIDS – ein Schatten auf unserer Welt“ und ersetzten sie durch den westdeutschen, weniger düster klingenden Satz „Gib AIDS keine Chance“.23 Lediglich die Groß-/Kleinschreibung unterschied die ostdeutsche Fassung geringfügig von der BZgA-Präventionsbotschaft.

Die Initiativen des DHMD waren frühen Warnrufen einiger DDR-Mediziner geschuldet. Seit Mitte des Jahrzehnts hatte die 1983 eingerichtete „AIDS-Beratergruppe“ die SED auf das Gefahrenpotential von HIV hingewiesen und einen politischen Kurswechsel herbeigeführt. Bis dahin wollte die Partei Aids gern als „kapitalistische Seuche“ darstellen bzw. gänzlich beschweigen und auf traditionelle Maßnahmen des Seuchenschutzes wie die namentliche Meldepflicht zurückgreifen. Zwar waren 1987 lediglich 70 Infizierte in der DDR bekannt (25 DDR-Bürger und 45 Gastarbeiter aus Afrika); die Experten rechneten jedoch mit einer schnellen Zunahme.24 Ein im Folgejahr erstellter „Maßnahmeplan“ hob auf die Aspekte medizinische Betreuung, Forschung und Aufklärung ab – vor allem durch das DHMD.25

Die nun konstituierte „AIDS-Gruppe“ des DHMD plante im Frühjahr 1988 eine Ausstellung, die am ersten Welt-AIDS-Tag, dem 1. Dezember 1988, eröffnet werden sollte.26 Dass sich die DDR in Sachen Aufklärung gegenüber anderen Staaten im Rückstand befand, war dem Direktor, Professor Peter Voß, bewusst: „Die AIDS-Aufklärung der Gesamtbevölkerung in der DDR ist unzureichend. Es gibt kein Material für Zielgruppen. Über die DDR-Massenmedien werden nur allgemeine Informationen verbreitet. Unsere Bürger informieren sich zum großen Teil über BRD-Medien […].“27 Eventuell war dies auch der Grund, weshalb man sich für die Übernahme des Slogans „GIB AIDS KEINE CHANCE“ entschied. Schließlich konnten die Ausstellungsplaner davon ausgehen, dass er Teilen der Bevölkerung schon bekannt war, was schnelle Präventionserfolge in Aussicht stellte. Zudem kam das Motto den Vorstellungen des Direktors von einer gelungenen Aids-Aufklärung entgegen. Diese sollte „alle verfügbaren Informationskanäle nutzen. Die zu vermittelnde Botschaft muß eindeutig, leichtverständlich und überzeugend sein.“

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Nach diversen Überarbeitungen nahm die Ausstellung im Oktober 1988 konkrete Gestalt an.28 Im DHMD sollten die Besucher über das Virus und seine Übertragungswege aufgeklärt sowie mit der Tatsache konfrontiert werden, dass Aids jeden treffen könne. Ein weiteres Augenmerk galt dem sozialen Umgang mit Infizierten.29 Die Mitarbeiter entwarfen über 20 Stationen, die mit Computern, interaktiven Leuchttafeln und einem HIV-3D-Modell ausgestattet waren. Am Titel „Gib AIDS keine Chance“ hielt das DHMD nun fest, obgleich aus dem Ministerium für Gesundheitswesen (MfGes) Kritik zu hören war: „Ein in den Massenmedien der BRD genutzter Slogan sollte sich nicht in unserer Öffentlichkeitsarbeit wiederfinden.“30 In Dresden wurde dieser Einwand jedoch ignoriert. Möglicherweise kam die Kritik zu spät – wenige Tage vor Ausstellungseröffnung –, möglicherweise wollte sich das Museum gegen derartige Einmischungen in seinen Kompetenzbereich verwahren. Dokumentiert ist jedenfalls, dass der Satz „Gib AIDS keine Chance“ in den letzten beiden Jahren der DDR noch mehrfach in Beratungen des DHMD fiel und sich auch auf einem seiner Merkblätter fand.31 Allerdings bemühte man sich zugleich um eigene tragfähige Slogans.32

Die am 1. Dezember 1988 eröffnete Ausstellung hielt für Besucher zahlreiche Botschaften bereit.33 Im Eingangsbereich wurden sie mit der Forderung des WHO-Generalsekretärs Hiroshi Nakajima konfrontiert, der die Weltbevölkerung aufrief, geschlossen gegen Aids vorzugehen und die Krankheit zu enttabuisieren; nur so habe der Kampf gegen das Virus Aussicht auf Erfolg. Die Ausstellungsmacher unterstrichen die Forderung der WHO mit den Worten, dass der tödliche Ausgang nach einer Infektion „noch“ nicht aufzuhalten sei. Eine weitere Botschaft zielte auf das Sexualleben der DDR-Bürger. Auf einem Plakat, das homo- und heterosexuelle Paare abbildete, war das Plädoyer zu lesen: „Sex und Erotik sind Ausdruck und Quelle für Lebenslust und Lebensfreude. Das soll trotz AIDS auch so bleiben. Gefragt sind nicht Angst voreinander, sondern Offenheit und Klarheit in allen Fragen, die mit Liebe, Partnerschaft und Sexualität zusammenhängen.“ Sexualität sollte trotz HIV gelebt werden, allerdings unter bestimmten Voraussetzungen: Als „sicherstes Rezept“ gegen eine Infektion propagierte die Ausstellung eine stabile Partnerschaft. An zweiter Stelle rangierten Präservative, an denen es in der DDR aufgrund von Produktionsschwierigkeiten jedoch mangelte.34
 

 

Auch in der DDR warf Aids viele Fragen auf – die Ausstellung des Deutschen Hygiene-Museums von 1988/89 versuchte sie zu beantworten (rechts im Bild Dr. Volkhard Netz, damaliger Leiter des Bereichs Ausstellungen und Veranstaltungen).
(Deutsches Hygiene-Museum Dresden)

 

Dia-Serie zur Aidsprävention
(Deutsches Hygiene-Museum Dresden)

Deutlicher noch als die Ausstellung transportierte ab 1989 die Dia-Serie „Gib AIDS keine Chance“ jenes Bekenntnis zu konservativen Werten, das auf eine Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen reagierte und vor allem der befürchteten Promiskuität entgegenwirken sollte.35 Im Begleitheft des DHMD hieß es: „Die Loslösung des Sexualverkehrs von einer den anderen Menschen in seiner Gesamtheit erfassenden Partnerschaft, die Auffassung vom ungebundenen, durch sich selbst gerechtfertigten Geschlechtsverkehr hat mit Liebe nichts mehr zu tun. Die Gefährdung beim Sexualverkehr mit häufig wechselnden Partnern liegt in erster Linie im Verlust an persönlicher Würde. [...] Die tatsächliche Vielfalt sexueller Erlebnismöglichkeiten kann sich jeder nur in einer stabilen Liebesgemeinschaft erschließen.“ In sich anbahnenden Partnerschaften sollte „Safer Sex“ praktiziert werden, was eine intensive Kommunikation voraussetze, die zu einer „tieferen Intimität“ führe. Erst dann sollten sich die Partner einander auch körperlich näher kommen. Als entsprechende „Techniken“ nannte die Dia-Serie: „Einmassieren von Körperlotionen“, „Streicheln mit weichen Pelzhandschuhen“ und „‚Reiten‘ auf dem Schenkel“. Von Kondomen war zunächst keine Rede. Ihre Verwendung thematisierte das Begleitheft allein im Zusammenhang mit „unvorhergesehenem“ Sex. Was diese Dia-Serie und die DHMD-Ausstellung verband (abgesehen von dem Versuch einer Disziplinierung von Partnerschaft und Liebesleben), waren die enttabuisierte Aufklärung über „riskante“ Sexualpraktiken und die Behauptung staatlicher Erfolge im Kampf gegen HIV: „Die DDR befindet sich bezüglich der AIDS-Krankheit in einer vergleichsweise günstigen Situation. […] Rechtzeitig, bevor die Infektion größere Ausmaße annehmen konnte, brachten die Massenmedien – Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen – Aufklärungsprogramme. […] Nachweisbar verlief die Ausbreitung der Infektion bisher relativ langsam.“36

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Als am 9. November 1989 die Mauer fiel, wuchs aufgrund des uneingeschränkten Reiseverkehrs in der DDR die Angst vor einer rasanten Ausbreitung des Virus. Diese Sorge ermöglichte es Vertretern ostdeutscher Aids-Selbsthilfegruppen, bei den zuständigen Stellen Gehör zu finden und Kritik an der bisherigen HIV-Prävention zu üben: Mitte November 1989 richtete die 1986 gegründete „Zentrale AIDS-Arbeitsgruppe“, der 20 Arbeitskreise Homosexueller angehörten,37 ein Schreiben an das Ministerium für Gesundheitswesen. Darin warf ihr Leiter, der Sozialwissenschaftler Rainer Herrn, dem Staat gravierende Versäumnisse im Bereich der zielgruppenspezifischen Informationen vor. Zugleich sprach er sich für die Gründung einer staatlich finanzierten „AIDS-Hilfe DDR“ aus.38 Die Regierung kam seinem Wunsch Anfang 1990 nach. Wenig später forderte die ostdeutsche AIDS-Hilfe eine kritische Auseinandersetzung mit traditionellen Wertvorstellungen und eine „Neuorientierung“ der „seelenlosen“ DDR-Aidspolitik.39 Allerdings befand sich diese nun bereits im Umbruch: Sowohl das Ministerium für Gesundheitswesen als auch die „AIDS-Beratergruppe“ drängten in Erwartung zahlreicher Neuinfektionen auf einen Dialog mit Aids-Selbsthilfeorganisationen, auf neue Flugblattkampagnen und eine Kooperation mit der BZgA.40

3. Fazit
 

Mit dem Ende der DDR als eigenständigem Staat endete im Oktober 1990 auch die deutsch-deutsche Geschichte des Slogans „GIB AIDS KEINE CHANCE“, die seitdem ihre gesamtdeutsche Fortsetzung findet. Die Präventionsbotschaft stand in den 1980er-Jahren für ein gesundheits- und gesellschaftspolitisches Programm: In „GIB AIDS KEINE CHANCE“ manifestierte sich der Jahrzehnte zuvor etablierte Gedanke des „präventiven Selbst“, der in beiden deutschen Staaten zentrale Bedeutung erlangte, als die HIV-Fallzahlen stiegen und die Hoffnung auf Impfungen in weite Ferne gerückt war. Das Motto zielte auf das Verantwortungsbewusstsein der Bevölkerung und sollte einen solidarischen Umgang mit Infizierten fördern. Bei aller Gemeinsamkeit legten die entsprechenden Informationsmaterialien indes unterschiedliche Ansichten der beiden Regierungen über Möglichkeiten und Grenzen staatlichen Handelns, aber auch über Sexualität offen. In der Bundesrepublik symbolisierte „GIB AIDS KEINE CHANCE“ den Sieg der liberalen „gesellschaftlichen Lernstrategie“ über restriktive Seuchenschutzpläne. Die DDR, die mit Beginn der Bedrohung die namentliche Meldepflicht reaktivierte, übernahm 1988 den Slogan für ihre Aids-Aufklärung, modifizierte die Schreibweise und verband die Kampagne mit den eigenen gesellschaftspolitischen Vorstellungen. Deutlicher als in der Bundesrepublik – die durch den Hinweis auf „Safer Sex“-Praktiken ebenfalls die Sexualität der Bürger beeinflussen wollte und der selbstverständlich auch an einer Stabilisierung der Gesellschaft lag – offenbarten sich in der ostdeutschen „Gib AIDS keine Chance“-Kampagne eine harsche Kritik bestimmter sexueller und sozialer Verhaltensformen und damit dezidierte Disziplinierungsabsichten.
 

 

Im Kampf um Aufmerksamkeit setzen die Gestalter inzwischen verstärkt auf humorvolle Formen – hier ein Beispiel der aus sechs Motiven bestehenden, in Zusammenarbeit mit Kommunikationsdesign-Studenten entwickelten „Gemüsekampagne“ von 2006.
(Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung)

Nach dem Ende der Zweistaatlichkeit wurde das in der „alten“ Bundesrepublik entwickelte Präventionsmodell auf die „neuen“ Bundesländer übertragen, was Gesundheitswissenschaftler allerdings aufgrund „ost-spezifischer Problemlagen“ kritisierten.41 Inzwischen, gut 20 Jahre später, hat sich die Situation wiederum verändert: Heute wird HIV nur noch von rund einem Zehntel als ernste gesundheitliche Bedrohung wahrgenommen.42 Im vereinigten Deutschland muss sich die BZgA folglich der Aufgabe stellen, das Bewusstsein um die Gefahr des Virus präsent zu halten. Zugleich sind die Erträge der jahrzehntelangen Arbeit spürbar: in den Bilanzen der Kondomindustrie, die jüngst einen Rekordumsatz vermeldete; vielleicht aber auch in der Tatsache, dass sich die Menschen in den „alten“ und „neuen“ Bundesländern meist ausnahmslos gegen eine Diskriminierung und Isolation von HIV-Infizierten wenden.

Die Publikation der verwendeten Bildmotive erfolgt mit freundlicher Genehmigung und Unterstützung der BZgA und des DHMD.

Anmerkungen: 

1 Vgl. BZgA (Hg.), AIDS im öffentlichen Bewusstsein der Bundesrepublik Deutschland 2011. Wissen, Einstellungen und Verhalten zum Schutz vor AIDS. Eine Wiederholungsbefragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Kurzbericht, Köln 2012, S. 9.

2 Sämtliche BZgA-Aidspräventionskampagnen tragen das Markenzeichen der Dachkampagne „GIB AIDS KEINE CHANCE“; deren Elemente werden jedoch von Zeit zu Zeit aktualisiert. So entwickelte die BZgA 1993 unter diesem Logo die „mach’s mit“- und 2009 die „Liebesorte“-Kampagnen. Siehe das chronologisch geordnete Material unter http://www.bzga.de/presse/pressemotive/hiv-aids-im-rueckblick/

3 Laut Auskunft der BZgA hat sich das so genannte Aids-Referat aus dem „Referat für Sexualerziehung und Familienplanung“ entwickelt. Im September 1987 wurde es umbenannt in „Referat Maßnahmen zur Aidsbekämpfung, Sexualerziehung und Familienplanung“.

4 Wolfgang Müller, „Gib AIDS keine Chance“. Die Aids-Präventions-Kampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), in: Susanne Roeßiger/Heidrun Merk (Hg.), Hauptsache gesund! Gesundheitsaufklärung zwischen Disziplinierung und Emanzipation. Eine Publikation des Deutschen Hygiene-Museums (Dresden) und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Köln), Marburg 1998, S. 93-102, hier S. 94.

5 Siehe Günter Frankenberg, AIDS-Bekämpfung im Rechtsstaat. Aufklärung, Zwang, Prävention, Baden-Baden 1988, S. 179-188.

6 Klaus Dietrich Bock u.a., Aids – Zusehen oder handeln?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.3.1987, S. 9.

7 Forsa-Umfrage: AIDS im öffentlichen Bewußtsein der Bundesrepublik. Ergebnisse einer bundesweiten Repräsentativbefragung im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Köln), Kurzfassung, Dortmund 1987, S. 12.

8 Siehe z.B. Aids: „Eine Epidemie, die erst beginnt“, in: Spiegel, 6.6.1983, S. 144-163, hier bes. S. 147 (Vergleich mit „Seuchen wie Pest und Cholera“).

9 BZgA (Hg.), AIDS – Was Sie über AIDS wissen sollten, Köln 1985, S. 1.

10 Dazu und zum Folgenden: Martin Lengwiler/Jeannette Madarász, Präventionsgeschichte als Kulturgeschichte der Gesundheitspolitik, in: dies. (Hg.), Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik, Bielefeld 2010, S. 11-28, hier S. 16, S. 21; Peter Franzkowiak (Hg.), Dokumente der Gesundheitsförderung. Internationale und nationale Dokumente und Grundlagentexte zur Entwicklung der Gesundheitsförderung im Wortlaut und mit Kommentierung, Mainz 1998, S. 150-153.

11 Forsa-Umfrage: AIDS im öffentlichen Bewußtsein (Anm. 7), S. 2, S. 6.

12 Siehe Frankenberg, AIDS-Bekämpfung (Anm. 5), S. 159-168.

13 Vgl. BZgA, AIDS im öffentlichen Bewusstsein (Anm. 1), S. 8.

14 Siehe Ute Canaris, Gesundheitspolitische Aspekte im Zusammenhang mit AIDS, in: Johannes Korporal/Hubert Malouschek (Hg.), Leben mit AIDS – mit AIDS leben, Hamburg 1987, S. 266-303, hier S. 273.

15 Vgl. Brigitte Weingart, Ansteckende Wörter. Repräsentationen von AIDS, Frankfurt a.M. 2002, S. 22.

16 Michael Bochow, AIDS-Prävention: Erfolgsgeschichte mit offenem Ausgang, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 60 (2010) H. 15-16, S. 41-46, hier S. 43f.

17 Vgl. Forsa-Umfrage, AIDS im öffentlichen Bewußtsein der Bundesrepublik. Eine Wiederholungsbefragung im Auftrag der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Köln), Endbericht, Dortmund 1988, S. 18, S. 41-44.

18 Ebd., S. 59.

19 Siehe Johannes Gründel, Aids. Herausforderung an unser Menschsein, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 38 (1988) H. 48, S. 29-38, hier S. 30ff.

20 Dies traf schon auf die Postwurf-Sendung von 1985 zu. Vgl. Matthias Frings, Waffen aus dem Sprachlabor, in: ders. (Hg.), Dimensionen einer Krankheit – AIDS, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 159-165, hier S. 164.

21 DAH-Memorandum „Leben mit AIDS“, Berlin 1987, Archiv Grünes Gedächtnis, Bestand Petra Kelly, Nr. 308.

22 Siehe Karl-Georg Cruse, Deutsche AIDS-Hilfe. Unsere Aufgaben und Ziele, in: Volkmar Sigusch (Hg.), Aids als Risiko. Über den gesellschaftlichen Umgang mit einer Krankheit, Hamburg 1987, S. 162-169, hier S. 169.

23 Rohgestaltungsbuch (2. Fassung), 31.8.1988, Hauptstaatsarchiv Dresden (im Folgenden: HStaA Dresden), Bestand 13658, Nr. Au 140.

24 Information über den Stand der Verhütung und Bekämpfung von AIDS in der DDR, Bundesarchiv Berlin (BAB), DQ 1/12727.

25 Maßnahmeplan des Ministeriums für Gesundheitswesen zur Verwirklichung des komplexen Programms zur Verhütung und Bekämpfung von AIDS in der DDR, 9.3.1988, BAB, DQ 1/12727.

26 Protokoll 1/88 vom 9.5.1988, Sitzung der AIDS-Gruppe des DHMD am 5.5.1988, HStaA Dresden, Bestand 13658, Nr. Au 293.

27 Dazu und zum Folgenden: Konzeption für die Arbeit des DHMD als zentrale Konsultationsstelle für die AIDS-Aufklärung in der DDR, 11.5.1988, HStaA Dresden, Bestand 13658, Nr. Au 293.

28 Gestaltungsbuch, Oktober 1988, HStaA Dresden, Bestand 13658, Nr. Au 140; dort auch frühere Entwürfe.

29 Zum Ziel der Ausstellung „AIDS“ im DHMD, o.D., HStaA Dresden, Bestand 13658, Nr. Au 140.

30 Hauptabteilung Hygiene und staatliche Hygieneinspektion des MfGes (Dr. Scheel) an Voß, 22.11.1988, BAB, DQ 1/12722.

31 Merkblatt Gesundheitstipps, BAB, DQ 1/12722.

32 So diskutierte im März 1989 der Ausstellungsleiter des DHMD neue Ideen („Wenn sich alle schützen, hat AIDS keine Chance“; „AIDS – das vermeidbare Risiko“), brachte allerdings auch wieder das BZgA-Motto in das Gespräch ein. Siehe Manuskript zum AIDS-Konsultationstag am 16.3.1989, HStaA Dresden, Bestand 13658, Nr. Au 293. Ferner war hinsichtlich des einzigen Anti-Aids-Films „Liebe ohne Angst“, der am Vorabend des Mauerfalls abgedreht wurde, zunächst vorgesehen, das eingängige Motto prominent zu platzieren. Im fertigen Film sucht man es dann jedoch vergebens; siehe Aufgabenstellung für einen Film zum Thema AIDS, o.O., o.D., HStaA Dresden, Bestand 13658, FVIII Nr. 17.

33 Zum Folgenden: Gestaltungsbuch (Anm. 28).

34 Bericht über eine Arbeitssitzung zwischen der VEB Plastina und der Sektion Ehe und Familie am 7.7.1987 in Rostock, BAB, DQ 1/12727.

35 Dazu und zum Folgenden siehe DHMD (Hg.), Gib AIDS keine Chance. Dia-Fundus, Berlin (Ost) 1989, S. 7, S. 22, S. 28f.

36 Ebd., S. 11f. Im DHMD ging man 1988 von 300 bis 350 Infizierten aus. Siehe Konzeption für die Arbeit des DHMD (Anm. 27).

37 Die Arbeitskreise konnten seit Anfang der 1980er-Jahre im Schatten der evangelischen Kirchengemeinden entstehen. Siehe Olaf Leser, Entwicklung von AIDS-Selbsthilfegruppen in der ehemaligen DDR, in: Deutsche AIDS-Hilfe (Hg.), 10 Jahre Deutsche AIDS-Hilfe. Geschichten und Geschichte, Berlin 1993, S. 33ff.

38 Schreiben an das MfGes, 15.11.1989, BAB, DQ 1/14506. Zur AIDS-Hilfe DDR, die im Dezember 1990 als „Referat Ost“ in der DAH aufging, siehe Rainer Herrn/Robert Kohler/Rolf Rosenbrock, Defizite der Aids-Prävention in Ostdeutschland, in: Rolf Rosenbrock/Doris Schaeffer (Hg.), Die Normalisierung von Aids. Politik – Prävention – Krankenversorgung, Berlin 2002, S. 89-110, hier S. 89.

39 Memorandum der AIDS-Hilfe DDR: „Aktuelle Erfordernisse im Umgang mit Aids“, BAB, DQ 1/13804.

40 Standpunkt zu AIDS und anderen Formen der HIV-Infektion (Dr. Scheel), 15.2.1990, BAB, DQ 1/13804; Ergebnisprotokoll der Beratung am 12.12.1989 der „AIDS-Beratergruppe“, 11.1.1990, BAB, DQ 1/26625.

41 Angeführt wurde, dass viele Homosexuelle sich noch immer auf einer „epidemiologischen Insel“ wähnten und vielfach auf Präservative verzichteten. Vgl. Herrn/Kohler/Rosenbrock, Defizite der Aids-Prävention in Ostdeutschland (Anm. 38), S. 91-95, S. 108.

42 Dazu und zum Folgenden BZgA, AIDS im öffentlichen Bewusstsein (Anm. 1), S. 9.

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