„Robustere Regierungsmethoden“

Richard Coudenhove-Kalergi und die Opportunität politischer Grundsätze

Anmerkungen



Richard N. Coudenhove-Kalergi, Pan-Europa, Wien/Leipzig: Pan-Europa-Verlag 1923; Neuauflage 1982.
Ders., Totaler Staat, totaler Mensch, Glarus: Paneuropa-Verlag 1937; Neuauflage unter dem Titel: Totaler Mensch, totaler Staat, Wien/München: Herold 1965.

 

Am 17. November 1922 erschien in der Wiener Tageszeitung „Neue Freie Presse“ ein „Vorschlag“, den man schon zwei Tage davor in der „Vossischen Zeitung“ hatte lesen können. Der Artikel stammte von Richard Coudenhove-Kalergi und bot eine pointierte Zusammenfassung seines wenig später erscheinenden Bandes „Pan-Europa“. Das Ziel des Autors: Europa solle sich zu einer politischen Einheit zusammenschließen.1

Der Ausgangspunkt war eine allgemeine Darstellung des globalen politischen Systems. Die Welt außerhalb Kontinentaleuropas sei in wenige Großregionen geteilt, die jeweils auch politisch homogene Blöcke darstellen würden: das „Britische Bundesreich“, die Sowjetunion (das „Russische Bundesreich“), Ostasien und „Pan-Amerika“. Die „Reiche des Ostens“ seien „Japan und China, die, politisch getrennt, verbunden werden durch die Gemeinschaft der Rasse, Schrift und Kultur“ (S. 23). „Pan-Amerika“ (beide Amerikas ohne die zum britischen Empire und zu Europa gehörenden Teile) entwickle sich „zu einem Völkerbunde, der aus Anglo-Amerikanern, Spaniern, Portugiesen, Indianern, Negern und Mischlingen besteht“ (S. 20). Ausgenommen von dieser Aufteilung der Welt seien nur die Türkei und – mit Fragezeichen – Abessinien und Thailand. In der außereuropäischen Welt sei „die synthetische Tendenz stärker […] als die analytische“ (ebd.). In Europa sei es leider umgekehrt. Österreich-Ungarn sei zerfallen, ebenso „Westrußland“ und die europäische Türkei; auch in Deutschland kündige sich ein Zerfall in Kleinstaaten an (S. 21).

Aus heutiger Sicht mag es erstaunen, dass Coudenhoves Pan-Europa-Betriebsamkeit ein gewisses (wenn auch begrenztes) Publikum erreichen konnte. Einige der Beobachtungen waren offenkundig falsch, wie jene von der angeblich bereits im Gang befindlichen politischen Einigung Amerikas. Auffällig ist die klischeehafte Sicht der außereuropäischen Welt, in der es bezogen auf Amerika nicht Argentinier und Brasilianer, Peruaner und Venezolaner, Chilenen, Kubaner und US-Amerikaner gebe, sondern bloß das, was von portugiesischen Seefahrern, spanischen Conquistadoren, versklavten „Negern“, tapferen Indianern und englischen Puritanern übriggeblieben sei. In Anbetracht des Umstands, dass Coudenhoves Mutter Japanerin war, wirkt sein ostasiatisches Einerlei noch merkwürdiger.

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Pan-Europa sollte nach Coudenhove ein politischer Zusammenschluss sein, der neben den angeblich vorhandenen vier anderen Blöcken bestehen könne. Pan-Europa sei Europa von der damaligen sowjetischen Grenze nach Westen, ohne Großbritannien, aber mit sämtlichen Kolonien der als zugehörig gedachten westeuropäischen Länder. Es sollte dementsprechend einen großen Teil Afrikas einschließen sowie Französisch-Indochina, Niederländisch-Ostindien und Niederländisch-Guayana. Der Autor erläutert der Reihe nach die Beziehungen zwischen Europa und den anderen Blöcken, zwischen Europa und dem Völkerbund sowie das interne Problem des Verhältnisses zwischen Deutschland und Frankreich.

Der Band ist für die spätere literarische Produktion Coudenhoves in mehrfacher Hinsicht typisch. Er liest sich wie ein überlanger Leserbrief eines sein Steckenpferd reitenden Schreibers, der seine (allerdings oberflächliche) Allgemeinbildung sichtbar machen will. Coudenhove argumentiert hier wie in anderen Schriften vorzugsweise mit historischen Analogien, vergleicht das Verhältnis Athen/Sparta oder Österreich/Preußen mit späteren Konstellationen oder schiebt Exkurse zur Weltgeschichte in einer Länge von drei Seiten ein. Der Tonfall ist teilweise messianisch: „Dieses Buch ist bestimmt, eine große politische Bewegung zu wecken, die in allen Völkern Europas schlummert.“ (S. VII)

Richard Coudenhove-Kalergi (1894–1972) war bei Beginn seiner Pan-Europa-Propaganda 28 Jahre alt, als Sohn eines adeligen polyglotten österreichisch-ungarischen Diplomaten und der Tochter eines japanischen Antiquitäten- und Ölhändlers in Tokio geboren, aufgewachsen in Böhmen und Wien. Der Vater war seit 1892 an der Botschaft in Tokio tätig gewesen, die auch für China, Korea und Siam zuständig war. Die Eltern heirateten 1893, nach der Geburt des ersten Sohns. Vor der Rückkehr nach Europa ließ sich die Mutter katholisch taufen und heiratete den Vater auch nach katholischem Ritus. In Europa studierte der Vater, der bereits Jurist war, noch Philosophie und dissertierte über Antisemitismus. Er starb bereits 1906.

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Dieser Hintergrund macht manches am weiteren Lebenslauf Richard Coudenhoves und am politischen Programm von Pan-Europa verständlich, manches aber auch umso verwunderlicher.2 Begreiflich wird die Bereitschaft Coudenhoves, sich über gewisse Konventionen hinwegzusetzen, notfalls auch gegen Widerstände aus der eigenen Familie. So heiratete er mit 20 Jahren die 14 Jahre ältere Schauspielerin Ida Roland, die geschieden war, bereits ein Kind hatte und deren Vater jüdisch war (letzteres dürfte allerdings in einer Familie, die den Antisemitismus ablehnte, das geringere Problem gewesen sein). Auffällig ist auch Coudenhoves Beitritt zu den Freimaurern im Jahr 1921. Die Freimaurerei war in der katholischen Kirche, der in Österreich die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung angehörte, Gegenstand vielfältiger paranoider Spekulationen; sie wurde des Satanismus und anderer schrecklicher Dinge bezichtigt. Freimaurer waren entsprechend den Bestimmungen des Codex Iuris Canonici exkommuniziert; sie durften das Patronatsrecht nicht ausüben, durften nicht kirchlich getraut oder bestattet werden, und es durften keine Seelenmessen für sie gelesen werden. Coudenhove blieb bis 1926 Freimaurer. Er trat aus, weil er seine Zugehörigkeit zur Freimaurerei und die publizistische Unterstützung durch sie, etwa in Form positiver Besprechungen in der Wiener Freimaurer-Zeitung, als hinderlich für die Breitenwirkung seiner Ideen empfand. Für das Verständnis seiner Schriften ist das freimaurerische Intermezzo durchaus relevant. Man muss nicht so weit gehen, die Pan-Europa-Ideen als unmittelbar freimaurerisch anzusehen, wie das bei manchen freimaurerischen Autoren zu lesen ist. Aber es ist keine Frage, dass Coudenhoves Vorstellungen unter Freimaurern positiv aufgenommen wurden.

Der Prominenteste unter ihnen war Aristide Briand, der 1927 Ehrenpräsident der Pan-Europa-Union geworden war – einer 1923 gegründeten und in einer Reihe von Ländern präsenten Organisation, die eine Zeitschrift herausgab und Kongresse veranstaltete. Betrieben wurde sie vor allem von Coudenhove selbst, der die Zeitschrift überwiegend allein schrieb und ununterbrochen als Lobbyist seiner Organisation tätig war. Das Ziel war die Rekrutierung bekannter Persönlichkeiten unterschiedlicher politischer Richtungen als Unterstützer und Aushängeschilder. Der Erfolg war begrenzt, aber immerhin konnte Coudenhove neben überwiegend konservativen Politikern wie dem österreichischen Bundeskanzler Ignaz Seipel, der jahrelang als Präsident der österreichischen Pan-Europa-Union fungierte, auch den Sozialdemokraten und früheren Staatskanzler Karl Renner kurzzeitig als Vizepräsidenten gewinnen. Bald allerdings engte sich das politische Spektrum, aus dem die Unterstützer und Aktivisten der Pan-Europa-Bewegung kamen, immer weiter ein, und die Bewegung verlor ihren internationalen Charakter. In den 1930er-Jahren bestand die Prominenz in der Pan-Europa-Bewegung so gut wie ausschließlich aus den Mitgliedern der österreichischen Bundesregierung. Diese Personen hatten de facto nur eine repräsentative Funktion und überließen die praktische Arbeit Coudenhove.

Es wäre ein Missverständnis, die Träger bekannter Namen, die sich auf Pan-Europa-Kongressen tummelten, und die in Ehrenlisten aufgeführten Personen für aktive und spontan begeisterte Unterstützer Coudenhoves zu halten. Coudenhove pflegte zu antichambrieren, bis er Zusagen erhielt. Aktive Politiker sagten in einer Art zerstreuter Gleichgültigkeit leicht für Repräsentationsaufgaben zu, jedenfalls dann, wenn damit für sie selbst keine weiteren Verpflichtungen verbunden waren (amtierende österreichische Minister der 1930er-Jahre, die Ehrenfunktionen bei Pan-Europa hatten, ließen sich nicht selten wegen wichtigerer Termine bei Coudenhoves Veranstaltungen entschuldigen). Unterbeschäftigte ehemalige Spitzenpolitiker hingegen ließen sich offensichtlich gern beachten; für sie war die Teilnahme an den Veranstaltungen auch eine Befriedigung ihrer Eitelkeit. Eine Massenorganisation wurde die Pan-Europa-Union nie.

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Coudenhove blieb neben diesen Tätigkeiten ein produktiver Autor, der jedes Jahr ein Buch veröffentlichte (und manchmal mehrere). Seine Schriften spiegeln die politischen Konjunkturen jener Jahre wider, die dem Gedanken einer friedlichen europäischen Einigung ebenso wenig zuträglich waren wie dem demokratischen Prinzip, auf dem diese Einigung ursprünglich beruhen sollte. Coudenhove arrangierte sich mit den herrschenden Bedingungen einerseits, indem er die führenden Vertreter der seit 1933 in Österreich herrschenden Diktatur – von den Bundeskanzlern Dollfuß und Schuschnigg abwärts – dankbar als Ehrenrepräsentanten der Pan-Europa-Union akzeptierte und sich mehrfach mit Erfolg um Termine bei Mussolini bemühte (allerdings ohne daraus weiteres Kapital schlagen zu können). Andererseits stimmte er seine politischen Schriften auch inhaltlich auf die neuen Verhältnisse ab.

Deutlich wird dies in dem Buch „Totaler Staat, totaler Mensch“, das Coudenhove 1937 veröffentlichte und 1965 in einer leicht veränderten Neuauflage herausbrachte. Dieser Band weist die erwähnten typischen Merkmale der Coudenhove’schen Arbeiten auf: Er bewegt sich stark im Bereich allgemeiner Beschreibungen und politischer Forderungen, ergeht sich in Resümees der Weltgeschichte und operiert mit unverstandenen Ideen aus diversen Wissens-gebieten. Typisch für Coudenhoves Auffassungen ist auch sein Kommentar zum südafrikanischen Apartheid-Regime. Er vertrat eine „neuaristokratische“ Auffassung, derzufolge politische Mitspracherechte von der erhaltenen Ausbildung abhängen sollten (1937, S. 448f.).3 Im Hinblick auf Südafrika mischte sich diese Überlegung mit seiner unbefangen-affirmativen Sicht auf „Rassen“ und angebliche Unterschiede zwischen diesen: „Solange die schwarze Bevölkerung dieses Landes kulturell weit hinter der weißen zurücksteht, ist sie [d.h. die weiße Bevölkerung] gezwungen, zwischen Demokratie und Zivilisation zu wählen. Sie hat sich für die Zivilisation entschieden. Dieses Resultat hätte sie aber wahrscheinlich auch erreichen können, wenn sie statt der Rassendiskriminierung das Wahlrecht von einem Minimum an Bildung abhängig gemacht hätte.“ (1965, S. 59)

 

Cover der Ausgaben von 1937 und 1965

Bezeichnend sind die geringen Unterschiede zwischen den Ausgaben von 1937 und 1965. Über längere Strecken und einige komplette Kapitel ist der Text identisch. Einige Beschreibungen der Nachkriegsentwicklung und Kommentare dazu fügte der Autor 1965 ein. Manches wurde erwartungsgemäß gestrichen, manches entgegen den Erwartungen nicht. Nicht gestrichen wurde zum Beispiel folgende Bemerkung über die 1933 errichtete Diktatur in Österreich: „Diese demokratisch eingestellte Nation und ihre fortschrittlichen Führer waren gezwungen, sich 1933 vom Parlamentarismus abzukehren, weil eine totalitäre Partei mit ausländischer Hilfe und ausländischen Mitteln einen großen Teil der öffentlichen Meinung erobert hatte und die Gefahr bestand, daß allgemeine Wahlen unter dem Einfluß dieser nationalsozialistischen Bewegung die österreichische Selbständigkeit und religiöse Freiheit vernichten würden.“ (1937, S. 113; 1965, S. 58) Diese Darstellung (die Diktatur sei nur zur Abwehr des Nationalsozialismus und nicht auch zur Abwehr der Sozialdemokratie errichtet worden) ist typisch für die Apologetik des „Ständestaats“. Die Passage findet sich in beiden Ausgaben des Buchs; 1937 konnte man aber noch mehr lesen: „Den Weg in diese Zukunft weist das Ständesystem, das zugleich den extremen Wirtschaftsliberalismus überwinden und die dirigierte Staatswirtschaft verhindern will. / Nachdem Mussolini der Wirtschaft diesen Weg gewiesen hat, versucht Österreich, ihn in demokratischem Geiste zu beschreiten: ohne Staatstotalität und Diktatur. Gelingt dieser Versuch, so kann er für die Menschheit von unermeßlicher Bedeutung sein.“ (S. 184, Hervorhebungen im Original)

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Auch im italienischen Faschismus meinte der Autor 1937 demokratische Züge entdecken zu können: „So entschloß sich Mussolini, die faszistische Parteidiktatur durch ein ganz neues System zu ergänzen: durch den korporativen Staatsaufbau. / Dieser korporative Staat bildet eine teilweise Rückkehr zur Demokratie und zum Wahlsystem. Nur gliedert sich die neue Kammer nicht nach ideologischen Gesichtspunkten – sondern nach wirtschaftlichen Berufsinteressen. Dadurch werden die nationalen Wirtschaftsfragen von einem Gremium von Sachverständigen bearbeitet, statt von Dilettanten oder Bürokraten: von Praktikern statt von Theoretikern.“ (S. 108, Hervorhebung im Original) Drei Jahrzehnte später erschien es offenbar selbst Coudenhove übertrieben, den österreichischen „Ständestaat“ und den italienischen Faschismus zu demokratischen Systemen zu erklären.

Die Akzeptanz solcher Regime bei Coudenhove lässt sich nicht bloß dadurch erklären, dass dessen Demokratiebegriff von den erwähnten neoaristokratischen Phantasien geprägt war. Vielmehr hielt er die Diktatur unter gewissen Bedingungen für notwendig: „Es ist ein weitverbreiteter demokratischer Irrglaube, daß jede Nation zu allen Zeiten frei ist in der Wahl zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Freiheit und Staatstotalität. […] Diese kindische Auffassung übersieht, daß es im Staatsleben Augenblicke gibt, in denen der subtile und komplizierte Staatsapparat der Demokratie einfach nicht mehr funktioniert und durch robustere Regierungsmethoden ersetzt werden muß.“ (S. 111, Hervorhebung im Original) Die Errichtung des faschistischen Systems in Italien erklärte Coudenhove skurrilerweise mit einer medizinischen Metapher – die Diktatur sei eine „Schutzimpfung“ gegen den Kommunismus: Ziel des Faschismus sei „ein starkes Italien, auf Grundlage des kapitalistischen Wirtschaftssystems und der abendländischen Kultur, frei von bolschewistischen Einflüssen und vom labilen Gleichgewicht eines durch den Klassenkampf vergifteten Parlamentarismus. / Zu diesem Zweck hat Mussolini, als er den italienischen Volkskörper durch die bolschewistische Infektion bedroht sah, diesen mit bolschewistischem Gift geimpft, um ihn gegen weitere Ansteckung zu immunisieren. Zum Schutze gegen den Bolschewismus übernahm er eine Reihe bolschewistischer Methoden in verringerten Dosen: Antiparlamentarismus, Antiliberalismus, Terror, Polizeiherrschaft, Einschränkung der persönlichen Freiheit, hemmungslose Propaganda, Verbot der Opposition und Kritik, Parteiherrschaft und Diktatur.“ (S. 106f., Hervorhebungen im Original)

Es ist schwer zu entscheiden, wie konkret Coudenhoves politische Vorstellungen tatsächlich waren. Die zitierten Erklärungen lesen sich zunächst wie eine mühsame Rechtfertigung der letzten Regierungen, von denen der Autor noch irgendeine Form der Unterstützung seiner Bewegung erwartete. An anderen Stellen ging er 1937 über die Sicht hinaus, die Diktatur sei aus praktischen Gründen notwendig geworden, und erklärte den autoritären Ständestaat zum eigentlichen Ziel. Die „autoritäre Regierung“ solle Vertretungskörperschaften einrichten und nach eigener Willkür besetzen: „Der Ständestaat ist heute noch kein Erfolg, sondern ein Experiment von grundsätzlicher Bedeutung für die ganze Welt. Denn er lebt noch ganz im Schatten und unter Vormundschaft der faszistischen Parteidiktatur. Darum ist es fraglich, ob und wie weit er das Erbe des demokratischen Parlamentes übernehmen kann. / Die Voraussetzung für das Funktionieren des Ständestaates ist eine starke und autoritäre Regierung, als Schiedsrichterin zwischen den Ständen; bei allen Interessenkollisionen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern, zwischen Industrie und Landwirtschaft. Sie vertritt immer und überall die Staatsinteressen gegenüber den ständischen und beruflichen Sonderinteressen. / Für die Gliederung der Ständekammer und die Aufteilung der Mandate gibt es keine objektiven Kriterien. Hier muß der autoritäre Staat eine willkürliche Entscheidung treffen und solange an dieser Entscheidung festhalten, bis sie zur Tradition wird.“ (S. 110, Hervorhebungen im Original)

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Am plausibelsten erscheint im Vergleich der vielen und zum Teil widersprüchlichen Vorschläge, die Coudenhove in seinen Schriften machte, dass er in wesentlichen Punkten gar keine konsistente Linie verfolgte. Fest steht lediglich, dass er die politische Einigung Europas anstrebte. Wie die politische Willensbildung in einem solchen Europa vor sich gehen sollte, war aber variabel: Demokratie, „Neoaristokratie“, autoritäre Regierung, faschistischer Staat – alles hielt Coudenhove für vertretbar, je nachdem, wann er schrieb und in welchem Biotop er sich gerade aufhielt.

 

Bonn, 29. April 1991: Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl erhält den Coudenhove-Kalergi-Preis. Die Pan-Europa-Union mit ihrem Präsidenten, dem Europa-Abgeordneten Otto Habsburg-Lothringen (1912–2011, im Bild zweiter von rechts), wollte sich damit vor allem selbst ins Gespräch bringen. Ähnlich wie schon in den 1930er-Jahren waren und sind solche Festakte auch eine Gelegenheit für ehemalige Spitzenpolitiker, noch einmal ins Rampenlicht zu treten – so hier der frühere französische Premierminister Raymond Barre (ganz rechts, sitzend). Die Ambivalenz eines Preises, der nach einem notorischen Opportunisten benannt ist, dürfte Helmut Kohl entgangen sein. Gleiches gilt für Angela Merkel, die den Preis im Januar 2011 erhielt (http://www.bundeskanzlerin.de/ContentArchiv/DE/Archiv17/Artikel/2011/01/2011-01-13-merkel-europapreis.html).
(Bundesarchiv, B 145 Bild-F087869-0024, Foto: Christian Stutterheim; Wikimedia Commons, Bundesarchiv B 145 Bild-F087869-0024, Bonn, Verleihung Coudenhove-Kalergi-Preis an Kohl, CC BY-SA 3.0 DE)

Insgesamt überwiegt der Eindruck eines beträchtlichen Opportunismus. Hinsichtlich der Rekrutierung von Ehrenfunktionären und schmückenden Figuren für Pan-Europa-Kongresse kann man dies als notwendige und nützliche Lösung für ein Erfordernis der Public Relations ansehen: Eine kleine, sektenartige Bewegung muss sich eben auffällig machen. Inhaltlich ging Coudenhoves Flexibilität jedoch weit über klugen Pragmatismus hinaus: Als Konstante findet man in seinen Schriften vor allem Ideen, die einem „Neoaristokratismus“ zuzuordnen sind. Der Anspruch eines demokratischen Programms blieb nur rhetorisch stabil und konnte je nach Lage Demokratie, autoritären Ständestaat oder Faschismus meinen.4 Dass diese Wandlungsvorgänge immer im politisch richtigen Moment abliefen und sich nach politischer Günstigkeit bestimmten, lässt den Schluss zu, dass die Pan-Europa-Betriebsamkeit vor allem Selbstzweck war.

Anmerkungen: 

1 R.[ichard] N.[ikolaus] Coudenhove-Kalergi, Paneuropa. Ein Vorschlag, in: Neue Freie Presse, 17.11.1922, S. 2f.

2 Ausführlich zu Coudenhove-Kalergis Leben und politischer Tätigkeit vor dem Zweiten Weltkrieg: Anita Ziegerhofer-Prettenthaler, Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren, Wien 2004. Einen knapperen biographischen Abriss bietet Vanessa Conze, Richard Coudenhove-Kalergi: Umstrittener Visionär Europas, Gleichen 2004.

3 Eingehend dazu Alexandra Gerstner, Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus, Darmstadt 2008.

4 In ähnlichem Sinn Conze, Coudenhove-Kalergi (Anm. 2), S. 48.

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