Die Internationale Geschichte verzeichnet gegenwärtig einen Boom – auch und besonders in der Zeitgeschichte. Hatte sich die zeithistorische Forschung in der Bundesrepublik seit ihren Anfängen, Hans Rothfels folgend, zwar „im internationalen Rahmen“ positioniert,1 so galt das vorrangige Interesse doch den großen Problemen der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert. Entsprechend standen die deutsche Politik im Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik sowie der Nationalsozialismus und seine Folgen lange Zeit im Fokus. Später traten die Fragen der Zweistaatlichkeit sowie, nach 1989/90, umfassende Forschungen zur DDR-Geschichte und zu den beiden deutschen Staaten im Europa des Kalten Kriegs hinzu. Auch die Geschichte Europas hat in der zeithistorischen Forschung seit langem viel Aufmerksamkeit gefunden;2 verglichen mit Osteuropa genoss „der Westen“ hier allerdings oft einen Vorrang.3
Diese asymmetrische und zugleich politisch bedingte Ausrichtung hat sich in jüngerer Zeit verändert. Rund 20 Jahre nach dem Mauerfall ist ein neues Interesse an den internationalen Ordnungen des 20. Jahrhunderts zu beobachten – in der deutschen Forschung und weit darüber hinaus. So rücken die Genese und die wechselvolle Entwicklung der Blockkonfrontation erneut auf die Agenda.4 Überdies wird dem Ende der europäischen Kolonialherrschaft eine wachsende Aufmerksamkeit zuteil.5 Dabei werden beide – der Ost-West-Konflikt und die Genese der postkolonialen Welt – gerade in ihrem komplexen Zusammenspiel von der heutigen Forschung (wieder) entdeckt. Insgesamt ist in den letzten Jahren in vieler Hinsicht eine spürbare historiographische Öffnung zu verzeichnen: Perspektiven der transnationalen Geschichte haben die Zeitgeschichte grundlegend verändert, globalhistorische Impulse rücken auf die Tagesordnung. Sich vorrangig oder gar ausschließlich durch Fragen leiten zu lassen, die auf den (eigenen) Nationalstaat begrenzt bleiben, scheint heutzutage in der zeithistorischen Forschung nicht mehr adäquat zu sein.
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Im Zuge der Erneuerung und des Perspektivwechsels stellen sich jedoch auch kritische Fragen. Handelt es sich bei der gegenwärtigen Konjunktur eigentlich um einen länger andauernden Trend? Oder wird der derzeitige Boom schlicht überschätzt? Gegenüber der neuen Internationalen Geschichte scheinen die klassische Diplomatiegeschichte sowie die Geschichte der internationalen Beziehungen „älteren Stils“ in den Hintergrund geraten zu sein. Obwohl viele Studien auf diesem Feld für solide historische Forschung gesorgt hatten, sehen viele sie heute als unzeitgemäß an. Was aber ist das eigentlich Neue an der „neuen“ Internationalen Geschichte? Wo liegt ihr Gewinn, und was sind die möglichen Kosten? Auffällig ist, dass sich (Zeit-)Historikerinnen und Historiker verschiedenster Provenienz, mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten und methodischen Vorlieben, der Internationalen Geschichte zuwenden: Die Geschichte Ost- und Westeuropas, die Friedens- und Konfliktforschung, die Geschlechtergeschichte, die Wirtschafts- und Sozial-, die Wissenschafts- und Umweltgeschichte, aber auch die Globalgeschichte tragen zum sich derzeit etablierenden Forschungsfeld bei, das nun weit über die klassische historische Außenpolitikforschung hinausreicht.
Die folgenden Debattenbeiträge greifen diese Beobachtungen auf: Sie fragen nach künftigen Forschungsfeldern, nach Gegenständen und Methoden sowie nach den impliziten und expliziten normativen Grundannahmen, die der Neuorientierung zugrunde liegen. Neben den Chancen, den Perspektiven und den Versprechungen sollten die Probleme und die Schwierigkeiten jedoch nicht verschwiegen werden. In ihren Beiträgen gehen Hubertus Büschel, Sandrine Kott, Celia Donert/Janou Glencross und Susanne Schattenberg dem hier skizzierten Interessenspektrum nach. Bei allen Unterschieden der Zugänge und der Gewichtungen unterstreichen sie, dass das Verhältnis von Zeitgeschichte und Internationaler Geschichte ein neues reflexives und politisches Potenzial gewonnen hat.
1 Hans Rothfels, Zeitgeschichte als Aufgabe, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1 (1953), S. 1-8, hier S. 7 (dortige Hervorhebung); sowie dazu Andreas Wirsching, „Epoche der Mitlebenden“ – Kritik der Epoche, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 8 (2011), S. 150-155.
2 Für eine neuere Bilanz vgl. Archiv für Sozialgeschichte 49 (2009): Gesellschaftsgeschichte Europas als europäische Zeitgeschichte.
3 Kritisch zu dieser Tendenz: Stefan Creuzberger u.a. (Hg.), Wohin steuert die Osteuropaforschung? Eine Diskussion, Köln 2000.
4 Vgl. die Arbeiten zur Geschichte des Kalten Kriegs am Hamburger Institut für Sozialforschung (http://www.his-online.de/forschung/cold-war/) sowie beispielhaft für neuere Veröffentlichungen zum KSZE-Prozess: Benjamin Gilde, Keine neutralen Vermittler. Die Gruppe der neutralen und nicht-paktgebundenen Staaten und das Belgrader KSZE-Folgetreffen 1977/78, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011), S. 413-444.
5 Für die Dekolonisationsforschung vgl. etwa Archiv für Sozialgeschichte 48 (2008): Dekolonisation: Prozesse und Verflechtungen 1945–1990.