Geschichte in der Versuchsanordnung

Die westdeutsche Sozialgeschichte diskutiert über „Theorien in der Praxis des Historikers“

Jürgen Kocka (Hg.), Theorien in der Praxis des Historikers. Forschungsbeispiele und ihre Diskussion, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1977 (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 3).
 

„Die Kosten, die beim ‚Transfer‘ theoretisch fundierter Geschichtswissenschaft zum lesenden Publikum durch Fachjargon und Abstraktion entstehen könnten, dürfen zwar nicht übersehen werden; umgekehrt sind die Nachteile traditioneller Geschichtsschreibung, z.B. in Schnabels ‚Deutscher Geschichte im neunzehnten Jahrhundert‘, so deutlich zu erkennen, daß ich bei einer Güterabwägung die Vorzüge einer explizit theoretisch argumentierenden Geschichtswissenschaft für größer als eventuelle Verständigungsschwierigkeiten halte.“ (Hans-Ulrich Wehler, Diskussionsbeitrag, S. 170). Neuerliche Lektüre steckt nicht selten voller Überraschungen. Das ist auch bei der Wiederannäherung an die „Theorien in der Praxis des Historikers“ der Fall. Als junger Bielefelder Student hatte ich den Sammelband von 1977 neugierig verschlungen, ehe, gegen Ende der Studienzeit, das Unbehagen an gewissen Grenzen des Bielefelder Theoriebegriffs gewachsen war und die Suche nach befriedigenderen konzeptionellen Entwürfen losging.

Seither standen die „Theorien in der Praxis des Historikers“ in meiner Wahrnehmung für ein frühes Dokument eines allzu instrumentalistischen und eklektizistischen Theorieverständnisses, hinter dem das normativ hoch aufgeladene Magnetfeld der Modernisierungstheorie und ein klirrender Strukturrealismus ihre straffe Hegemonie ausübten.Diese eher vage Erinnerung an den Band ist nach der neuerlichen Lektüre zumindest in Teilen revisionsbedürftig. Was diese Dokumentation einer Tagung, die im Sommer 1975 in Bielefeld stattfand, tatsächlich repräsentiert, ist ein aus heutiger Sicht und in Kenntnis der Nachgeschichte erstaunlich offener Selbstverständigungsversuch von Teilen der deutschen Historikerschaft in Sachen Theorie.

Der Eindruck von Offenheit stellt sich zunächst einmal dadurch ein, dass man die späteren Konfrontationen gegnerischer Theorieschulen, die, um ihre jeweiligen Zitierautoritäten als Banner geschart, wie gepanzerte Legionen aufeinanderprallten, hier vergebens sucht. Zwar atmet die Modernisierungstheorie durch alle Poren, aber sie ist 1975 noch nicht als verteidigenswertes und verteidigungsfähiges Gesamtkonzept der westdeutschen Sozialgeschichte in Stellung gegangen. Vielmehr sehen sich explizit modernisierungstheoretische Zugänge, wie von Horst Matzerath und Heinrich Volkmann am heiklen Beispiel des Nationalsozialismus vorexerziert, skeptischen Überprüfungen ausgesetzt - wie alle anderen begrifflichen Experimente des Bandes auch. Diese Offenheit kommt um den Preis einer weitgehenden Ausblendung marxistischer Ansätze zustande, jedenfalls in der Form einer plakativen Kontroverse in der Atmosphäre des Kalten Krieges. Wie der Herausgeber Jürgen Kocka mitteilt, hatte man die einschlägigen DDR-Historiker eingeladen; diese hätten es aber vorgezogen, nicht in Bielefeld zu erscheinen. In Abwesenheit des teilstaatlich institutionalisierten Marxismus-Leninismus blitzt so nur hier und dort ein wenig Marxsche Theorie auf.

Den Eindruck von Offenheit vermittelt auch die editorische Vorentscheidung, die Diskussionen der Tagung durch Abdruck der - freilich von ihren Urhebern redigierten - mündlichen Beiträge zu dokumentieren. Auch bei diesen Diskussionsverläufen fehlen die später so prägenden Spannungen, Konfliktlinien und Frontverläufe bzw. deuten sich dem Kenner der Historiographiegeschichte auch bei aufmerksamem Lesen nur mancherorts unterschwellig an. So spielt auch Kocka als Herausgeber einen bemerkenswert zurückgenommenen Part. In einem kurzen Eingangsstatement hat er der damaligen Tagung nur sehr grobe Vorgaben gemacht. Er definiert den Begriff der „Theorien“ in der breitestmöglichen Weise als „explizite und konsistente Begriffs- und Kategoriensysteme, die der Identifikation, Erschließung und Erklärung von bestimmten zu untersuchenden Gegenständen dienen sollen und sich nicht hinreichend aus den Quellen ergeben, nicht aus diesen abgeleitet werden können“ (S. 10). Hieraus begründet er den Plural im Begriff der „Theorien“: Da Kategorien die Vergangenheit immer nur partiell und perspektivisch erfassen könnten, sei ein Pluralismus konkurrierender Theorieangebote zuzulassen, solange diese die Grenzen eines wie auch immer zu bestimmenden „Spielraums“ nicht überschritten. Die Aufgabe, Kriterien für solche Grenzziehungen zu formulieren und an exemplarischen Gegenstandsbereichen zu überprüfen, gab er der Tagung als Aufgabe mit auf den Weg.

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Aus dieser Versuchsanordnung entwickelt Kocka schließlich einige Leitfragen, die die Ergebnisse der einzelnen Experimente wiederum auf eine metatheoretische Reflexionsebene zurückführen sollen: Er fragt nach etwaigen prinzipiellen Unterschieden zwischen sozialwissenschaftlichen und geschichts-wissenschaftlichen Theorien, mit einer auffälligen Skepsis gegenüber dem unbekümmerten „Ausborgen“ theoretischer Versatzstücke aus dem Lager der systematischen Nachbarwissenschaften. Weiter gibt er mögliche Nachteile einer expliziten Theorieorientierung der Geschichtswissenschaft zu bedenken, vor allem für die Vermittlung ihrer Ergebnisse an ein breiteres Publikum. Schließlich wirft er eine Frage auf, die in der weiteren Geschichte der Sozialgeschichte rasch und weit in den Hintergrund getreten ist, nämlich inwieweit auch Theorieentwicklung zu den Aufgaben und Ergebnissen geschichtswissenschaftlicher Forschung zu zählen sei (S. 12).

Die fünf auf der Tagung verhandelten Beiträge widmen sich ausgesprochen disparaten Themen, so dass der Leser den Eindruck gewinnt, man habe bewusst möglichst auseinanderliegende Felder gewählt, um eine heterogene Grundgesamtheit für den Versuchsablauf zu bilden. Diesen Eindruck verstärkt die spürbare Abwesenheit von Forschungsgebieten, die damals aktuell und umstritten waren. Weder von der Angestelltenschaft oder der Arbeitergeschichte noch vom Imperialismus oder dem „Sonderweg“ ist die Rede - auch das ein Zeichen für die prononcierte Zurückhaltung der beiden Tagungsveranstalter Kocka und Wehler zugunsten einer offenen, nicht von vornherein polarisierten Diskussionsatmosphäre. Daraus ergibt sich ein vergleichsweise großer Anteil an Beiträgen über die „Vormoderne“ - neben Winfried Schulzes Referat über „theoretische Probleme bei der Untersuchung vorrevolutionärer Gesellschaften“ noch Michael Mitterauers Erörterung, ob und inwieweit sozialwissenschaftliche Stratifikationsmodelle auf mittelalterliche „Gesellschaftssysteme“ anzuwenden seien.

Dass die Themenauswahl ein mehr oder weniger explizites Interesse spiegelt, die Brisanz aktueller Debatten bei der Tagung außen vor zu lassen, lässt sich auch im Fall von Horst Matzeraths und Heinrich Volkmanns Versuch über das Verhältnis von „Modernisierungstheorie und Nationalsozialismus“ bestätigen. Dieser Beitrag enthält eine außerordentlich nüchterne Indikatorenanalyse, die allenfalls zeigt, dass sich die Bewertung der Befunde als „modern“ oder „antimodernistisch“ aus den Ausprägungen der Variablen und den Kurvenverläufen eben nicht umstandslos ergibt, sondern offensichtlich von anderen, zumal normativen Kriterien abhängt. Die harte Kritik an diesem Beitrag ist auch eher technisch und formal angelegt. Aus dieser Diskussion lässt sich die moralische Polarisierung gegenüber den „Revisionisten“ im „Historikerstreit“ zehn Jahre später auch nicht im Ansatz erahnen.

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Ein extrem heterogenes Theorieverständnis und eine stark unterschiedliche Umgangsweise mit den zumeist aus den systematischen Nachbarwissenschaften entlehnten Konzeptionen zeichnen die fünf Tagungsreferate aus. Michael Mitterauer nutzt die Stratifikationssemantik eher zu begriffsgeschichtlichen Explorationen; Winfried Schulze problematisiert die Angemessenheit marxistischer Ansätze; die Modernisierungstheorie wird bei Horst Matzerath und Heinrich Volkmann auf ein bloßes Bündel grober Indikatoren heruntergebrochen; Peter Hüttenberger will den Begriff „Widerstand“ (schon damals wenig überzeugend) spieltheoretisch fundieren, und Knut Borchardt sucht mit dem „Property Rights“-Ansatz den Wiederanschluss der Wirtschaftsgeschichte an die ökonomische Theorieentwicklung.

Diese vermutlich gewollte Heterogenität trägt nun nicht dazu bei, den Status und die Rolle von „Theorien“ in der Geschichtswissenschaft übergreifend zu klären. Kockas anvisierte Rückführung der Befunde auf die Ebene der Metareflexion gelingt der Diskussionsrunde nicht; allein sein resümierendes Nachwort schlägt einige Schneisen, die aber weit über die Tagungsdebatte hinausführen. Was sich auf den Seiten des Bandes vielmehr dokumentiert, sind in allererster Linie empirische Einwände der jeweiligen Spezialisten gegen die in den Referaten vorgetragenen theoretischen Operationen. Ein wirkliches Denken in theoretischen Kategorien hat sich unter den anwesenden Historikern noch nicht eingestellt. Die empirischen Monita kommen freilich in den meisten Diskussionsbeiträgen nicht in einem faktenhuberischen, sondern in einem theoretischen Idiom daher, das sich unwillkürlich an der analytischen Wissenschaftstheorie orientiert. So stark sind naturwissenschaftliche Vorstellungen in diese erste theoriebezogene Selbstverständigung unter Historikern eingesickert, dass Heinrich August Winkler Hans-Ulrich Wehler unterstellen kann, er wolle - geradezu in der Manier der Teilchenphysik - „die Wirklichkeit mit Theorien gewissermaßen [...] beschießen“ (S. 169).

Überhaupt: die Wirklichkeit. So sehr die Überlegungen der Teilnehmenden in Sachen Theorie im Ungefähren und Abstrakten schweben, so klar und unerschütterlich erscheint umgekehrt noch die Auffassung von der „historischen Realität“, die den Maßstab für die Beurteilung jedes nomologischen Satzes abgebe. Reinhart Koselleck, obwohl anwesend, schweigt über diesen unbekümmerten Rest-Realismus, und auch Karl Achams Enthaltung - jedenfalls soweit Beteiligung im Text dokumentiert ist - liefert ein deutliches Indiz, dass bereits damals empirische Geschichtswissenschaft und analytische Geschichtsphilosophie endgültig getrennte Wege gingen. In diesem Zusammenhang erscheint Helmut Berdings (in einem für die Druckfassung nachgelieferten Beitrag abgelegtes) Plädoyer für eine stärkere Integration einer neuen „Historik“ Rüsenscher Prägung in die geschichtswissenschaftliche Praxis - im Sinne einer ständigen metatheoretischen Begleitreflexion - geradezu blauäugig.

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Denn schon Jörn Rüsens Interventionen auf der Konferenz deuten an, dass sowohl sein Verständnis von Theorie als auch sein Interesse an der Theoriearbeit sich nicht vollständig mit dem anderer Teilnehmer deckten. Rüsens Beharren auf der narrativen Gestalt jeder Geschichte - wobei man Erzählung nicht mit einer „bloßen Ereignisgeschichte“ verwechseln dürfe -, sein Einfordern ihrer Orientierung an vergangenem „menschlichen Handeln und Leiden“ und sein Ideal einer erneuerten Aufklärung in Gestalt einer Steigerung des geschichtswissenschaftlichen „Vernunftpotentials“ (S. 170ff.) nehmen seine Bestrebungen vorweg, Geschichtstheorie als eine umfassende Theorie der Geschichte, eben als post-historistische „Historik“ zu fassen. Demgegenüber scheint in vielen anderen Beiträgen ein sehr pragmatisches Interesse an den geeigneten Auslesekriterien verschiedener Theorien für die Forschungspraxis durch, das bald darauf zum nahezu vollständigen Verzicht auf theoretische Metareflexion führte. Daraus ist die relative Isolation der Rüsenschen Theorieschule in der Disziplin heute erklärlich, aber auch die vorübergehende Schreckstarre der empirisch arbeitenden Zunft, als der „linguistic turn“ in den 1990er-Jahren als ungebetener Gast an die Tür klopfte.

Die „Theorien in der Praxis des Historikers“ haben in der Folgezeit keine vertiefte Rezeption und Diskussion der dort vertretenen Ansätze ausgelöst. Das deutete sich in der Tagungsdebatte schon an, die von der eigentümlichen habituellen Neigung auch theorieaufgeschlossener Historiker kündete, zwar immer nach griffigen Konzepten und Modellen zu rufen, die konkreten Theorieangebote aber stets in der empirischen Differenzierung zu zerreden. Da die Grundhaltung der beteiligten Historiker und Sozialwissenschaftler gegenüber der Rolle von Theorien in der Geschichtswissenschaft einheitlich positiv war, geriet der Band auch in der danach einsetzenden Debatte über das Verhältnis von Theorie und Geschichte aus dem Blick, deren Polarisierungen eher die sechs Sammelbände über die „Theorie der Geschichte“ (erschienen zwischen 1977 und 1990) dokumentieren. So hielt vor allem der gut zitierfähige Titel den Band im Gespräch, der einen pragmatischen Theoriegebrauch in der empirischen historischen Arbeit zu rechtfertigen schien, dem sich Historiker auch ohne ausgreifende theoretische Hintergrundreflexion meinten verschreiben zu können. Gerade wegen seiner Zeitgebundenheit hat der Band für eine noch zu entwerfende Theoriegeschichte der westdeutschen Geschichtswissenschaft seinen Wert - als eine Art Laborbericht führender Sozialhistoriker über Experimente auf dem Gebiet der Theorie.

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