Kuren, Rüsten, Urlaube

Freizeiten behinderter Menschen und ihrer Familien in Ost- und Westdeutschland

  1. Pflegehierarchien im Müttergenesungswerk
    in der frühen Bundesrepublik
  2. Westdeutsche Kurexpansion im sozialstaatlichen Rückbau
    seit den 1970er-Jahren
  3. Die Dominanz kirchlicher Müttererholungskuren
    in den ersten zwei Nachkriegsjahrzehnten der DDR
  4. Der Ausbau des staatlichen Angebots in der DDR
    seit den 1960er-Jahren
  5. Die Spezialisierung der kirchlichen Erholungsfreizeiten
    für Familien mit behinderten Angehörigen in der DDR
  6. Fazit

Anmerkungen

Anlässlich des zweijährigen Bestehens der »Aktion Sorgenkind« stellte Bundes­familienminister Bruno Heck (CDU) 1966 klar, wer die Sorgearbeit für behinderte Minderjährige in der Regel leiste: »Den Eltern, vor allem aber den Müttern dieser Kinder, ist eine große Last aufgegeben.«1 Auch im sozialistischen Teil Deutschlands blieb die Sorge für behinderte Kinder – ebenso wie für erwachsene Behinderte, alte, kranke oder allgemeiner: unterstützungsbedürftige Menschen – weiblich codiert, aller frauenemanzipatorischen Staatsrhetorik zum Trotz.2 Doch obwohl die Pflege dieser Kinder meist eine erhebliche Belastung darstellte, richteten sich die in der DDR wie in der Bundesrepublik schon früh etablierten Infrastrukturen zur Müttererholung bis in die 1960er-Jahre hinein nicht spezifisch an deren Mütter. Erst später gewannen zielgerichtete Maßnahmen für sie und ihre Kinder zunehmend an Bedeutung und wurden auf beiden Seiten der Grenze zum Ausdruck eines neuen, unterstützenderen Umgangs mit behinderten Menschen und ihren Angehörigen.3 Diesem Wandel spürt der vorliegende Beitrag nach.

Gefragt wird nicht nur, wie sich der Kreis der meist weiblichen AdressatInnen für Urlaubs-, Kur- und Erholungsmöglichkeiten in Ost- und Westdeutschland veränderte, sondern auch, wie sich deren Organisation und Alltag entwickelte. Im Mittelpunkt stehen Kurangebote und Freizeiten zum einen für die Mütter behinderter Heranwachsender, zum anderen aber auch für behinderte Heranwachsende und ihre Familienmitglieder gemeinsam. Die Bezeichnungen für diese Angebote variierten: Die Rede war sowohl von »Müttererholungskuren« als auch von »Familienfreizeiten«, »kirchlichen Rüst(zeit)en« oder auch schlicht »Urlaub«. Diese (begriffliche) Vielfalt liegt zum einen darin begründet, dass die Kuren und Freizeiten mal durch kirchliche, mal durch staatliche Träger ermöglicht wurden, zum anderen darin, dass sich die Angebots­palette im Zeitverlauf erweiterte. Unsere These lautet, dass der Angebotsausbau in Ost und West zeitlich weitgehend parallel verlief, allerdings auf unterschiedliche Initiativen und systemspezifische Anlässe zurückging. Der Text basiert auf vielfältigen Quellen, vorrangig aber auf Verwaltungsmaterial der kurtragenden Organisationen und deren Schriftverkehr mit Kurteilnehmerinnen. Zunächst wird die Entwicklung in der Bundesrepublik vorgestellt, danach wird sie mit jener in der DDR kontrastiert. Abschließend werden die Ergebnisse in den größeren Rahmen der deutsch-deutschen Disability History und Care History eingebettet.

1. Pflegehierarchien im Müttergenesungswerk
in der frühen Bundesrepublik

Angesichts der vielfältigen Umbrüche der Nachkriegszeit erkannten westdeutsche kirchliche und politische Akteure in der Entlastung von Müttern einen Weg zur gesellschaftlichen Stabilisierung.4 Über die Regeneration weiblicher Sorgekräfte sollte die Funktionsfähigkeit der Kernfamilie sichergestellt werden, die zeitgenössisch als Basis der Gesellschaft galt. Zu einem Kristallisationspunkt dieser Anstrengungen avancierte das Deutsche Müttergenesungswerk (MGW), ein auf Initiative der Bundespräsidentengattin Elly Heuss-Knapp 1950 gegründeter Zusammenschluss von 42 Erholungsstätten der großen Wohlfahrtsverbände. Die am MGW beteiligten katholischen Träger sahen nach dem Zweiten Weltkrieg in der »Bastion«5 Familie eine zentrale Institution, über die die angestrebte Rechristianisierung der Gesellschaft erreicht werden sollte. Die »Müttergenesung« bildete in diesem Zusammenhang ein Element innerhalb eines weiten Angebotsfächers katholischer Familienseelsorge.6 Aber auch in der evangelischen Diakonie galt die Mütterfürsorge als ein Mittel, um die kernfamiliären und damit auch die gesellschaftlichen Verhältnisse zu stabilisieren. Der Evangelische Mütterdienst stellte »[e]ine einfache Rechnung« auf: »Je mehr Mütter froh und getrost werden, desto mehr Familien haben eine Heimat, desto mehr Frieden und Ordnung wird unser Land haben.«7

Das MGW sollte dezidiert der kriegsfolgenbedingten weiblichen Überlastung bei der Care-Arbeit begegnen. Die spendenfinanzierte und staatlich bezuschusste Einrichtung war damit auch eine Reaktion auf eine größere Verbreitung von Behinderung in der westdeutschen Gesellschaft, die familiäre Strukturen zu gefährden schien: 1,5 Millionen Kriegsversehrte wurden in der Regel häuslich versorgt und von weiblichen Familienmitgliedern gepflegt.8 Während versehrte Ehemänner durch Umschulungen und weitere berufliche Rehabilitationsprogramme ihre angestammte Ernährer-Rolle wieder einnehmen sollten, sollten sich ihre Ehefrauen durch Kuren erholen können, besonders jene, die infolge einer Erwerbsunfähigkeit des Mannes die »Doppelbelastung« von Erwerbs- und Sorgearbeit zu tragen hatten.9 Staatliche Unterstützung erhielten Familien mit kriegsversehrten Männern auch durch Kommunalbehörden, die um das Konfliktpotential in diesen Haushalten wussten.10 Örtliche Fürsorgestellen standen in den 1950er-Jahren möglichen Zuschüssen für die Kurfinanzierung durchaus offen gegenüber, insbesondere bei Frauen, deren versehrte Ehemänner sich tatsächlich umschulen ließen oder in eine Rehabilitation gingen.11

So gehörten Ehefrauen kriegsbeschädigter Männer zu den ersten Gruppen, für die das MGW im Verlauf der 1950er-Jahre Sonderkuren einrichtete.12 Demgegenüber standen Mütter, die sich um behinderte Kinder kümmerten, nicht im Fokus der Behörden oder des MGW. Anders als bei (körper-)behinderten Ehepartnern galt es in der frühen Bundesrepublik als legitim, behinderte Kinder aus Rücksicht auf mütterliche Sorgekräfte in stationären Einrichtungen unterzubringen, die allerdings bei weitem nicht überall zur Verfügung standen. Voraussetzung für eine Kur war (und ist) eine ärztlich dokumentierte Indikation. Wenngleich in den ersten Nachkriegsjahrzehnten jährlich bis zu 90.000 Frauen Kuren in Anspruch nahmen,13 unter ihnen sehr wahrscheinlich auch Mütter behinderter Kinder, war deren Regeneration zunächst kein herausgehobenes staatliches Ziel, da sich hier mit der Kinderbetreuung in Heimen ein anderer Weg der Entlastung anbot.

Dies änderte sich allerdings in den 1960er-Jahren, als das MGW begann, Sonderkuren für Mütter behinderter Kinder anzubieten. Die Hinwendung zu dieser Zielgruppe erklärt sich über den Wandel der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Im Verlauf der 1950er-Jahre traten die direkten Kriegsfolgen langsam in den Hintergrund, was das MGW unter Legitimationsdruck setzte: Je weniger kriegsversehrte Männer im Zentrum des öffentlichen Interesses standen, desto mehr gerieten auch deren sorgende Ehefrauen aus dem Blickfeld. Dem MGW kam seine bisherige Klientel abhanden, und so ging die Einrichtung auf neue Gruppen zu, die für das Angebot der Sonderkuren in Frage kamen. Dazu zählten bereits 1960 gehörlose Frauen, aber auch Ehefrauen von Männern, deren Behinderung nicht kriegsbedingt war. Hinzu kamen weitere »bestimmte Gruppen«,14 darunter wohl auch Angehörige behinderter Heranwachsender.

Dass Angebote für Mütter behinderter Kinder in den 1960er-Jahren zu Vorzeigekuren avancierten, hing mit zwei weiteren Entwicklungen zusammen. Einerseits formierten sich einem bürgerlichen Familienideal verschriebene Interessenverbände der Eltern von Kindern mit spezifischen Behinderungsformen. Ihr bekanntester war und ist die 1958 gegründete »Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind«.15 Andererseits erzeugte der Conterganskandal in den frühen 1960er-Jahren schlagartig eine moralisch aufgeladene mediale Aufmerksamkeit für behinderte Kinder und ihre Angehörigen.16 Die als Reaktion auf den Skandal 1964 gegründete »Aktion Sorgenkind« erinnerte FernsehzuschauerInnen und Lotterie-TeilnehmerInnen immer wieder an die besonders schwierige Lage der betroffenen Eltern.17 Dabei ist zu beachten, dass gerade Müttern nach dem Conterganskandal eine neue Rolle zukam. Unter dem Schlagwort der »Frühförderung« sollten sie ihre Kinder nicht mehr nur körperlich pflegen, sondern unter der Anleitung von Fachleuten auch mittherapieren.

In den 1960er-Jahren avancierten Sammlungen für Mütter behinderter Kinder zu einem festen Element des bundesdeutschen Spendenmarktes. Ähnlich wie in den Fernsehsendungen der »Aktion Sorgenkind« waren bei der abgebildeten Gala im Kieler Schloss, einem Wohltätigkeitsball des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) vom Oktober 1967, aber keine Betroffenen zugegen. (Stadtarchiv Kiel, Fotoarchiv, 2.3 Bildnachlass Friedrich Magnussen [1914–1987], Signatur 77.989, Foto: Friedrich Magnussen, CC BY-SA 3.0 DE)
In den 1960er-Jahren avancierten Sammlungen für Mütter behinderter Kinder zu einem festen Element des bundesdeutschen Spendenmarktes. Ähnlich wie in den Fernsehsendungen der »Aktion Sorgenkind« waren bei der abgebildeten Gala im Kieler Schloss, einem Wohltätigkeitsball des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) vom Oktober 1967, aber keine Betroffenen zugegen.
(Stadtarchiv Kiel, Fotoarchiv, 2.3 Bildnachlass Friedrich Magnussen [1914–1987], Signatur 77.989, Foto: Friedrich Magnussen, CC BY-SA 3.0 DE)

Im Fahrwasser dieser Aufmerksamkeitskonjunktur und unterstützt durch die Lobbyarbeit der Elternverbände etablierte sich im Verlauf der 1960er-Jahre eine verzweigte Kurinfrastruktur. Bereits 1963/64 gehörten Sonderkuren für Mütter körperlich behinderter Menschen zum festen MGW-Repertoire18 und wurden rasch auch von konfessionellen Frauenwerken angeboten.19 Sukzessive wurde das Angebot um Kuren für Mütter geistig behinderter Kinder erweitert. Die Initiative kam »von unten«: Eltern geistig behinderter Kinder drängten ihre Lebenshilfe-Ortsverbände dazu, sich für entsprechende Kurprogramme stark zu machen.20 Die Freizeiten boten den Müttern etwas, was sie im Alltag vermissten: Neben der reinen Erholung erhofften sie sich Austausch mit anderen Frauen, die ähnliche Herausforderungen meistern mussten. So freute sich eine Schleswig-Holsteinerin 1965 auf die baldige Kur: »Möchte mit meinem Buben mal unter gleichen Kindern sein, mal die Probleme anderer Muttis höhren [sic] […].«21

Bei der Durchführung der Sonderkuren zeigten sich jedoch rasch organisatorische Probleme. Mütterkuren waren traditionell darauf angelegt, die Mütter räumlich von ihren Angehörigen zu trennen. Sie konnten also ihre behinderten Kinder meist nicht mitnehmen. Frauenverbände vermittelten den Familien für die Kurdauer, sofern die mütterliche Sorgeleistung nicht von anderen, in aller Regel weiblichen Familienmitgliedern übernommen werden konnte, eine kirchliche Fürsorgerin oder aber eine Freiwillige aus der Nachbarschaft. Diese Möglichkeit war bei geistig behinderten Kindern allerdings kaum gegeben, da solche Helferinnen meist weder eine heilpädagogische Ausbildung absolviert hatten noch eine tagelange permanente Versorgung übernehmen konnten.22

Während erste Sonderkuren in den 1960er-Jahren noch auf einer Trennung von Müttern und Kindern bestanden hatten, erwies sich rasch, dass dieses Vorgehen Kurteilnahmen tendenziell eher verhinderte als ermöglichte. Die überlieferten Zu- und Absagen zu einer 1965 in Timmendorfer Strand durchgeführten Kur für Mütter geistig behinderter Kinder, einer der ersten ihrer Art, belegen dies exemplarisch. Unter den Absagen dominierten Verweise auf nicht delegierbare Sorgeaufgaben gegenüber anderen Familienmitgliedern. Entweder wollten die Frauen ihren Schwestern, Schwägerinnen oder ihren eigenen Müttern die Pflege des behinderten Kindes oder aber die Versorgung anderer Familienmitglieder nicht zumuten, oder sie hatten schlicht keine Angehörigen, die diese Aufgaben hätten übernehmen können. Aber auch die eigentlich nicht vorgesehene Mitnahme des behinderten Kindes zur Kur konnte das Grundproblem des Ausfalls mütterlicher Sorgeleistung in der Familie nicht immer lösen. So zeigt es der Fall der Ehefrau eines Schleswiger Schlachtermeisters. Diese konnte ihren behinderten Sohn zwar mit an die Ostsee bringen, die Versorgung der restlichen Familie überforderte jedoch die Großmutter: »Die Großmutter kann wohl die 3 Männer versorgen, der 10 Jährige kommt ja mit, sie kann aber nicht mehr die Kleinen betreuen, dazu ist sie zu alt, 81 J[ahre].«23

Neben den organisatorischen Hürden in den Familien bestanden auch Hindernisse vor Ort. Kurheime waren in der Regel für Menschen mit körperlichen Einschränkungen kaum oder gar nicht zugänglich. Zudem gab es in Kurbädern und in deren Nähe nur selten Heime oder Tagesstätten für behinderte Menschen, in denen die Kinder für die Kurdauer hätten aufgenommen werden können. Dies lag nicht zuletzt daran, dass touristisch geprägte Kommunen in vielen Fällen annahmen, die Präsenz behinderter Menschen könnte dem Fremdenverkehr schaden.24

2. Westdeutsche Kurexpansion im sozialstaatlichen Rückbau
seit den 1970er-Jahren

Als Hilda Heinemann 1969 durch die Wahl ihres Gatten zum Bundespräsidenten Schirmherrin des MGW wurde, legte sie ihr Hauptaugenmerk auf die Lebenslagen behinderter Menschen und ihrer Angehörigen. Für diese avancierte sie zur wohl einflussreichsten staatlichen Ansprechpartnerin. Dementsprechend nahm sie auch den von den Betroffenen geäußerten Wunsch nach gemeinsamen Sonderkuren von Müttern und Kindern auf und förderte die Einrichtung entsprechend ausgestatteter Heime. In ihrer Muttertagsrede am 5. Mai 1971, die aus dem ersten DRK-Sonderkurheim für Mütter behinderter Kinder in Nöthen (Bad Münstereifel) übertragen wurde, betonte sie: »Sonderkuren für Mütter behinderter Kinder stehen nach wie vor an erster Stelle. Fast täglich bekomme ich Briefe von Müttern oder deren Ehemännern, die erschütternd sind und so gar nicht in das Bild unserer gepriesenen Leistungsgesellschaft passen.«25 In den Folgejahren wurden dann mehrere solcher Einrichtungen des DRK in St. Ingbert, in Mardorf sowie in Kirchberg/Jagst eröffnet; zudem wurden weitere Spezialkuren für Mütter von Kindern mit anders gelagerten Behinderungen eingeführt.26

Im Gegensatz zum DRK eröffneten die katholischen Kuranbieter zunächst aber keine Mutter-Kind-Sonderkliniken, sondern setzten weiterhin auf die Trennung von Müttern und Kindern während der Kur.27 Man hielt daran fest, dass die Kuren der religiös konnotierten inneren Einkehr dienen sollten. Dieser Ansatz wurde von den Kurteilnehmerinnen allerdings kaum angenommen. Wie bereits bei Kuren evangelischer Träger zeigte sich, dass die Mütter es kaum ertragen konnten, mit ihren teils in über 50 Kilometer entfernten Heimen untergebrachten Kindern wochenlang keinen Kontakt zu haben.28 Auch die katholische Caritas gestattete daher Mitte der 1970er-Jahre Postkarten- und Telefonverkehr zwischen Müttern und Kindern und richtete später ebenfalls Mutter-Kind-Kuren ein.29 Solche Kuren für Mütter und ihre behinderten Kinder waren dabei Vorreiter, denn der Trend zu gemeinsamen Kuren erfasste ab den späten 1970er-Jahren immer stärker das gesamte Kurangebot des MGW: 1972 boten lediglich 2 von 150 Häusern gemeinsame Mutter-Kind-Kuren an, 1985 schon 34 von 118 Einrichtungen. 2010 führten nur noch 7 der 84 MGW-Häuser alleinige Kuren für Mütter durch.30

Die Tendenz zu Kuren, bei denen die Mütter ihre behinderten Kinder mitnehmen konnten, erklärt sich vor dem Hintergrund eines allgemeinen Wandels im familiären Umgang mit behinderten Kindern: Seit den ausgehenden 1960er-Jahren wurden Heimunterbringungen zunehmend diskreditiert, sei es auch nur für einen Aufenthalt von wenigen Wochen während einer Kur. Immer mehr Medienberichte erschienen, die skandalöse Zustände in Einrichtungen anprangerten, und die wachsende Behindertenbewegung sowie die Antipsychiatrie-Initiativen wandten sich vehement gegen die Separation behinderter Menschen.31 Als Folge der Kritik wurden solche Heime auch weniger frequentiert, was wiederum deren Finanzierung erschwerte.32

Betrachtet man die therapeutische Ausrichtung der Kuren, so lässt sich ebenfalls ein Wandel feststellen. Während in den 1950er-Jahren der Fokus darauf gelegen hatte, die Mütter zu regenerieren, indem man ihnen Schlaf, Essen und gemeinschaftliche Freizeitbetätigungen bot, führte die Tendenz zur Mitnahme der Kinder zu einer Umorientierung: Nun rückte deren Frühförderung auch ins Zentrum der Freizeiten. Heilmedizinische ExpertInnen gingen zunehmend davon aus, dass unterstützende Übungen im Elternhaus den Therapieerfolg maximieren könnten.33 Mütter sollten daher mehrfach täglich mit ihren behinderten Kindern zum Beispiel Gymnastikübungen oder Sprachtrainings durchführen. Während der mehrwöchigen Kuren wurden die Mütter in teils hochspezialisierten Haustherapien instruiert. Nicht mehr nur die Erholung, sondern auch die Fortbildung der Mütter stand im Mittelpunkt. Die ExpertInnen, die für die neue Rolle der Mutter als Ko-Therapeutin votierten, positionierten sich auch gegen mütterliche Erwerbstätigkeit.34 In diesem Sinne verstärkte die Frühförderung der behinderten Kinder eine tradierte innerfamiliäre Aufgabenteilung, die in der Mehrheitsgesellschaft zumindest diskursiv ins Wanken geraten war.

Sosehr die ExpertInnen und auch zahlreiche Mütter selbst, die erstmals am therapeutischen Erfolg teilhaben konnten, den Instruktionscharakter der Kuren begrüßten, sosehr setzte er die Kurträger unter Druck. Eine Caritas-Mitarbeiterin klagte 1972: »Die Sonderkuren für Mütter mit behinderten Kindern sind für uns eine erhebliche finanzielle und arbeitsmäßige Belastung.«35 Für alle Anbieter wurden Sonderkuren in den folgenden Zeiten knapperer öffentlicher Zuschüsse zum Problem, unter anderem weil heilpädagogisch ausgebildetes Personal angestellt werden musste, was eine deutliche Kostensteigerung nach sich zog.36

Nachdem die Kriegsbelastungen überwunden waren, musste das Müttergenesungswerk seine Legitimität neu herausstellen und adressierte breitere Gruppen von Frauen. (Kommunalarchiv Herford, S-50-187 II)
Nachdem die Kriegsbelastungen überwunden waren, musste das Müttergenesungswerk seine Legitimität neu herausstellen und adressierte breitere Gruppen von Frauen.
(Kommunalarchiv Herford, S-50-187 II)

Die hohen Kosten waren nur eine der Herausforderungen, vor denen die Träger von Mütterkuren seit den 1970er-Jahren standen: Angesichts sich liberalisierender Geschlechterdiskurse, steigender Frauenerwerbstätigkeit und der Anerkennung von Alleinerziehenden37 wirkten solche Kuren zunehmend wie aus der Zeit gefallen. Trotz der Aufmerksamkeitskonjunktur für behinderte Menschen und ihre Angehörigen galt das MGW zu Beginn der 1970er-Jahre als altbackenes Förderinstrument für »Nur-Hausfrauen«.38 Zudem erschien die Inanspruchnahme einer Kur weiterhin als Zeichen von Bedürftigkeit – ein Stigma, das viele potentiell Interessierte abschreckte.39 Hinzu kam, dass beim MGW »nach dem Boom« immer wieder Einsparungen vorgenommen werden sollten. So wollte etwa das sozialdemokratische Familienministerium ab Mitte der 1970er-Jahre die Zuschüsse zum MGW kürzen und besonders bei den kostenintensiven, mittlerweile 85 jährlichen Sonderkuren für Mütter behinderter Kinder sparen, wogegen konservative KommentatorInnen aber lautstark und letztlich erfolgreich protestierten.40 Insgesamt wurden Mütterkuren gerade während der konservativ-liberalen Koalition der 1980er-Jahre gestärkt – im Kontrast zur sonstigen Rhetorik der staatlichen Haushaltskonsolidierung. 1989 wurde sogar erstmals ein verbindlicher Rechtsanspruch auf Mütterkuren als Krankenkassen-Regelleistung festgelegt.41

Während in der Bundesrepublik zu beobachten war, dass sich nicht nur die Ziele der Mütterkuren und der Alltag für die betroffenen Mütter und ihre Kinder änderten, so lassen sich ähnliche Prozesse auch in der DDR feststellen. Allerdings war die Zusammensetzung der an den Mütterkuren und Freizeiten beteiligten Akteursgruppen dort eine andere.

3. Die Dominanz kirchlicher Müttererholungskuren
in den ersten zwei Nachkriegsjahrzehnten der DDR

In Ostdeutschland herrschten für behinderte – oder im zeitgenössischen Sprachgebrauch: »geschädigte« – Menschen und ihre Angehörigen andere Rahmenbedingungen als in der Bundesrepublik: Nicht nur das Kur-, sondern auch das Urlaubsangebot war weitgehend staatlich organisiert.42 Der FDGB-Feriendienst und die FDGB-Ferienheime, betriebseigene Urlaubseinrichtungen, staatliche Campingplätze, der VEB »Reisebüro der DDR« und das Jugendreisebüro der FDJ verdrängten private Anbieter nahezu vollständig. Seit 1956 gab es auch Erholungskuren, sodass sich schon wenige Jahre nach dem Krieg wieder ein System von Kurheimen und Sanatorien entwickelte. Die Mehrheit der sorgenden Familienangehörigen und der Menschen mit Behinderungen, die eine Erholung oder Kur in Anspruch nehmen wollten, waren in diesem Rahmen auf die Zuteilung von Ferienplätzen angewiesen. Staatliche Kuren dienten allerdings vor allem der Regeneration der Werktätigen und richteten sich nur selten an Menschen, die aufgrund einer Behinderung oder wegen ihres Alters nicht (mehr) arbeiten konnten. Mütter waren ebenfalls keine Gruppe, für die man spezielle Institutionen der Erholung schuf. Den spezifischen Erholungsbedürfnissen der Familien mit behinderten Angehörigen nahmen sich staatliche Institutionen bzw. die Einrichtungen der Massenorganisationen lange Zeit ebenso wenig an. Vielmehr überließ der Staat einige rehabilitative Aufgabenbereiche, die er nicht als zentral erachtete, zunächst kirchlichen Trägern. Angesichts des geringen katholischen Bevölkerungsanteils in Ostdeutschland waren dies vor allem die evangelische Innere Mission, später Diakonie, und die Evangelische Frauenhilfe.43

Die kirchliche Frauenarbeit unterhielt schon wenige Jahre nach dem Krieg eine bedeutende Zahl an Einrichtungen, die auch für die Müttererholung genutzt werden konnten. Um die Notwendigkeit einer Mütterkur, einer Erholungsfreizeit oder einer Rüstzeit – die Nomenklatur wechselte häufig – im individuellen Fall zu eruieren, holten kirchliche Stellen Informationen über jene Frauen ein, die sich um eine Kur oder Freizeit beworben hatten oder die gezielt angesprochen worden waren. In diakonischen Erfassungsbögen, welche meist von PfarrerInnen und anderen GemeindemitarbeiterInnen ausgefüllt wurden, waren die Kriterien einer Erholungsbedürftigkeit klar ersichtlich: Gefragt wurde nach dem Gesundheitszustand der Mutter – Krankheiten, aber auch Geh- und Sinnesbehinderungen wurden immer wieder angeführt44 – sowie nach der Kinderzahl und den Familienverhältnissen. Hier war der Alkoholismus von Ehemännern ein häufig festgehaltener Aspekt, aber auch zerrüttete Ehen oder Scheidungen wurden oft erwähnt. Annotiert wurde in diesen Fällen nicht selten, ob die Mütter an einen Schwangerschaftsabbruch dachten, was die kirchlichen MitarbeiterInnen dann unter anderem über die Vergabe von Erholungskurplätzen zu verhindern suchten.45 Dass in den Bewertungsbögen zugleich die Beziehung zur Kirche und der Glaube eine wesentliche Rolle spielten, zeigt, dass die Kuren auch dazu genutzt werden sollten, kirchenferne Frauen wieder an den Glauben heranzuführen.46

Im Fokus kirchlicher Bemühungen standen insbesondere Frauen, die behinderte, kranke und/oder alte Familienmitglieder pflegten. Die Sorgearbeit gegenüber behinderten Angehörigen wurde wiederholt als Grund genannt, warum für bestimmte Frauen eine Kur angeraten erschien.47 Speziell behinderte Kinder stellten in den Augen der GutachterInnen eine hohe Belastung dar. So hieß es 1969 in einem der Bögen: »Frau K. hatte 1964 Drillinge, davon ist eins hirngeschädigt und eins starb im Mai d.J. an einer Herzoperation. Frau K. kommt schwer über diesen Verlust hinweg, noch dazu, weil das hirngesch. Kind am Leben blieb.«48 Im Kontrast zur Bundesrepublik wurde eine Kriegsverletzung des Ehemannes hingegen nur selten als Kurgrund angegeben, da in der DDR die sogenannten Kriegsgeschädigten generell keine Sonderrolle einnehmen durften.

In den 1950er- und frühen 1960er-Jahren ging man wie in der Bundesrepublik selbstverständlich davon aus, dass die Kinder während der Kurzeit der Mutter entweder von Familienangehörigen gepflegt oder in Heimen, teilweise auch in Krankenhäusern untergebracht werden mussten.49 Behinderte Kinder galten als besondere Belastung, von der sich Mütter zumindest einmal für wenige Wochen befreien sollten. Doch wie in der Bundesrepublik wollten Mütter ihre Kinder meist nicht Verwandten, kirchlichen Heimen oder staatlichen Krankenhäusern überlassen, sodass in den 1960er-Jahren einige Einrichtungen dazu übergingen, hin und wieder neben Kleinstkindern auch behinderte Kinder mitfahren zu lassen.50 Die Aktivitäten in den Müttererholungsheimen waren den genannten Zielen angepasst: Zuallererst ging es wie in Westdeutschland darum, die Mütter zu stärken und ihnen neue Kraft für die Reproduktionsarbeit zu vermitteln. Essen, Schlafen, Spaziergänge und Ausflüge, gemeinsames Singen und Geselligkeit waren die Mittel der Wahl. Eine zentrale Rolle spielten die gemeinsame Lektüre religiöser Texte, Andachten und der gemeinsame Gottesdienstbesuch.

Doch waren die konfessionellen Einrichtungen schon seit den späten 1950er-Jahren zunehmend gefährdet, da die staatliche Sozialversicherung die Mütterkuren seit 1958 nicht mehr bezuschusste.51 In der Folge sank die Nachfrage, da die Teilnehmerinnen nun oft selbst zahlen mussten und kirchliche Beihilfen nur in Härtefällen gewährt wurden. Einige Einrichtungen orientierten sich daher neu und boten nur noch religiös ausgerichtete Rüstzeiten an oder entwickelten sich zu kirchlichen Aus- und Fortbildungsstätten. Andere Einrichtungen veränderten hingegen ihr Erholungsangebot und erweiterten den Kreis der Angesprochenen über die Mütter hinaus.

4. Der Ausbau des staatlichen Angebots in der DDR
seit den 1960er-Jahren

Die staatlichen Maßnahmen zur Rehabilitation behinderter Menschen wurden in der DDR allmählich erweitert.52 Dabei standen zunächst Instrumente der beruflichen Eingliederung und Qualifizierung im Zentrum, während Freizeiten für behinderte Menschen nur wenig Aufmerksamkeit fanden. Dies betraf auch behinderte Kinder und Jugendliche, die nur selten an den staatlich organisierten Ferienfreizeiten etwa der FDJ teilnehmen konnten. Eine Anweisung des Ministers für Gesundheitswesen, Ferienlager für behinderte Schüler aufzubauen, deutete Ende 1967 aber einen Politikwandel an.53 Daraus resultierte unter anderem die 1968 erfolgte Öffnung eines Ferienlagers auch für körperlich behinderte Kinder in Pepelow (westlich von Rostock).54 Als Begründung wurden Gerechtigkeits- und Bewährungsargumente genannt: »Abgesehen davon, daß geschädigte Kinder das gleiche Recht als [sic] gesunde Kinder haben, sind diese Lager sehr geeignet, das Selbstbewußtsein des jungen Menschen zu stärken, und die Vorbereitung, sich trotz der Behinderung im Leben zu behaupten, zu unterstützen.«55 Außerdem sollten auch behinderte Heranwachsende in jene »staatsbürgerliche und […] patriotische Erziehung«56 einbezogen werden, die Nichtbehinderten generell in den Ferienlagern zuteilwurde. Dementsprechend wurden die Freizeiten durch Mitarbeit im Lagerrat, »Auswertungen der Tagespresse«, Appelle, Heimatabende, Liederabende, sportliche Betätigungen wie Schwimmen und Medizinballspiele sowie Feste bestimmt. Das Programm unterschied sich – abgesehen von den täglichen krankengymnastischen Übungseinheiten – nicht von Ferienlagern ohne körperbehinderte Kinder. Auch die Infrastruktur entsprach dem Üblichen, was beispielsweise bedeutete, dass die sanitären Anlagen nicht für Körperbehinderte ausgelegt waren und der sandige Boden in Pepelow RollstuhlfahrerInnen erhebliche Probleme bereitete.

Erst der Regierungswechsel von Ulbricht zu Honecker führte zu einer generell stärkeren Aufmerksamkeit für Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen in der DDR. Beispielsweise hieß es in einer Verordnung von 1976, in der rehabilitative Maßnahmen erstmals prominent auf die staatliche Agenda gesetzt wurden: »Es ist Anliegen des sozialistischen Staates, den schwerst- und schwergeschädigten Bürgern sowie ihren Familien eine immer bessere Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen und ihnen besondere Fürsorge zuteil werden zu lassen.«57 Dazu gehörte der Anspruch, auch den Menschen mit Behinderungen »das Recht auf Bildung, Arbeit, Erholung und gesundheitliche Betreuung« zu garantieren.58 Der Ministerrat der DDR hatte die Räte der Bezirke schon 1973 dazu aufgefordert, den »Auf- und Ausbau von Ferienobjekten für geschädigte Kinder und Jugendliche« voranzutreiben.59 Einige Pilotprojekte etwa für Querschnittsgelähmte seien zwar erfolgversprechend angelaufen, für Kinder mit anderen Behinderungen wie zum Beispiel spastischen Lähmungen oder geistigen Beeinträchtigungen gebe es hingegen weiterhin kaum Urlaubsmöglichkeiten.60 Außerdem sei die rehabilitative Betreuung in den Ferienlagern unzureichend. Die Bezirke sollten daher in den betriebseigenen Einrichtungen und in den Ferienlagern von FDJ und FDGB Möglichkeiten für den Aufenthalt behinderter Kinder und Jugendlicher schaffen.61 Und tatsächlich wurden daraufhin seit Mitte der 1970er-Jahre zunehmend Ferienlager für Kinder mit spezifischen Beeinträchtigungen eingerichtet, etwa für sogenannte geistig Schwerstgeschädigte oder für junge Menschen mit Diabetes oder Hämophilie.62 Dabei entstand eine Arbeitsteilung zwischen den Bezirken, wenn etwa in Berlin Ferienlager für schwerhörige, in Dresden für erblindete und im Bezirk Rostock für geistig behinderte Kinder angeboten wurden.63

Die mit den Ferienlagern verbundenen Ziele waren an die jeweilige Klientel angepasst. So hieß es 1975 in Bezug auf »Ferienlager für schulbildungsunfähige förderungsfähige Kinder und Jugendliche«, in ihnen solle »die Bewährung der Kinder in einer großen sozialen Gruppierung mit den daraus resultierenden verschiedenartigen inter- und intrapsychischen Anpassungsmechanismen« trainiert werden.64 Zum Teil ähnliche Ziele verfolgten die Verantwortlichen mit jenen Ferienlagern, an denen sowohl nichtbehinderte als auch behinderte Kinder und Jugendliche teilnahmen: »Selbstbewußtsein zu stärken, Selbständigkeit zu entwickeln und die Liebe zur Heimat zu festigen. Die gemeinsam mit gesunden Kindern verlebten Ferientage fördern die Integration und das gegenseitige Verstehen.«65 Der Ausbau der Ferienangebote für behinderte Kinder und Jugendliche ging also mit deren Einbeziehung in staatliche Erziehungsmaßnahmen einher.

Einen besonderen Schub erhielt der Ausbau des Ferienlagerangebots durch das UNO-Jahr der Behinderten 1981. Das 1976 beschlossene Jahr sollte weltweit die Aufmerksamkeit auf die Problemlagen behinderter Menschen lenken.66 Während es in der Bundesrepublik eher symbolischen Charakter besaß und von der westdeutschen Behindertenbewegung als paternalistisch kritisiert wurde, setzte der internationale Charakter des Jahres die DDR-Führung unter Zugzwang. Um ihrem eigenen Anspruch als Vorreiterin solidarischer Förderung behinderter Menschen gerecht zu werden, musste die DDR auch im Freizeitbereich bestehende Maßnahmen intensivieren.67 Aus Anlass des »Internationalen Jahres der Geschädigten«, wie das UNO-Jahr in sozialistischen Ländern bezeichnet wurde, veranstaltete beispielsweise das DDR-DRK 1981 erstmals ein eigenes Ferienlager für körperbehinderte Jugendliche in der Nähe von Karl-Marx-Stadt.

Ferienlager für körperbehinderte Kinder bei Karl-Marx-Stadt anlässlich des UN-Jahres für behinderte Menschen 1981. Der linke Aufsteller zeigt das Logo des UN-Jahres. (Foto: Raimund Schliebs, URL: http://drk-ddr.de/page.php?v=1040800; mit freundlicher Genehmigung)
Ferienlager für körperbehinderte Kinder bei Karl-Marx-Stadt anlässlich des UN-Jahres für behinderte Menschen 1981. Der linke Aufsteller zeigt das Logo des UN-Jahres.
(Foto: Raimund Schliebs, URL: <http://drk-ddr.de/page.php?v=1040800>;
mit freundlicher Genehmigung)

Bis zum Ende der DDR folgten jährliche Ferienlager für Körperbehinderte, die als Prestigeprojekte der Reha-Politik ihren Weg in die »Aktuelle Kamera« fanden.68 Allerdings setzten die Bedingungen vor Ort dem Ansinnen, möglichst allen Betroffenen Aufenthalte in den Ferienlagern zu ermöglichen, immer wieder Grenzen. So betonte ein Schreiben der Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen des Rats des Bezirkes Potsdam an die Kreisärzte 1978, dass inkontinente Kinder zurückgesandt werden müssten.69 Ebenso wenig wollte man aggressive Kinder aufnehmen. Zudem mussten die Kinder und Jugendlichen in der Lage sein, sich selber zu waschen und eigenständig zu essen. Dies exkludierte gerade jene Kinder und Jugendlichen, deren Pflege die Eltern besonders in Anspruch nahm. Doch auch generell lag in den späten 1980er-Jahren das Angebot an Ferienlagerplätzen noch immer weit unter dem Bedarf.

Neben den Ferienlagern, die für Kinder und Jugendliche mit spezifischen Behinderungen seit den 1970er-Jahren in wachsendem Maße zugänglich wurden, schloss sich – wenn auch nur sehr langsam – eine weitere Lücke im staatlich organisierten Segment: Das Angebot an barrierearmen oder -freien Urlaubseinrichtungen für Familien mit behinderten Angehörigen, sei es in den Ferienheimen der volkseigenen Betriebe oder in den vom FDGB vermittelten Unterkünften, wurde ausgebaut. Der entsprechende Mangel wurde bereits in den frühen 1970er-Jahren als besonders dringlich identifiziert: »Für Eltern mit schwerst körperbehinderten oder mit psychisch schwergeschädigten Kindern besteht zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum eine Möglichkeit, den Urlaub in Heimen des FDGB oder durch das Reisebüro zu verbringen.«70 Und die Leiterin der Kreisstelle für Rehabilitation in Meiningen hielt noch 1983 fest: »Eltern mit geschädigten Kindern haben oft jahrelang [gar] keinen oder keinen gemeinsamen Urlaub gemacht. Wir erhielten für 1983 eine einzige ›Kur‹ für einen Elternteil mit einem geistig behinderten Kind und einen Ferienplatz für Eltern mit geistig behindertem Kind.«71

Allerdings stieg der Druck auf die staatlichen Stellen, denn die Betroffenen richteten immer häufiger Eingaben an Ministerien, Parteigremien oder die Räte der Kreise und Bezirke mit der Forderung, das Angebot an Urlaubs- und Erholungsmöglichkeiten auszubauen.72 Zudem wurde das in der Verfassung verbriefte Recht, sich durch Eingaben Gehör zu verschaffen, verstärkt von Eltern genutzt, um sich über die fehlende Barrierefreiheit in den Ferien- und Kureinrichtungen zu beschweren. Dabei appellierten die VerfasserInnen an das Selbstverständnis des sozialistischen Staates als gerecht und fürsorgend, um ihre Interessen durchzusetzen. Eingaben erwiesen sich als ein durchaus probates Mittel für die Betroffenen, insbesondere wenn sie sich an höhere Stellen wandten, die die Verantwortlichen vor Ort daraufhin zu Maßnahmen veranlassten. So schrieb der zuständige Bezirksarzt 1982 an den ihm nachgeordneten Kreisarzt in Königs Wusterhausen, dass die Bedingungen in den Ferienheimen des FDGB verbessert werden müssten, denn: »Schwächen bei der Erfüllung dieser Aufgaben hatten in anderen Heimen zu massivsten Eingaben der Eltern auf höchster Ebene geführt.«73

Mithin könnte das selbstadvokatorische Handeln der betroffenen Eltern ein Erklärungsgrund sein, warum seit Beginn der 1980er-Jahre verstärkt staatliche Anstrengungen unternommen wurden, die Lücke bei Erholungsfreizeiten für Familien mit behinderten Kindern zu schließen. Während bis dahin vor allem das Angebot für diejenigen Kinder und Jugendlichen ausgebaut worden war, die ohne ihre Eltern Urlaub machen konnten, wurden nun auch Angebote für betroffene Familien geschaffen, insbesondere solche mit psychisch behinderten Kindern.74 So betonten Mitte der 1980er-Jahre offizielle Verlautbarungen, dass nicht nur die Zahl der Ferienplätze für Eltern mit geistig behinderten Kindern, sondern auch die Zahl der Kuren für Familien mit psychisch geschädigten Kindern gestiegen sei.75 Für letztere Klientel standen in den FDGB-Heimen DDR-weit beispielsweise 1985 rund 500 Plätze zur Verfügung.76

Bei diesen Kuren durfte in der Regel aber nur ein Elternteil mitfahren. In der internen Korrespondenz wird deutlich, dass die Verantwortlichen davon ausgingen, dass dies die Mütter seien.77 Denn auch in der DDR wandelten sich die familiären Rollenzuweisungen nur langsam.78 Staatliche Stellen setzten voraus, dass die Sorgearbeit für behinderte Angehörige von Müttern, aber auch von Ehefrauen, Schwestern, Töchtern oder Schwiegertöchtern geleistet wurde. In gewissem Maße übernahmen staatliche Stellen hier jene Form der Kuren, die die Diakonie und die Evangelische Frauenhilfe in der Nachkriegszeit zunächst für Mütter behinderter Angehöriger angeboten hatten, bei denen ebenfalls die Erholung der Mütter im Zentrum gestanden hatte. Allerdings verbanden sich mit dem vom FDGB verantworteten Kurangebot andere Ziele: Statt der Festigung des christlichen Glaubens oder auch der Bewahrung von Ehen ging es in erster Linie um die Wiederherstellung der Arbeitskraft bzw. um die Verhinderung von Arbeitsausfall: »Kuren bilden […] einen wichtigen Anteil zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Werktätigen.«79 Angesichts des notorischen Arbeitskräftemangels in der DDR galt es auch, die durch die häusliche Sorgearbeit besonders in Frage gestellte Erwerbsfähigkeit der Mütter zu bewahren.

Doch zeigten sich gerade bei den Eltern-Kind-Kuren für Familien mit psychisch schwer geschädigten Söhnen und Töchtern von Anfang an deutliche Probleme: So war die Infrastruktur in den Ferienheimen oft nicht auf die Anreisenden eingestellt.80 Da die FDGB-Erholungsheime weiterhin meist »für Rollstuhlfahrer nicht geeignet« waren, konnten aber auch schwer gehbehinderte oder gehunfähige Kinder nicht aufgenommen werden.81 Hinzu kam, dass zwar die medizinische Grundversorgung gegeben war und pädagogische BetreuerInnen stundenweise Beschäftigungen für die Kinder anboten; im Übrigen aber waren die Eltern »für die Beaufsichtigung und Betreuung ihrer Kinder voll verantwortlich«.82 Da ja immer nur ein Elternteil mitreisen durfte, war die Entlastung nicht hinreichend, zumal es vor Ort oft an Personal fehlte.83 Und nicht alle Familien konnten von dem Angebot profitieren: Ausgewählt werden sollten vor allem Kinder, die »möglichst gut anpassungsfähig und förderungsfähig« sowie »in Bezug auf Sauberkeit und Nahrungsaufnahme selbständig« waren; zudem durften die Kinder nicht jünger als 6 und nicht älter als 18 Jahre sein – womit große Teile der betroffenen Familien von vornherein ausgeschlossen waren.84 Bis zum Ende der DDR blieb es bei sich teilweise aus Geldmangel noch verschärfenden Defiziten: unter anderem fehlende Arbeitskräfte, veraltete Einrichtungen, Umweltverschmutzung in den Kurorten.

5. Die Spezialisierung der kirchlichen Erholungsfreizeiten für Familien mit behinderten Angehörigen in der DDR

Der Ausbau des staatlichen Kur- und Erholungsangebots verdrängte die kirchlichen Aktivitäten nicht vollständig. So boten etwa die Diakonie und die Evangelische Frauenhilfe auch weiterhin Ferienaufenthalte an. Unter anderem blieben allgemeine Mütterkuren vielerorts im Portfolio, die nun oft über westdeutsche Spenden an das Evangelische Hilfswerk finanziert wurden. An ihnen nahmen weiterhin auch Mütter mit Behinderungen oder Mütter behinderter Kinder sowie Ehefrauen behinderter Männer teil.85 In den kirchlichen Einrichtungen wandelten sich aber die Ziele dieser Kuren und Freizeiten und damit auch das Publikum: Die Mütter kamen immer öfter nicht mehr allein, sondern brachten ihre Kinder mit. Und immer häufiger boten kirchliche Institutionen auch Freizeiten an, bei denen die ganze Familie gemeinsam Urlaub machte. Bei diesen allgemeinen Familienfreizeiten kamen vereinzelt geistig, psychisch oder körperlich behinderte Kinder mit, ohne dass hierfür spezielle Vorkehrungen vor Ort getroffen wurden.86

Allerdings entwickelte die evangelische Kirche in den 1960er-Jahren auch ein Angebot, das sich ausschließlich an Eltern mit behinderten Angehörigen richtete, wobei man sich häufig auf bestimmte Behinderungsformen konzentrierte.87 Damit füllten kirchliche Institutionen abermals eine Lücke, die der Staat zu diesem Zeitpunkt noch ließ. Im Grunde instrumentalisierte die DDR-Führung die kirchlichen Einrichtungen, denen sie Aufgaben zuwies, die das staatliche Gesundheitswesen (noch) nicht übernehmen konnte oder wollte. Insgesamt führte dies zu einer wachsenden Konzentration der diakonischen Arbeit auf die Gruppe der behinderten Menschen, so auch im Bereich der Erholungsfreizeiten für Familien. In Sachsen beispielsweise gab es von der Diakonie spätestens seit 1969 drei Angebote für Eltern mit geistig behinderten Kindern: für Mütter mit Söhnen im Alter von 7 bis 14 Jahren, für Mütter mit erwachsenen Töchtern und für Gesamtfamilien inklusive der nicht geschädigten Geschwister.88 Die Evangelische Frauenhilfe in Sachsen-Anhalt wiederum bot seit 1972 zweiwöchige Erholungsurlaube für Eltern mit hirngeschädigten Töchtern an (wenig später wurde ein analoges Angebot für Mütter mit hirngeschädigten Söhnen in Wittenberg aufgebaut).89 Die Programme dieser Freizeiten verfolgten weiterhin vor allem das Ziel, den Betroffenen Erholung vom anstrengenden Sorgealltag zu ermöglichen, ohne sie allerdings dafür während des Aufenthaltes dauerhaft von ihren Kindern zu trennen.90 Kirchliche MitarbeiterInnen beschäftigten die behinderten Kinder mithilfe von Singspielen, Musik- und Bastelnachmittagen.91 Das Angebot richtete sich vor allem an Familien aus ländlichen Gebieten, wo es weniger staatliche Betreuungsangebote oder auch kirchliche Tagesstätten gab und wo man laut Frauenhilfe »immer wieder auf Einstellungen und Verhaltensweisen [stoße], die die betroffenen Familien diffamieren und isolieren«.92

Da mit »Eltern« weiterhin fast ausschließlich »Mütter« gemeint waren, zeigen sich deutliche Kontinuitäten zu den früheren Mütter- und Mütter-Kind-»Kuren«. Dies wandelte sich erst seit den frühen 1980er-Jahren, als immer häufiger auch Väter mitfuhren – nun wurde Sorgearbeit nicht mehr von allen gesellschaftlichen Akteuren als ausschließlich weiblich angesehen. In diesem zögerlichen Wandel lässt sich zumindest ein leichter Kontrast zur Bundesrepublik erkennen. Dort blieb der pflegende Vater (sogenannter »neuer Vater«) auch in den 1980er-Jahren ein zwar anerkanntes, aber meist unerfülltes Ideal.93 In der DDR waren kooperativere Sorgemodelle in diesem Jahrzehnt augenscheinlich häufiger möglich.94

Ein wesentlicher Aspekt der kirchlichen Freizeiten war, dass den Eltern nicht nur Zeit zur Erholung, sondern auch Gelegenheit zur Vernetzung untereinander gegeben wurde: Die ausführlichen Berichte der OrganisatorInnen sowie die Zuschriften und Dankesbriefe der Familien erzählen von langen Spaziergängen, Ausflügen und geselligen Abenden mit Gesang und Tanz, aber auch vom Austausch über gemeinsam geteilte Probleme, zum Beispiel über die Existenz und die Vergabemodalitäten staatlicher Fördergelder.95 Die kirchlichen Freizeiten boten einen Kommunikationsraum für die betroffenen Familien. Und dies war in der DDR von besonderer Relevanz, da anders als in der Bundesrepublik keine zivilgesellschaftlichen Institutionen zur Verfügung standen, die einen Rahmen für den Informationsaustausch untereinander geboten hätten.96 Die Freizeiten wirkten mithin nicht nur der Vereinzelung der Familien mit behinderten Kindern entgegen, sondern sorgten auch dafür, dass beispielsweise staatliche Fördermaßnahmen stärker in Anspruch genommen wurden, weil die TeilnehmerInnen von ihnen Kenntnis erlangten. Diese Aspekte machten die Attraktivität des kirchlichen Angebots aus, das daher auch von sonst eher kirchenfernen Familien genutzt wurde.

Überblickt man die Entwicklung der kirchlich organisierten Erholungskuren, so wird deutlich, dass wie in der Bundesrepublik bei einigen von ihnen neue Ziele hinzukamen: In Berichten aus den späten 1960er-Jahren wird etwa erwähnt, dass auch die Förderung des Kindes eine immer größere Rolle spielte. Eine Mutter schilderte in der evangelischen Wochenzeitung »Glaube und Heimat« die rehabilitative Instruktion während einer Rüstzeit für Mütter spastisch gelähmter Kinder: »Nach ärztlicher Anleitung übten täglich zwei Krankengymnastinnen mit unseren Kindern: wir Mütter schauten zuerst bloß zu, durften es dann selbst versuchen und wurden – wenn nötig – verbessert. Am Ende der zweiten Woche ›saß‹ dann bei Mutter und Kind das Programm, das wir daheim täglich üben sollten.«97 Auch einige interne Berichte über kirchliche Erholungsfreizeiten gehen darauf ein, dass eine Physiotherapeutin vor Ort gewesen war, die zusammen mit Müttern und Töchtern heilgymnastische Übungen durchgeführt hatte.98 Eine zentrale Rolle spielten diese in der Regel aber nicht. Vielmehr gab es nun eine zusätzliche Institution in Form der neu ins Angebot aufgenommenen eintägigen Rüstzeiten, in denen die Eltern durch Fachkräfte, also durch PsychologInnen oder TherapeutInnen, angeleitet wurden – ganz dem vergleichbar, was auch im Westen geschah.99 Die Eltern brachten hierzu ihre Kinder mit, die während der Vortrags- und Begegnungsphasen mit Spielen beschäftigt wurden.

Neben den Erholungszeiten für Mütter bzw. Eltern, deren Kinder spezifische Schädigungen aufwiesen, und den therapeutischen Rüstzeiten gab es noch eine weitere Neuerung im kirchlichen Bereich: Analog zur beschriebenen staatlich geförderten Einführung von Ferienlagern für behinderte Kinder und Jugendliche ohne Begleitung boten auch kirchliche Einrichtungen seit den frühen 1970er-Jahren Freizeiten für diese Zielgruppe an.100 In der Kirchenprovinz Sachsen offerierte die Diakonie beispielsweise zehntägige Urlaube für »Hilfsschüler und leicht [hirn-]geschädigte Kinder, auch solche, die nicht bildungsfähig sind – aber alleine kommen können«.101

6. Fazit

Dieser Aufsatz hat Struktur und Wandel der Kur- und Freizeitenangebote für behinderte Menschen und die sie pflegenden Angehörigen in der Bundesrepublik und der DDR verglichen. Die Ergebnisse lassen sich in acht Beobachtungen bündeln, die nicht nur für die Disability History relevant sind, sondern auch für die übergreifende Sozialgeschichte der deutschen Teilung.

Erstens waren die angebotenen Kuren und Freizeiten in Ost und West ihrer Konzeption nach und bezüglich ihrer Zielgruppen recht verschieden. Westdeutsche Kuren des Müttergenesungswerkes waren in der Nachkriegszeit vielfach von den kirchlichen Trägern Diakonie und Caritas organisiert; sie zielten vor allem auf die Erholung besonders belasteter Hausfrauen. In der DDR fehlten, dem sozialistischen Ideal der werktätigen Frau folgend, auf Sorgearbeitsbelastungen zielende staatliche Erholungsmaßnahmen zunächst. Daher blieben Angebote, die nicht an Werktätige gerichtet waren, auch hier in kirchlicher Hand, besaßen in ihrer Ausgestaltung aber tendenziell einen stärker missionarischen Charakter: Kirchliche Einrichtungen verbanden damit das Ziel, in einer ihnen vom Staat überlassenen Nische Wirksamkeit zu entfalten und sich dem staatlich forcierten Säkularisierungstrend entgegenzustemmen. Die Rahmenbedingungen der Urlaubs- und Erholungsmöglichkeiten für Mitglieder von Familien mit behinderten Angehörigen waren in beiden Staaten auch im weiteren Zeitverlauf insofern verschieden, als solche Maßnahmen in der DDR seit den 1960er-Jahren zunehmend auch staatlich organisiert waren, während sie im Westen subsidiär verfasst blieben und weiterhin über die Wohlfahrtsverbände liefen. Und in den zeitweilig präferierten Zielgruppen zeigen sich ebenfalls Diskrepanzen: Während in der frühen Bundesrepublik bevorzugt Ehefrauen kriegsbeschädigter Männer für eine Kur in Betracht gezogen wurden, waren in der DDR neben kranken oder behinderten Müttern eher solche auf den Erholungsfreizeiten zu finden, die sich um behinderte Kinder kümmerten. Dies lag auch an den verschiedenen gesellschaftspolitischen Rahmungen: Kriegsbeschädigten kam in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik eine große öffentliche Aufmerksamkeit zu, während sie im offiziellen Diskurs der DDR keine Rolle als besonders unterstützungswürdige Gruppe spielen durften.

Zweitens aber folgte der Ausbau der Freizeitenangebote, trotz unterschiedlicher Organisationsstrukturen, ähnlichen Rhythmen in beiden deutschen Staaten. So lässt sich insgesamt ein Wachstum der Freizeitangebote für behinderte Menschen und ihre Angehörigen ab den 1960er-Jahren erkennen. Sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR können die späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre als Scharnierphase gedeutet werden, in der behinderte Menschen verstärkte öffentliche Aufmerksamkeit erfuhren.102 Die folgende Ausweitung des Angebots ist jedoch insofern bemerkenswert, als im Westen die Phase des sozialstaatlichen Ausbaus in dieser Zeit eigentlich zu Ende ging. In der Bundesrepublik trafen mithin ein erhöhtes öffentliches Interesse für behinderte Menschen und ihre Angehörigen nach dem Contergan­skandal sowie die zunehmende Lobbyarbeit der Elternverbände auf einen staatlichen Spar-Impetus. Politische Vorstöße, das Kurangebot gerade für diese besonders belastete Frauengruppe zu kürzen, zogen jedoch immense Kritik auf sich, was einen Abbau weitgehend verhinderte. Sucht man nach den Motiven der Expansion des Erholungsangebots für behinderte Heranwachsende und ihre Angehörigen in der DDR, so ist zunächst auf den Willen der SED-Führung hinzuweisen, auch diese Klientel in die sozialistischen Erziehungsmaßnahmen einzubeziehen. Zugleich ging es der ostdeutschen Führung bei ihrer Sozialpolitik in Bezug auf Familien mit behinderten Angehörigen stets auch um die Aufrechterhaltung des Bildes der DDR als des gerechteren und fürsorgenderen deutschen Staates.103 Dafür instrumentalisierte die SED nicht nur das kirchliche Engagement in der Fürsorge für Familien mit behinderten Angehörigen, sondern wurde besonders aktiv, wenn die internationale Sichtbarkeit erhöht war, wie etwa 1981 im UNO-Jahr der Behinderten. Dass die deutsch-deutsche Systemkonkurrenz in der DDR wirkmächtig war, lässt sich auch daran erkennen, dass die ostdeutschen Behörden auf entsprechende Eingaben ihrer BürgerInnen reagierten. Indem letztere betonten, dass der sozialistische Anspruch auf Fürsorge und Förderung von behinderten Menschen nicht umgesetzt werde und das westdeutsche Angebot dem ostdeutschen überlegen sei, konnten sie mit ihren Anliegen tatsächlich oft durchdringen. Insofern profitierten Menschen mit Behinderungen in der DDR, so unsere dritte Beobachtung, durchaus von der deutsch-deutschen Systemkonkurrenz.

Erholungskur anlässlich des UNO-Jahres 1981 in der DDR: Die Eltern, hier eine Arztfamilie, bringen den Sohn in ein Ferienlager in Euba bei Karl-Marx-Stadt, wo er drei Wochen Ferien mit weiteren körperbehinderten und auch nichtbehinderten Kindern verbringen kann. (Foto: Raimund Schliebs, URL: http://drk-ddr.de/page.php?v=1040800; mit freundlicher Genehmigung)
Erholungskur anlässlich des UNO-Jahres 1981 in der DDR:
Die Eltern, hier eine Arztfamilie, bringen den Sohn in ein Ferienlager
in Euba bei Karl-Marx-Stadt, wo er drei Wochen Ferien mit weiteren
körperbehinderten und auch nichtbehinderten Kindern verbringen kann.
(Foto: Raimund Schliebs, URL: <http://drk-ddr.de/page.php?v=1040800>;
mit freundlicher Genehmigung)

Viertens wurde deutlich, dass die in der DDR von den kirchlichen Trägern angebotenen Erholungsfreizeiten bzw. Rüstzeiten für die TeilnehmerInnen eine Funktion erfüllten, die ihnen in der Bundesrepublik weit weniger zukam: Sie boten den betroffenen Familien einen Ort der Vernetzung und der Informationsverbreitung etwa bezüglich der vorhandenen staatlichen Unterstützungsmaßnahmen. Diese Funktion übernahmen in der Bundesrepublik eher die zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die in der DDR weitgehend fehlten, wenn man von den Verbänden für Sinnesgeschädigte absieht.

Fünftens blieben Kuren für behinderte Menschen und ihre Angehörigen im Westen strikter vom Tourismus getrennt, als dies in der DDR der Fall war. Das staatstouristische DDR-System war für die Organisation von Familienurlauben verantwortlich und inkludierte dabei auch die Ferienaufenthalte von Familien mit behinderten Angehörigen. In der Bundesrepublik blieben Erholungsmaßnahmen hingegen stets von dem sich ab den 1970er-Jahren langsam entwickelnden privatwirtschaftlichen Tourismus für behinderte Menschen unterscheidbar. Der Ausbau einer touristischen Infrastruktur für Menschen mit Behinderungen blieb allerdings in beiden deutschen Staaten ein immenses Desiderat. So waren die ostdeutschen Ferienanlagen oft nicht barrierefrei. Ähnliches gilt für die Bundesrepublik: Obwohl seit Anfang der 1970er-Jahre Reiseführer für behinderte Menschen in Westdeutschland erschienen, waren die meisten Hotels auch in den Folgejahrzehnten noch reich an Barrieren. Zudem überdauerte die Behindertenfeindlichkeit in Urlaubsgebieten die deutsche Teilung – ablesbar etwa am sogenannten »Frankfurter Urteil« von 1980 und am »Flensburger Urteil« von 1992, in denen die Anwesenheit behinderter Menschen am Ferienort jeweils als »Reisemangel« gewertet wurde, weshalb nichtbehinderten PauschaltouristInnen Kostenrückerstattungen zugesprochen wurden.104

Zum Beginn der 1970er-Jahre gaben Interessenvereinigungen für behinderte Menschen erste Urlaubsreiseführer heraus – hier der Ferienführer der Bundesarbeitsgemeinschaft »Hilfe für Behinderte«, Ausgabe 1972/73.
Zum Beginn der 1970er-Jahre gaben Interessenvereinigungen für behinderte Menschen erste Urlaubsreiseführer heraus – hier der
Ferienführer der Bundesarbeitsgemeinschaft
»Hilfe für Behinderte«, Ausgabe 1972/73.

Sechstens unterstreicht die vorliegende Betrachtung der Erholungsmaßnahmen für behinderte Menschen und die sie pflegenden Angehörigen die Potentiale und noch zu füllenden Forschungslücken einer übergreifenden Care History während der deutschen Teilung. So ist vor dem Hintergrund stark unterschiedlicher Rentensysteme und Altersarmutsphänomene,105 divergierender weiblicher Rollenmodelle sowie einer nur im Westen existenten zivilgesellschaftlichen Anstalts- und Heimkritik grundlegender zu erforschen, wie häusliche Sorgearbeit im geteilten Deutschland jeweils verteilt, organisiert und praktiziert wurde.

Siebtens sollte sich eine derartige Care History der deutschen Teilung und Transformation nicht nur auf die in Ost- wie Westdeutschland meist weiblichen Sorgegeberinnen fokussieren. Auffällig abwesend blieben Väter behinderter Kinder lange in beiden deutschen Staaten, besonders aber im Westen. In der Bundesrepublik nahm in der Kurorganisation die Bedeutung des Schlagwortes »Eltern« zwar zu, dahinter verbargen sich in aller Regel aber Mütter. Im Osten wurde es ab den frühen 1980er-Jahren dagegen üblicher, dass (auch) Väter bei den Freizeiten anwesend waren. Zu erforschen bleibt, inwiefern nach der deutschen Einheit die Erweiterung der in der alten Bundesrepublik entwickelten, auf (Haus-)Frauen zugeschnittenen Kurmaßnahmen auf das Gebiet der neuen Bundesländer innerhäusliche Aushandlungsprozesse beeinflusste und die Sorgearbeit neu verteilt wurde.

Die Untersuchung verweist, achtens und letztens, auf die bisher noch kaum eingelöste Herausforderung, die Ebene der Erfahrungen behinderter Menschen in zeithistorische Analysen einzubeziehen. Die Disability History hat sich, dem Bewegungsmotto »Nichts über uns ohne uns« folgend, zum Ziel gesetzt, behinderte Menschen als Subjekte ihrer Geschichte sichtbar zu machen.106 Der vorliegende Beitrag war dazu kaum in der Lage, was vor allem auf die fehlenden Stimmen behinderter Menschen im konsultierten Quellenmaterial zurückzuführen ist. Über den Alltag beispielsweise in den Ferienlagern der DDR geben die staatlichen Akten nahezu keine Auskunft aus der Perspektive der TeilnehmerInnen. Nur ein größer angelegtes Oral-History-Projekt könnte eruieren, welche Erfahrungen die Kinder und Jugendlichen in diesen Ferienlagern machten und ob sie beispielsweise auch mit Gewalt, Vernachlässigung oder Diskriminierung konfrontiert waren. Zwar verspricht ein Zugang über Oral History viel, allerdings ist bei dieser Methode zu beachten, dass sie für Menschen mit größeren Selbstnarrativierungserfahrungen und -kompetenzen entwickelt wurde, als sie gerade Menschen mit kognitiven Behinderungen oft haben.107 Die Erforschung der Zeitgeschichte behinderter Menschen verspricht somit weitere bisher nicht beachtete Aspekte des Alltags von Menschen mit Behinderungen auch im deutsch-deutschen Vergleich offenzulegen. Sie steht aber gleichsam am Anfang und vor großen methodologischen Herausforderungen.


Anmerkungen:

1 Bruno Heck, Vorwort, in: Broschüre »Sorgenkinder unter uns« (1966), in: Archiv Aktion Sorgenkind (Aktion Mensch e.V., Bonn), AB-1-2007-436. Ausführlich zu den Lebenslagen westdeutscher Familien mit behinderten Kindern: Raphael Rössel, Belastete Familien? Eine Alltagsgeschichte westdeutscher Haushalte mit behinderten Kindern (1945–1990), Frankfurt a.M. 2022.

2 Pia Schmüser, »We as parents must be helped.« State-Parent Interactions on Care Facilities for Children with »Mental Disabilities« in the GDR, in: Kateřina Kolářová/Martina Winkler (Hg.), Re/imaginations of Disability in State Socialism. Visions, Promises, Frustrations, Frankfurt a.M. 2021, S. 215-257, hier S. 234f.

3 Siehe dazu auch Raphael Rössel/Pia Schmüser, Pflege als Alltagsphänomen. Familien behinderter Kinder in der Bundesrepublik und DDR, in: Deutschland Archiv, 3.12.2019.

4 Robert G. Moeller, Protecting Motherhood. Women and the Family in the Politics of Postwar West Germany, Berkeley 1993.

5 Thomas Großbölting, Der verlorene Himmel. Glaube in Deutschland seit 1945, Göttingen 2013, S. 34.

6 Lukas Rölli-Alkemper, Familie im Wiederaufbau. Katholizismus und bürgerliches Familienideal in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1965, Paderborn 2000.

7 Broschüre »Hilf auch Du dem Evangelischen Mütterdienst mit einer Gabe« (undatiert), in: Archiv des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung (ADE), All Sig 1199.

8 Vera Neumann, Nicht der Rede wert. Die Privatisierung der Kriegsfolgen in der frühen Bundesrepublik. Lebensgeschichtliche Erinnerungen, Münster 1999, zusammenfassend S. 165-167.

9 Antonie Nopitsch, Das Deutsche Mütter-Genesungswerk, Sonderdruck des Referats auf der Internationalen Konferenz für Sozialarbeit vom August 1952, in: ADE, CAW 387.

10 Svenja Goltermann, Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalt­erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, München 2009, S. 127-161.

11 Raphael Rössel, Familien in der Kieler Kriegsopferfürsorge. Geschlechtervorstellungen in der kommunalen Antragspraxis von der Besatzungszeit bis in die 1970er Jahre, in: Britta-Marie Schenk (Hg.), Im Gefolge des Wohlfahrtsstaates. Kieler Kriegsopferfürsorge im 20. Jahrhundert, Husum 2020, S. 61-76, hier S. 68f.

12 Das Deutsche Mütter-Genesungswerk, Rechenschaftsbericht 1955, in: ADE, CAW 387, hier S. 20.

13 Christiane Kuller, Familienpolitik im föderativen Sozialstaat. Die Formierung eines Politikfeldes in der Bundesrepublik 1949–1975, München 2004, S. 276.

14 Sonderkuren des Müttergenesungswerkes, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.12.1960.

16 Anne Helen Crumbach, Bilder als Grenzerfahrung. Visuelle Darstellung der sogenannten ›Contergan-Kinder‹ in den 1960er Jahren, in: Andreas Fickers u.a. (Hg.), Jeux sans Frontières? Grenzgänge der Geschichtswissenschaft, Bielefeld 2017, S. 221-233.

17 Gabriele Lingelbach, Konstruktionen von ›Behinderung‹ in der Öffentlichkeitsarbeit und Spendenwerbung der Aktion Sorgenkind seit 1964, in: Elsbeth Bösl/Anne Klein/Anne Waldschmidt (Hg.), Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld 2010, S. 127-150, hier S. 132.

18 Rosemarie Pflüger, Die Ziele der Mütter-Genesungsfürsorge, in: Sozialer Fortschritt 13 (1964), S. 82-85, hier S. 85.

19 Seit 1963 organisierte die katholische Caritas Sonderkuren für diese Müttergruppe. Vgl. Gabriele Mehr, Sonderkuren für Mütter mit geistig behinderten Kindern, in: Caritas 75 (1974), S. 348-349, hier S. 348.

20 Elternwünsche an die Organisation der Lebenshilfe, in: Lebenshilfe. Vierteljahresschrift für die Probleme geistig Behinderter in Familie und Gesellschaft 3 (1964), S. 51-52.

21 Hansen an die Landeskirchliche Frauenarbeit, 24.3.1965, in: Landeskirchliches Archiv Kiel, 23.1./Nr. 92.

22 Breuning an DRK-Kreisverein Stuttgart, 2.5.1964, in: ADE, HGSt 5003.

23 Schwester Herta Janssen an die Landeskirchliche Frauenarbeit Neumünster, Betr.: Verschickung der Mütter mit behinderten Kindern, 14.5.1965, in: Landeskirchliches Archiv Kiel, 23.1./Nr. 92.

24 Vgl. Jan Stoll, Behinderte Anerkennung? Interessenorganisationen von Menschen mit Behinderungen in Westdeutschland seit 1945, Frankfurt a.M. 2017, S. 146-148.

25 Ansprache Hilda Heinemann, in: Tagesschau, 5.5.1971.

26 Hildegard Iwan, Ferien für Mütter mit schwerhörigen Kindern, in: Das behinderte Kind 10 (1973), S. 140.

27 Katholische Arbeitsgemeinschaft für Müttererholung, Sonderkuren 1974, Freiburg 1974, S. 3.

28 Frau Dr. H.R., Bericht über Besuch in einer Sonderkur für Mütter behinderter Kinder im Mütter-Genesungswerk der Evang. Frauenhilfe in Westfalen Bad Oeynhausen. Haus Stieghorst vom 20.9. bis 18.10.1968, undatiert [1968], in: Landeskirchliches Archiv Kiel, 23.1./Nr. 153.

29 Mehr, Sonderkuren (Anm. 19).

30 Müttergenesungswerk, Pressemitteilung: Müttergenesungswerk wird 60! Blaue Blumen für mehr Mütterfreundlichkeit, 27.1.2010.

31 Siehe die Beiträge in Wilfried Rudloff u.a. (Hg.), Ende der Anstalten? Großeinrichtungen, Debatten und Deinstitutionalisierung seit den 1970er Jahren, Paderborn 2022.

32 Vgl. Bericht »Belastungen für Eltern Behinderter«, in: Tagesschau, 3.4.1982.

33 Ernst J. Kiphard, Haustraining für behinderte Kinder, in: Lebenshilfe 10 (1971), S. 8-17.

34 J[ohannes] Pechstein, Hilfe für das sozial behinderte Kind, in: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hg.), Behinderte Kinder. Früherkennung, Behandlung, Rehabilitation, Köln o.J. [1971], S. 63-67.

35 Eva-Maria Dennebaum, Zielsetzungen, Schwierigkeiten, Chancen der Müttergenesung, in: Zentralratssitzung des Deutschen Caritasverbandes am 12. und 13.4.1972 im Priesterseminar Fulda, Anlage 5 ZR-Protokoll, in: Archiv des Deutschen Caritasverbandes, 111.055-1972/2.

36 Gottfried Motzheim, Sonderkuren für Mütter mit behinderten Kindern, in: Müttergenesungswerk (Hg.), Jahrbuch 1980, Nürnberg 1980, S. 221-226, hier S. 225.

37 Zur Differenzierung des diskursiven Wandels in dieser Zeit von den Kontinuitäten in der gelebten Familienpraxis siehe Christopher Neumaier, Familie im 20. Jahrhundert. Konflikte um Ideale, Politiken und Praktiken, Berlin 2019, S. 511f.

38 Kuller, Familienpolitik (Anm. 13), S. 265.

39 Psychologische Image-Analyse des MGW, durchgeführt von Dr. Michael Rödlung, April bis Juni 1971, in: Landeskirchliches Archiv Kiel, 23.1./Nr. 148.

40 René Leudesdorff, Frau Fockes Rotstift. Das Müttergenesungswerk soll sterben, in: Rheinischer Merkur, 12.3.1976.

41 Das Müttergenesungswerk, Unsere Geschichte, URL: <https://www.muettergenesungswerk.de/ueber-uns/geschichte>.

42 Zur Rolle des FDGB siehe Thomas Schaufuß, Die politische Rolle des FDGB-Feriendienstes in der DDR, Berlin 2011. Allgemein zum Reisen in der DDR: Heike Wolter, »Ich harre aus im Land und geh, ihm fremd.« Die Geschichte des Tourismus in der DDR, Frankfurt a.M. 2009.

43 Siehe dazu Bettina Westfeld, Innere Mission und Diakonie in Sachsen 1867–2017, Leipzig 2017, S. 183-185. Neben den Kirchen hatten lediglich Selbsthilfeorganisationen für Sinnesgeschädigte einen Anteil bei der Organisation von Kur- und Erholungsfreizeiten. Bereits in den 1950er-Jahren verteilten sie etwa Kurplätze für sinnesbehinderte Personen; siehe u.a. Willi Finck, 85 Jahre Blindenkur- und Erholungsfürsorge an deutschen Küsten. Die Geschichte des Blindenkur- und Erholungsheims im Ostseebad Boltenhagen, Grevesmühlen 2000; Claus Brehme/Wolfgang Bahn, 1916–1996. 80 Jahre Blinden­erholungsheim Wernigerode/Harz, Wernigerode 1996 (Festschrift-Broschüre). Sinnesgeschädigte hatten in der DDR eine gewisse Sonderrolle, was u.a. daran festgemacht werden kann, dass sie Selbsthilfeorganisationen gründen durften. Vgl. Anja Werner/Carolin Wiethoff, Die Vorgeschichte der Gründung von Interessenvertretungen der Gehörgeschädigten und Blinden in der SBZ und frühen DDR, 1945–1957, in: Marion Schmidt/Anja Werner (Hg.), Zwischen Fremdbestimmung und Autonomie. Neue Impulse zur Gehörlosengeschichte in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Bielefeld 2019, S. 191-233.

44 Allerdings erwiesen sich nicht alle kirchlichen Kurheime als geeignet für behinderte Mütter. Da das Augenmerk der Anbieter noch nicht auf dem Thema Behinderung lag, kam es in den ersten Jahren immer wieder vor, dass Frauen anreisten, die vor Ort wegen ihrer Behinderung Schwierigkeiten hatten, am Kuralltag teilzunehmen. In der Regel reagierte man dann ad hoc und pragmatisch auf die Situation, bat andere Kurgäste darum, behinderten Frauen unter die Arme zu greifen. Als problematischer erwiesen sich jene Fälle, in denen Frauen mit psychischen Erkrankungen bzw. Behinderungen zum Kuraufenthalt anreisten. In den Augen der Kuranbieter »störten« diese Frauen den Tagesablauf und gefährdeten die Erreichung der Kurziele für die anderen Teilnehmerinnen.

45 Siehe die Berichte zur Mütterhilfe in den Akten 390-7 und 390-3 §218, in: Diakoniearchiv Sachsen (Radebeul).

46 Siehe Rundschreiben »Betr. Kostenlose Müttererholung«, Landeskirchliches Amt für kirchliche Frauenarbeit, 21.11.1969, in: Diakoniearchiv Sachsen (Radebeul), Akte 393-1 »Mütterhilfe (1970–1978)«.

47 Siehe z.B. Bewertungsbogen für E.C. [anonymisiert], 11.6.1965, in: Diakoniearchiv Sachsen (Radebeul), Akte 390 K-T.

48 Anlage zur Liste Müttererholung Hüttengrund, 1969, in: Diakoniearchiv Sachsen (Radebeul), Akte 393-1 »Mütterhilfe (1957–1969)«.

49 Bericht zur Müttererholung des Landeskirchlichen Amtes für Innere Mission Sachsen, 6.11.1956, in: Diakoniearchiv Sachsen (Radebeul), Akte 393-10.

50 Siehe etwa Bericht aus der Arbeit der Mütterhilfe in Karl-Marx-Stadt 1964, in: Diakoniearchiv Sachsen (Radebeul), Akte 390-8.

52 Siehe u.a. Carolin Wiethoff, Arbeit vor Rente. Soziale Sicherung bei Invalidität und berufliche Rehabilitation in der DDR (1949–1989), Berlin 2017.

53 Der Hinweis auf die Anweisung aus dem Jahr 1967 findet sich in: Büro des Ministerrats, Beschluss zur weiteren Entwicklung der Rehabilitation nach ausgewählten Schwerpunkten, 16.8.1973, in: Kreisarchiv Schmalkalden-Meiningen, Rat des Kreises Meiningen, Abt. Gesundheits- und Sozialwesen, 9.1.7/104, Bl. 127.

54 Bericht OMR Dr. Grauert, Entwicklung der Feriengestaltung für geschädigte Kinder und Jugendliche, 24.2.1969, in: Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (BArch), DQ 1/23916. Zugleich sollten diese Ferienlager dem internationalen Austausch dienen, da auch Kinder aus der ČSSR und aus Ungarn teilnahmen.

55 Ebd.

56 Bericht des Leiters des Lagers Pepelow, 3.8.1969, in: BArch, DQ 1/23916.

57 Verordnung zur weiteren Verbesserung der gesellschaftlichen Unterstützung schwerst- und schwergeschädigter Bürger vom 29.7.1976, in: GBl. I Nr. 33, S. 411.

58 Büro des Ministerrats, Beschluss zur weiteren Entwicklung der Rehabilitation nach ausgewählten Schwerpunkten, 16.8.1973, in: Kreisarchiv Schmalkalden-Meiningen, Rat des Kreises Meiningen, Abt. Gesundheits- und Sozialwesen, 9.1.7/104, Bl. 117.

59 Ebd., Bl. 115.

60 Ebd.

61 Laut §10 der »Verordnung zur weiteren Verbesserung der gesellschaftlichen Unterstützung schwerst- und schwergeschädigter Bürger« (Anm. 57) sollten zudem auch Werktätigen, die behinderte Angehörige pflegten, vorrangig Ferienplätze zur Verfügung gestellt werden.

62 Zeitungsartikel, wahrscheinlich aus dem Jahr 1986: Frohe Ferien für geschädigte Kinder, in: Brandenburgisches Landeshauptarchiv (BLHA) Potsdam, Rep. 431 BStBw Pdm 57.

63 Bericht Rehabilitative Feriengestaltung für physisch und psychisch geschädigte Kinder und Jugendliche im Verantwortungsbereich des Gesundheits- und Sozialwesens 1988, in: BLHA, Rep. 401 RdB Pdm 20186. An der Ostseeküste bei Prerow waren einige Zeltplätze für blinde Jugendliche reserviert (Finck, 85 Jahre Blindenkur- und Erholungsfürsorge [Anm. 43], S. 16).

64 Dies und Folgendes in: Bericht des Bereichsleiters Rehabilitation/Stellvertretender Bezirksgutachter [Potsdam] über das vom 20.5. bis 6.6.1975 […] durchgeführte Ferienlager für schulbildungsunfähige förderungsfähige Kinder und Jugendliche, in: BLHA, Rep. 431 BStBw Pdm 34.

65 Bericht Rehabilitative Feriengestaltung (Anm. 63).

66 Monika Baár/Anna Derksen, Das Internationale Jahr der Behinderten 1981 in historischer Perspektive, in: Theresia Degener/Marc von Miquel (Hg.), Aufbrüche und Barrieren. Behindertenpolitik und Behindertenrecht in Deutschland und Europa seit den 1970er-Jahren, Bielefeld 2019, S. 161-184.

67 Jochen Reinert, Umfassende Fürsorge im humanistischen Geiste. DDR unterstützt Geschädigte. Widerhall für UNO-Jahr, in: Neues Deutschland, 10.2.1981.

68 Ferienzeltlager des DRK für Rollstuhlfahrer in Kehnert, in: Aktuelle Kamera, 25.7.1988.

69 Schreiben des Rats des Bezirkes, Abt. Gesundheits- und Sozialwesen an die Kreisärzte, 18.4.1978, in: BLHA, Rep. 431 BStBw Pdm 34.

70 Büro des Ministerrats, Beschluss zur weiteren Entwicklung der Rehabilitation nach ausgewählten Schwerpunkten, 16.8.1973, in: Kreisarchiv Schmalkalden-Meiningen, Rat des Kreises Meiningen, Abt. Gesundheits- und Sozialwesen, 9.1.7/104, Bl. 128.

71 Rat der Stadt Meiningen, 3.5.1983, Zuarbeit über dringliche Aufgaben auf dem Gebiet der Rehabilitation, in: Kreisarchiv Schmalkalden-Meiningen, Rat des Kreises Meiningen, Abt. Gesundheits- und Sozialwesen, 9.1.7/104.

72 Zum Eingabewesen in der DDR siehe Felix Mühlberg, Bürger, Bitten und Behörden. Geschichte der Eingabe in der DDR, Berlin 2004; Florian Bruns, ›Werte Genossen! Heute komme ich mit einer Bitte zu Euch…‹ Der Umgang mit Patienteneingaben im DDR-Gesundheitswesen, in: Markus Wahl (Hg.), Volkseigene Gesundheit. Reflexionen zur Sozialgeschichte des Gesundheitswesens der DDR, Stuttgart 2020, S. 93-109. Siehe auch den Beitrag von Pia Schmüser in diesem Heft.

73 Bezirksarzt R. Müller an den Kreisarzt des Kreises Königs Wusterhausen, 14.10.1982, in: BLHA, Rep. 431 BStBw Pdm 33.

74 [Unterschrift unlesbar,] Aktennotiz, 7.12.1984, in: BLHA, Rep. 431 BStBw Pdm 33. Der FDGB hatte 1981 beschlossen, im Folgejahr erstmals 500 prophylaktische Kuren für psychisch geschädigte Kinder mit jeweils einem Elternteil zur Verfügung zu stellen. Aktennotiz »Gespräch mit den Eltern am 21.2.1983«, in: BLHA, Rep. 431 BStBw Pdm 33.

75 Siehe z.B. Bericht über den erreichten Stand der Rehabilitation vor der Ständigen Kommission Gesundheitswesen des Bezirksrates am 24.10.1984 in Neuglobsow, in: BLHA, Rep. 431 BStBw Pdm 57.

76 Schreiben Ministerium für Gesundheitswesen an Rat des Bezirkes Potsdam – Sektorleiter Soziale Betreuung betreff prophylaktische Kuren für Eltern mit psychisch geschädigten Kindern, 14.11.1984, in: BLHA, Rep. 431 BStBw Pdm 33.

77 Siehe z.B. Brief eines begleitenden Erziehers an das FDGB-Ferienheim »E. Gensch«, 15.9.1983, in: BLHA, Rep. 431 BStBw Pdm 33.

78 Für einen Vergleich weiblicher Rollenmodelle in der Bundesrepublik und der DDR siehe Christopher Neumaier, Hausfrau, Berufstätige, Mutter? Frauen im geteilten Deutschland, Berlin 2022.

79 Bericht »Entwicklungsstand des Kur- und Bäderwesens des Bezirkes Halle« 1987, in: Landesarchiv Sachsen-Anhalt, P 516 6644.

80 Schreiben an das Ministerium für Gesundheitswesen, Abt. Soziale Betreuung, 15.11.1982, in: BLHA, Rep. 431 BStBw Pdm 33.

81 Ministerium für Gesundheitswesen – Abt. Rehabilitation, Merkblatt zur Vorbereitung und Durchführung von prophylaktischen Kuren für Eltern mit psychisch geschädigten Kindern und Jugendlichen, 23.10.1984.

82 Hinweise zur Durchführung der prophylaktischen Kuren […] 1985 im FDGB-Erholungsheim, in: BLHA, Rep. 431 BStBw Pdm 33.

83 Siehe z.B. Brief FDGB-Erholungsheim »Glück auf« an den FDGB-Bezirksvorstand Dresden, 24.5.1982, in: BLHA, Rep. 431 BStBw Pdm 33.

84 Ministerium für Gesundheitswesen – Abt. Rehabilitation, Merkblatt (Anm. 81).

85 Siehe u.a. Diakoniearchiv Sachsen (Radebeul), Akte 393-1 (1957–1969), sowie Landeskirchenarchiv Magdeburg, Akte L1 140.

86 Siehe u.a. die Einzelfallakten in: Diakoniearchiv Sachsen (Radebeul), Akte 393-1 »Mütterhilfe (1974–1984)«; hier z.B. Bericht Familienrüste in Hüttengrund, 9.8.–22.8.1978.

87 Schreiben an Pfarrer Löffler (Neinstedter Anstalten), 28.9.1984, in: Landeskirchenarchiv Magdeburg, L313.

88 Rundschreiben Arbeitsgemeinschaft der Inneren Mission für Eltern und Freunde geistig behinderter Kinder und Jugendliche, 15.1.1971, in: Landeskirchenarchiv Magdeburg, L313.

89 Siehe den Bestand L313 des Landeskirchenarchivs Magdeburg.

90 Dabei wurde selbst in den 1970er- und 1980er-Jahren nicht auf religiöse Unterweisung, Gottesdienstbesuche und Andachten verzichtet – es ging den Veranstaltern auch stets darum, dem allgemeinen Säkularisierungstrend zu trotzen und die Gäste dem Christentum (wieder) anzunähern. Nicht immer traf dies auf die Zustimmung der Angereisten.

91 Bericht über die Erholungszeit für Mütter mit hirngesch. Töchtern, 18.3. bis 1.4.1980, in: Landeskirchenarchiv Magdeburg, L313.

92 Bericht über die Erholungszeit der Evangelischen Frauenhilfe für Mütter mit hirngesch. Töchtern, 28.4. bis 12.5.1972, in: Landeskirchenarchiv Magdeburg, L313, Bl. 0163. Während die meisten Mütter jenseits der Urlaubszeit ihre Kinder zuhause versorgten, nahmen einige ihre Töchter für die gemeinsame Zeit aus einem Heim heraus – für diese Familien waren die Erholungsfreizeiten eine Gelegenheit, überhaupt einmal längere Zeit mit den eigenen Kindern zu verbringen (Bericht über die Erholungszeit vom 11. bis 25.3.1974, in: Landeskirchenarchiv Magdeburg, L313).

93 Christopher Neumaier, Hohe Wertschätzung, geringe Verbreitung. Der ›neue Vater‹ in Westdeutschland während der 1970er und 1980er Jahre, in: Ariadne. Forum für Frauen und Geschlechtergeschichte 70 (2016), S. 44-51.

94 Wie sich die deutsche Einheit und die sich anschließenden gesellschaftlichen Transformationen auf diese Geschlechterdynamiken auswirkten, bedarf weiterer Forschung. Allerdings kann anhand einiger Anhaltspunkte bereits vermutet werden, dass die Übernahme westdeutscher Strukturen die Bereitschaft ostdeutscher Männer zur Sorgearbeit kaum förderte. Ein rechtlicher Kuranspruch für Väter wurde zum Beispiel erst 2002 kodifiziert; siehe dazu Müttergenesungswerk, Unsere Geschichte (Anm. 41). Eine repräsentative Studie eruierte, dass 2007 im Bundesgebiet 2,1 Millionen Mütter, aber lediglich 230.000 Väter aufgrund der von ihnen geleisteten Sorgearbeit kurbedürftig waren (Müttergenesungswerk, Datenreport 2019).

95 Siehe z.B. Bericht über die Erholungszeit vom 15.4. bis 29.4.1975, in: Landeskirchenarchiv Magdeburg, L313. Siehe auch die zahlreichen weiteren Berichte der durchführenden Personen zu den Erholungszeiten in diesem Bestand.

96 Siehe dazu auch Bertold Scharf/Sebastian Schlund/Jan Stoll, Segregation oder Integration? Gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der DDR, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 70 (2019), S. 52-70.

97 Marianne Kern, Mutterrüstzeit 1968 in Wernshausen, in: Glaube und Heimat [Ausschnitt ohne Datum, wohl 1968], in: ADE, BSt 653.

98 Bericht über die Erholungszeit für Mütter mit hirngeschädigten Töchtern vom 16. bis 29.10.1973, in: Landeskirchenarchiv Magdeburg, L313.

99 [O.A.,] Schreiben »Das behinderte Kind«, o.J. [ca. 1973], in: Landeskirchenarchiv Magdeburg, L313.

100 Ebd.

101 Schreiben der Abt. Gemeindefürsorge der Diakonie Sachsen an die Evangelische Frauenhilfe Magdeburg, 22.12.1975, in: Landeskirchenarchiv Magdeburg, L313.

102 Zur Periodisierung der Nachkriegsgeschichte aus der Perspektive der Disability History siehe Gabriele Lingelbach/Anne Waldschmidt, Einleitung: Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche in der deutschen Disability History nach 1945, in: dies. (Hg.), Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche? Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen in der deutschen Zeitgeschichte, Frankfurt a.M. 2016, S. 7-27.

103 Für diese ostdeutsche Abgrenzungsbewegung in Bezug auf die mediale Ebene siehe auch die DDR-Berichterstattung in den frühen 1960er-Jahren, die den Conterganskandal im Westen mit dessen kapitalistischer Gesellschaftsform engführte; vgl. Sebastian Balling, Die audiovisuelle Inszenierung der Gebrechlichkeit. Behinderungen in non-fiktionalen Fernsehsendungen der DDR 1961–1989, in: Rundfunk und Geschichte 47 (2021) H. 3-4, S. 66-80, hier S. 70-74. Zum Konkurrenzverhältnis der ost- und westdeutschen sozialen Sicherungssysteme vgl. Winfried Süß, Soziale Sicherheit und soziale Ungleichheit in wohlfahrtsstaatlich formierten Gesellschaften, in: Frank Bösch (Hg.), Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970–2000, Göttingen 2015, S. 153-193.

104 Ernst Klee (Hg.), Behinderte im Urlaub? Das Frankfurter Urteil – eine Dokumentation, Frankfurt a.M. 1980, für weitere Fälle siehe dort S. 9-27; Nicola Sieverling, Amtsrichter soll »abhauen«. Behinderte protestieren gegen Flensburger Urteil, in: Flensburger Tageblatt, 22.10.1992.

105 Christoph Lorke, An den Rändern der Gesellschaft. Armut und soziale Ausgrenzung im geteilten Deutschland, Berlin 2021.

106 Siehe die Einleitung zu diesem Themenheft.

107 Vgl. Rössel, Belastete Familien? (Anm. 1).

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