- Autoritäre Strukturen in Politik und Gesellschaft der Türkei
- Parteienlandschaft und politische Instabilität seit 1923
- Vorläufer und Anfänge der AKP in den islamistischen Parteien
- Fazit
Seit dem erfolglosen Putsch am 15. Juli 2016 gilt in der Türkei der Notstand. Mitte April 2017 stimmten nun 51,4 Prozent der Wahlberechtigten für eine Verfassungsänderung, die dem Präsidenten weitreichende Befugnisse verleiht. Der Wahlkampf hatte das Land stark polarisiert, das Referendum war eine Abstimmung für oder gegen das »System Erdoğan«. Aber auch nach der Wahl hat sich die Lage nicht beruhigt – die Opposition zweifelt an der Rechtmäßigkeit der Abstimmung, unter anderem weil kurzerhand 2,5 Millionen ungestempelte Wahlzettel zugelassen wurden. Zudem kam es in den Tagen nach dem Referendum unter dem Vorwurf terroristischer Aktivitäten zu weiteren Massenverhaftungen von Gegnern der Regierungspartei AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi, Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt). Trotz seiner durch das Referendum augenscheinlich bekräftigten Macht steht Präsident Recep Tayyip Erdoğan vor zahlreichen Problemen: Der endgültige Bruch mit der Gülen-Bewegung 2013 bedeutete auch verstärkte Konflikte mit intellektuellen und ökonomischen Eliten. Erdoğans wachsende Machtkonzentration und sein autoritärer Führungsstil stoßen zudem selbst bei ehemaligen Genossen aus dem islamistischen Milli-Görüş-Milieu auf Kritik und Distanzierung. Der ehemalige Präsident Abdullah Gül etwa lehnte es ab, sich bei einer Wahlveranstaltung in seiner Heimatstadt Kayseri für ein »Ja« in der Verfassungsabstimmung stark zu machen. Mit Bülent Arınç, einem anderen langjährigen Weggefährten, war Erdoğan schon in den letzten Jahren auch öffentlich aneinandergeraten, so etwa als Arınç erklärte, die AKP sei nicht »Tayyips Partei«.[1] Der Präsident sieht sich vom eigenen Lager zunehmend dem Vorwurf ausgesetzt, eine Politik zu verfolgen, die nur noch von Eigeninteressen, aber nicht mehr von religiösen Überzeugungen geleitet sei. Noch entscheidender hingegen für die politische Zukunft Erdoğans und der AKP dürfte die wirtschaftliche Situation des Landes sein. Die massive Abwertung der türkischen Lira gegenüber Euro und Dollar, das Einbrechen der Zahlen ausländischer Touristen, eine hohe Arbeitslosigkeit und Inflationsrate, die starke Verschuldung der Bürger und der deutliche Rückgang ausländischer Investitionen könnten trotz der jetzt erreichten Machtposition Erdoğans das Ende der »Ära AKP« einleiten. Auf europäische Unterstützung kann der Präsident nicht zuletzt wegen seines konfrontativen Politikstils kaum mehr bauen; wenig scheint geblieben vom Zauber der frühen Jahre, als die AKP besonders von außenpolitischen Beobachtern als Beispiel für die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie gefeiert wurde. Der folgende Beitrag analysiert die Vorgeschichte und den Werdegang der AKP vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Konflikte seit der Gründung der Republik 1923, im Kontext der parteipolitischen Landschaft seit der Einführung des Mehrparteiensystems 1946 und als Ausdruck der (möglichen) Kontinuität islamistischer Parteien seit den 1970er-Jahren. Die Selbstbezeichnung der AKP als Partei »konservativer Demokraten« wird kritisch hinterfragt.
Innenpolitisch hängen die Wahlerfolge der AKP – besonders in ihren Anfängen – mit den Regierungskrisen der 1990er-Jahre zusammen, die durch instabile Koalitionen und Korruptionsskandale gekennzeichnet waren, sowie mit der einschneidenden Finanzkrise 2001. Über das gesamte politische Spektrum hinweg hatten die Bürger das Vertrauen in die etablierten Parteien verloren. Als die AKP 2001 gegründet wurde und gleich im darauffolgenden Jahr die Wahlen mit 34,4 Prozent der Stimmen klar gewann,[2] war inhaltlich nur wenig über die Partei bekannt. Aufgrund der islamistischen Vergangenheit eines Großteils ihrer Mitglieder befürchteten besonders Anhänger der wichtigsten Oppositionspartei CHP (Cumhuriyet Halk Partisi, Republikanische Volkspartei) und das Militär eine Islamisierung des Landes; sie sahen den säkularen Charakter der Türkei in Gefahr. Durch den damaligen Menschenrechts- und Europäisierungsdiskurs der AKP schöpften hingegen Liberale und Minderheiten in der Türkei, aber auch ausländische Partner Hoffnung, dass die Partei das Land demokratisieren werde. Zum Erstaunen vieler Beobachter war der Erfolg der AKP nicht bloß von kurzer Dauer, sondern setzte sich in den kommenden Jahren fort: 2007 erlangte die AKP 46,6 Prozent der Stimmen, und 2011 erzielte sie mit 49,8 Prozent das beste Ergebnis ihrer Geschichte.
Als die AKP 2002 an die Macht gelangte, versprach sie einen grundlegenden Wandel. Mit ihr sollte eine Aussöhnung der in Nationalismen, unterschiedliche Ideologien und Lebensstile gespaltenen Bevölkerung erreicht werden. Die ursprüngliche Offenheit, das Bekenntnis zum Pluralismus, wandelte sich jedoch mehr und mehr in einen autoritären politischen Stil. Wichtige Ereignisse in diesem Zusammenhang waren die Gezi-Proteste 2013, der Korruptionsskandal von Erdoğan-Vertrauten Ende desselben Jahres und der darauffolgende Bruch mit der Gülen-Gemeinschaft, das Scheitern der Friedensgespräche mit der PKK 2015, der Putschversuch 2016 und schließlich das Verfassungsreferendum 2017. Auch wenn die AKP es weiterhin vermag, große Bevölkerungsgruppen in der Türkei anzusprechen, haben sich die Hoffnungen sowohl ausländischer Regierungen als auch der Liberalen im Land auf Demokratisierung und Pluralisierung zerschlagen. Nach 15 Jahren AKP-Regierung ist die Euphorie verflogen, das Land wirkt zum Zerreißen gespannt. Die Türkei steht nicht nur islamistischen Terroranschlägen hilflos gegenüber, sondern sieht sich seit 2015 mit einer neuen Welle pro-kurdischen Terrors konfrontiert. Eine politische Lösung dieses Konflikts scheint in weite Ferne gerückt, nicht zuletzt, weil wichtige Akteure der gewaltfreien Teile der pro-kurdischen Bewegung, unter anderem die HDP (Halkların Demokratik Partisi, Demokratische Partei der Völker) mit ihren Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, sich wegen angeblicher Terrorunterstützung durch lange Haftstrafen bedroht sehen. Der Vorwurf der Terrorunterstützung richtet sich aber nicht nur gegen islamistische oder pro-kurdische Kräfte, sondern auch gegen andere Oppositionelle in den Medien, der Wissenschaft oder der Justiz. Die Aufweichung des Begriffs belastet die Rechtssicherheit stark. Um zu erklären, wie es zu der heutigen Situation gekommen ist, muss man in der türkischen Zeitgeschichte etwas weiter zurückgehen.
1. Autoritäre Strukturen in Politik und Gesellschaft der Türkei
Autoritäre Elemente prägen das Land nicht erst seit dem Auftreten der AKP. Zwar hat die Türkei seit 1946 ein Mehrparteiensystem, doch war dieses stets durch Defekte wie die starke Rolle des Militärs, die Beschneidung grundlegender Freiheitsrechte und mangelnde innerparteiliche Demokratie gekennzeichnet – um nur einige Schwierigkeiten zu nennen. Eine starke Personalisierung politischer Prozesse ist nicht erst seit Mustafa Kemal Atatürk, dem Gründer und ersten Präsidenten der türkischen Republik, charakteristisch für das Land. Politische Institutionen bzw. institutionalisierte Prozesse des Entscheidens sind hingegen historisch schwach entwickelt. Dominant ist ein starker Kollektivismus, die Unterordnung des Individuums unter eine größere Gruppe, was nur wenig Raum zur Diskussion lässt und den Abweichler schnell als Verräter ausschließt.[3] Diese Einstellung repliziert sich zudem im Rahmen des starken türkischen, aber auch pro-kurdischen Nationalismus. Über all diesem thront ein autoritärer Staat (devlet baba, Vater Staat), der von seinen Bürgern Unterordnung und Gehorsam erwartet.
Zwar ist die Türkei durch vielfältige Formen ungebundenen Engagements besonders in Bezug auf ethnische und religiöse Gruppen geprägt. Auch Demonstrationen oder Streiks sind durchaus kennzeichnend für das politische Leben des Landes, wie beispielsweise die Gezi-Proteste 2013 zeigten. Außenstehende Beobachter verwechseln die reine Existenz einer formal organisierten Zivilgesellschaft (sivil toplum örgütleri) jedoch häufig mit einer starken bürgerlichen Emanzipation gegenüber dem Staat. Vielmehr waren zivilgesellschaftliche Organisationen bereits seit Beginn der türkischen Republik ein Element des kemalistischen nation-building, und damit ein Ausdruck staatlicher Dominanz und Kontrolle. Bis heute lässt sich der überwiegende Teil zivilgesellschaftlicher Organisationen einer bestimmten Partei zuordnen. Gewerkschaften und Berufsvereinigungen existieren häufig in mehrfacher Ausführung entlang parteiideologischer Positionen – ein Zustand, der die Fragmentierung und relative Schwäche zivilgesellschaftlicher Organisationen anzeigt. Auch wenn eine direkte Verbindung zwischen Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen verboten ist, bestehen de facto enge Verbindungen, welche sich informell und über wichtige Personen als Netzwerkknotenpunkte realisieren.[4] Gleiches lässt sich auch im Bereich der Frauenorganisationen, Menschenrechtsgruppen oder bei kulturellen Verbänden beobachten.[5] Ähnliche Schwierigkeiten bestehen in Bezug auf die Medienlandschaft, die schon lange durch stark parteiische bzw. parteipolitische Berichterstattung und Sensationsjournalismus gekennzeichnet war. Auch wenn die AKP im Rahmen ihres Menschenrechts- und Pluralisierungsdiskurses angekündigt hatte, die Pressefreiheit verbessern und sich für eine rationale, nicht-polarisierende Berichterstattung einsetzen zu wollen, ließ sich doch eher eine verschärfte Zensur beobachten. Gerade in den letzten Jahren hat sich die Situation durch Verfahren gegen unliebsame Medien oder deren komplette Schließung sowie durch die Verhaftung von Journalisten weiter verschlechtert – bereits vor, ganz besonders aber nach dem Putsch 2016. Heute lässt sich nicht mehr von einer unabhängigen Medienlandschaft sprechen.[6]
Problematisch ist zudem die Situation türkischer Parteien, die durch ein Fehlen innerparteilicher Demokratie gekennzeichnet sind und eine stark zentralisierte, untereinander identische Organisationsstruktur aufweisen – ein Resultat der rigiden rechtlichen Situation. Aus den juristischen Quellen (der Verfassung, dem Parteiengesetz von 1983 und den jeweiligen Parteistatuten) ergibt sich die Figur eines Parteivorsitzenden (parti başkanı/lideri), der weitreichende Befugnisse hat und seine Partei quasi im Alleingang steuert. Zwar wird er durch die Parteiversammlung gewählt, doch beeinflusst er die Auswahl der Delegierten in solchem Maße, dass seine Wiederwahl eher eine Formsache darstellt, keine Abstimmung mit offenem Ausgang.[7] Um seine durch die Gesetzeslage bereits zentrale Stellung noch weiter auszubauen, muss der Vorsitzende daher versuchen, die Prozesse innerhalb seiner Partei schon ab der Mitgliederebene zu beeinflussen. In diesem Kontext stellen Mitgliederwerbung und Parteibeitritt in türkischen Parteien keinesfalls allein Initiativen kommunaler Parteibüros dar, sondern sind wichtige Elemente der Machtkonsolidierung für die Parteispitze. Dabei bestehen zwei strategische Möglichkeiten: die Kontrolle über Parteibeitritte (bzw. deren Verhinderung) etwa durch das Definieren von Kriterien sowie das Initiieren von Massenbeitritten einer familiären, regionalen oder ethnischen Gruppe zur »eigenen Fraktion«.[8]
Die »regulierende Funktion« der Parteiführung auf der Mitgliederebene wird durch ihren Einfluss auf die Delegiertenbestimmung zu Parteikongressen und die Besetzung parteiinterner Posten noch intensiviert. Die Auswahl der Delegierten für Parteiversammlungen ist ein wichtiges Mittel des Vorsitzenden, um seine Wiederwahl sicherzustellen.[9] Auch bei der Postenbesetzung innerhalb der kommunalen Parteistruktur lässt sich eine starke Einflussnahme der Parteispitze beobachten. Rechtlich gibt es zwei Wege, lokale Funktionsträger zu bestimmen: entweder durch parteiinterne Wahlen oder durch eine Entscheidung der Parteiführung. Die Bestimmung von Kandidaten durch den Vorsitzenden und einen engen Zirkel von Vertrauten stellt die Regel dar. So sind etwa Bürgermeister von der Parteiführung abhängig und haben zum Zeitpunkt der Amtsübernahme keinerlei organische Beziehungen zur Parteibasis. Dies wird aber sowohl in der AKP als auch in anderen Parteien selbst von Mitgliedern selten als problematisch betrachtet. Stattdessen wird ein starker Führer an der Spitze der Partei als überwiegend positiv bewertet. Allein in der Begründung bestehen parteipolitische Unterschiede: Während Mitglieder der kemalistischen CHP das Konzept eher mit einer Figur wie Atatürk als »Prototyp und einzig wahrem Führer« gleichsetzen, berufen sich AKP-Mitglieder generell auf Führung als stabilisierende Kraft, die von der türkischen Gesellschaft »gebraucht« werde.[10] Nicht nur die rechtliche Situation, wie in Bezug auf den Parteivorsitzenden beschrieben, sondern ein gesellschaftlicher Kontext begünstigt bzw. verlangt einen starken Führer und eine klare Gruppenzuordnung. Erdoğan ist daher weniger als Phänomen an sich als vielmehr in seiner Konsequenz außergewöhnlich.
2. Parteienlandschaft und politische Instabilität seit 1923
Gerade in den Jahren nach ihrer Regierungsübernahme 2002 positionierte sich die AKP gegen ein politisches System, das sie – nicht ganz ohne Grund – als undemokratisch bezeichnete, dominiert durch das Militär (Putsche 1960, 1971, 1980, Androhung 1997) sowie die politische, wirtschaftliche und kulturelle Rolle der Kemalisten. Die religiös-konservativen Bevölkerungsschichten hingegen sahen AKP-Anhänger in vielen Bereichen diskriminiert. Diese emotionale Komponente sollte nicht unterschätzt werden; sie erklärt beispielsweise die Energie, mit der sich Erdoğan am politischen Erbe des Republikgründers Atatürk, gleichermaßen sein Vor- und Feindbild, abarbeitet. Nach dem von Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938) geleiteten Befreiungskampf gegen Griechenland, England, Italien, Frankreich und Armenien wurde 1923 die Türkische Republik ausgerufen und eine radikale Westorientierung begonnen, die von stärker religiös geprägten Teilen der Gesellschaft kritisch betrachtet wurde und zu als traumatisch empfundenen Diskriminierungserfahrungen führte. In der neuen Hauptstadt Ankara bestimmte die kemalistische Einheitspartei CHP die Politik.[11] Religiöse Kräfte, in erster Linie die Rechtsgelehrten und religiösen Bruderschaften, wurden von der neuen Regierung als konkurrierende Macht wahrgenommen. Eine Reihe von Reformen, unter anderem die Abschaffung des Kalifats im Jahr 1924, die Verankerung des Säkularismusprinzips in der Verfassung, das Verbot von Sufibruderschaften sowie die Schließung ihrer Versammlungsorte (tekke) und Schreine (türbe) im Jahr 1925 sollten die Macht der religiösen Kräfte eindämmen.[12] 1928 wurde das arabische Alphabet durch lateinische Buchstaben ersetzt. Der Gebetsruf (ezan) erklang seit 1932 auf Türkisch, zwischen 1934 und 1947 war die Pilgerfahrt nach Mekka nicht erlaubt.[13] Diese Schritte, um den gesellschaftlichen und politischen Einfluss religiöser Akteure zu schwächen und durch die staatliche Organisation von Religion zu ersetzen, stießen besonders bei den religiösen Bruderschaften auf Unverständnis und Widerstand, der durch das Regime teilweise gewaltsam niedergeschlagen wurde.
Das Jahr 1946 stellt eine wichtige Zäsur in der Geschichte der Türkei dar. Nach Einführung des Mehrparteiensystems bildete sich mit der DP (Demokrat Partisi, Demokratische Partei) zum ersten Mal auch eine politische Opposition. 1950 löste sie mit Adnan Menderes an ihrer Spitze die CHP-Regierung ab. Die DP kritisierte das Säkularismusgebot und die staatliche »Einheitskultur«, sah sich als Vertreterin der Landbevölkerung sowie städtischer Handwerker und Kleinunternehmer und wollte den gesellschaftlichen und politischen Einfluss des Islam wieder stärken. Hunderte von Moscheen wurden gebaut, religiöse Bruderschaften weniger streng reglementiert und der Gebetsruf auf Arabisch wieder eingeführt.[14] Im Laufe der Zeit nahm die Regierungspraxis der DP immer diktatorischere Züge an und beschnitt grundlegende Rechte der Bevölkerung, wie die Presse- und Meinungsfreiheit. Menderes, der vor 1950 noch den autoritären Stil der CHP kritisiert hatte, verfolgte diesen nun selbst.
Die Regierung Menderes nahm durch den Militärputsch vom 27. Mai 1960 ein jähes Ende, der Ministerpräsident selbst wurde gehängt. Die folgende Militärregierung (1960/61) räumte aus strategischen Gründen dem Islam ähnlich große Bedeutung ein wie zuvor die DP, was etwa der verstärkte Moscheebau, die Restaurierung von Schreinen und das größere Angebot an İmam-Hatip-Schulen[15] zeigte. Religion war in den 1960er-Jahren zwar ein Thema wechselnder Regierungen und Koalitionen, spielte jedoch in den politischen Auseinandersetzungen nur eine untergeordnete Rolle. Viel entscheidender war – im Rahmen internationaler Konflikte – die Spaltung der Gesellschaft in links- und rechtsextremistische Gruppierungen; Studentenproteste, Streiks, aber auch gewaltsame Auseinandersetzungen und politisch motivierte Morde standen auf der Tagesordnung. Die politische Instabilität verstärkte sich zudem durch häufige Regierungswechsel. Wegen anhaltender Unruhen erzwang das Militär im März 1971 den Rücktritt der konservativen Regierung Süleyman Demirels. Dennoch verschärften sich die Auseinandersetzungen zwischen den politischen Lagern in den 1970er-Jahren immer mehr. Nachdem es im Sommer 1980 zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen gekommen war, putschte das Militär am 12. September erneut. In der Folge verhängte es das Kriegsrecht, hunderttausende Bürger wurden inhaftiert. Es kam zu Folterungen, und knapp 50 Bürger starben durch die Todesstrafe. Zahlreiche Vereine und Medien sowie alle politischen Parteien (bis 1983) wurden verboten, zudem wurden die wichtigsten politischen Figuren mit einem mehrjährigen Betätigungsverbot belegt.[16]
Nach dem Ende der Militärherrschaft (1980–1983) wurde Turgut Özal, der Gründer der konservativen ANAP (Anavatan Partisi, Mutterlandspartei), der bereits unter der Militärregierung als stellvertretender Ministerpräsident agiert hatte, zum Premierminister gewählt. Özal personifizierte die neue Ausrichtung der Türkei. Durch seine Familie, die der Nakşibendi-Bruderschaft[17] angehörte, war er einerseits tief religiös verwurzelt. Durch sein Studium in den USA, deren technische Überlegenheit und gesellschaftliche Mobilität großen Eindruck auf ihn machten, verkörperte er andererseits eine Westöffnung und Liberalisierung des Landes.[18]
Aus den skizzierten Entwicklungen ergibt sich, dass die Selbstzuschreibungen türkischer Parteien als »links« und »rechts« nicht unmittelbar in einen europäischen Gebrauch der Begriffe übersetzt werden können. Während das Spektrum »rechter« Parteien (nach türkischem Verständnis) konservative, islamistische und ultra-nationalistische Gruppen einschließt, beschreibt der Begriff »links« neben kommunistischen und marxistischen Parteien insbesondere die kemalistische CHP, aber auch Schwesterparteien wie DSP und SHP, die sich in der Tradition Atatürks verorten. »Links« steht in der Türkei damit eher für Westorientierung und Säkularismus, zugleich jedoch für Staatszentrismus und Nationalismus. Besonders das nationalistische Element, aber auch die Ausblendung sozialer Ungleichheiten ist ein ideologieübergreifendes Charakteristikum fast aller türkischen Parteien. Sowohl Islamismus als auch Kemalismus betonen, dass soziale Gegensätze im Rahmen ihres jeweiligen politischen Projekts verschwinden würden. Während der Kemalismus davon ausgeht, dass sein »zivilisatorisches Modernisierungsprojekt« dies leisten könne, will die AKP dies durch die Solidarität in der sunnitischen Gemeinschaft (umma) verwirklichen.
3. Vorläufer und Anfänge der AKP in den islamistischen Parteien
Seit der Gründung der ersten islamistischen Partei der Türkei im Jahr 1970, der MNP (Milli Nizam Partisi, Nationale Ordnungspartei), erlebten die Aktivisten wiederkehrende Verbote durch den Staat sowie die Wiedergründung unter neuem Namen. Der führende Kopf (und spätere politische Ziehvater Erdoğans) war der Maschinenbauprofessor Necmettin Erbakan. Als prägende Gestalt des türkischen Islamismus bis zu seinem Tod im Jahre 2011 stand er einer Vielzahl von Parteien vor. Sein 1973 erschienenes Buch »Milli Görüş« und die darin vollzogene Synthese von türkischem Nationalismus und Islam begründete die transnationale Milli-Görüş-Bewegung, die auch unter türkischstämmigen Migranten in Deutschland große Popularität genießt. Die Gründungsmitglieder und Wähler der MNP gehörten überwiegend der unteren Mittelschicht an, nicht den wirtschaftlichen oder kulturellen Eliten. Sie waren auf dem Land groß geworden, lebten traditionsbezogen, etwa als Händler, Handwerker oder Kleinunternehmer, und maßen religiösen Normen und Werten große Bedeutung bei.[19] Nach der Auflösung der MNP 1971 formierte sich im Oktober 1972 die MSP (Milli Selamet Partisi, Nationale Heilspartei), die zwischen 1973 und 1980 an drei Regierungskoalitionen beteiligt war. Sie stellte den Islam ins Zentrum ihres politischen Programms, was sich etwa in einem starken Anstieg der Zahl der İmam-Hatip-Schulen und der Einführung eines Ethikunterrichts niederschlug, der de facto ein Religionsunterricht war. Einen Beitritt zur EG oder andere Formen der Westausrichtung lehnte die MSP ab. Die Familie sollte als Keimzelle der Gesellschaft gestärkt, kleine Händler sollten unterstützt werden; befürwortet wurde auch ein zinsloses, aus islamischen Glaubenssätzen hergeleitetes Darlehenssystem. Gemeinsam mit allen anderen türkischen Parteien wurde die MSP infolge des Putsches vom 12. September 1980 verboten.
Nach der Aufhebung der Militärherrschaft im Jahre 1983 gründeten ehemalige MNP-Mitglieder die RP (Refah Partisi, Wohlfahrtspartei). Diese war zum ersten Mal bei den Kommunalwahlen von 1994 erfolgreich, als sie 20 Prozent der Stimmen erlangte. Bei den Parlamentswahlen im Dezember 1995 wurde die RP mit 21,4 Prozent stärkste Partei. 1996/97 besetzte Erbakan innerhalb einer Koalitionsregierung den Posten des Ministerpräsidenten. Nach Vorwürfen, die RP verletze das Säkularismusgebot des Landes, wurde sie im Januar 1998 durch das Verfassungsgericht verboten, und Erbakan wurde jegliche politische Tätigkeit untersagt. Die Parteigeschichte der RP ist für das Verständnis des politischen Erfolgs der AKP besonders interessant – die politischen »Kinderschuhe« der letzteren liegen in den 1990er-Jahren, als die RP beeindruckende kommunale Erfolge feierte. Nicht nur Erdoğan, von 1994 bis 1998 Bürgermeister Istanbuls, sondern auch andere Parteifunktionäre begannen ihre politische Karriere in der RP. Wie eng die Bande aus diesen Zeiten bis heute sind, zeigt sich daran, dass Erdoğan als Premierminister weiterhin auf die Expertise derselben Personen vertraut, die ihm schon in seiner Zeit als Bürgermeister zur Seite standen. Zu seinen früheren kommunalen Mitstreitern gehören zum Beispiel der jetzige Premierminister Binali Yıldırım oder die (früheren) Minister Mehmet Ali Şahin und Erdoğan Bayraktar.
Die wiederholten Verbotserfahrungen islamistischer Parteien, aber auch ihre »Pragmatisierung« durch die Regierungszeit der RP trugen zu einer Professionalisierung ihres politischen Auftretens bei. Ähnlich wie die AKP im Jahre 2002 erreichte bereits die RP durch ein moderateres Programm Erfolg bei weiteren Wählerschichten. Zunächst hatte sie die Wähler der vorherigen islamistischen Parteien umworben, d.h. kleine Händler und Unternehmer ländlicher Herkunft. Der politische Durchbruch geschah 1994, als sich die Partei auch der städtischen Unterschicht zuwandte. In diesem Jahr gewann sie 29 Städte, darunter Ankara und Istanbul.[20] Besonders wichtig für die spätere politische Mobilisierung durch die AKP ist gerade die lokale und nationale Regierungserfahrung der RP. Was zunächst paradox anmuten mag, die Verbindung eines streng hierarchischen Parteiaufbaus mit großer Flexibilität im Umgang mit lokalen Unterschieden, ist tatsächlich einer der wichtigsten Gründe für die andauernden Wahlerfolge der AKP. Anstatt, wie etwa die CHP, starr eine politische Ideologie auf das ganze Land anwenden zu wollen, zeigt sich die AKP variabel – sowohl was das unterschiedliche »Verpacken« ihrer politischen Botschaft angeht als auch im Hinblick auf die Anpassung an regional unterschiedliche Machtgefälle und dominante Gruppen. Damit hat sie es vermocht, informelle gesellschaftliche Hierarchien, die etwa durch die Zugehörigkeit zu ethnischen oder religiösen Gruppen bestehen, in ihre Parteistrukturen zu integrieren.[21] Ihre flexible politische Ideologie ermöglicht es der Partei, je nach Kontext stärker religiöse, nationalistische oder wirtschaftliche Elemente zu betonen. Auch in der Einbeziehung lokaler Eliten als Netzwerk- und Patronageknotenpunkte zeigt sich die AKP sehr viel pragmatischer als andere Parteien, die eine stärkere ideologische Unterordnung verlangen. Dadurch ist die AKP in allen Regionen des Landes erfolgreich; sie überwindet geographische, ethnische und soziale Grenzen.
Auch wenn klientelistische Transferleistungen in der AKP eine Rolle spielen (wie in anderen türkischen Parteien ebenfalls), so sind die emotionalen Aspekte ihrer politischen Strategie nicht weniger wichtig. Diese vermitteln dem potentiellen Wähler (nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland) ein Gefühl der Verbundenheit, der Aufgehobenheit in einer größeren Gruppe und des Stolzes. Dafür spielt die von der RP übernommene effiziente Organisationsstruktur der AKP eine zentrale Rolle: So hat jede Nachbarschaft einen Leiter, der wiederum Straßenverantwortliche ernennt und selbst einem Gebietsleiter unterstellt ist. Die einzelnen Glieder gehen durch entsprechende Besetzung auf lokale Besonderheiten ein; ein Erzurumlu (jemand, der ursprünglich aus Erzurum stammte und von dort zum Beispiel nach Istanbul migriert war) ist für ein Viertel aus weiteren Erzurumlu zuständig. Durch diese Aufstellung wird der Tatsache Rechnung getragen, dass Migranten meist in Stadtvierteln mit Migranten aus demselben Dorf bzw. derselben Heimatregion leben.[22] Die Partei erreicht daher die potentiellen Wähler nicht nur über ein abstraktes politisches Programm oder über klientelistische Leistungen, sondern in erster Linie über persönliche Beziehungen; sie baut ein Gefühl von Loyalität auf.
Der Erfolg der RP in den 1990er-Jahren erklärt sich sowohl durch die steigende soziale Ungleichheit und Korruption dieser Zeit als auch durch das weltweite Phänomen des erstarkenden Islamismus. Große Teile einer verarmten Landbevölkerung waren, beginnend in den 1950er-Jahren, mit der Hoffnung auf Arbeit in die Städte sowie ins (überwiegend europäische) Ausland migriert, vor allem in Orte der Westküste und in Ballungszentren wie Istanbul und Ankara. Diese starken Migrationsbewegungen konnten von den Städten häufig nicht absorbiert werden, und die Menschen lebten in semi-legalen Behausungen auf öffentlichem Grund, die als gecekondu (»über Nacht erbaut«) bekannt wurden.[23] Zusätzlich zu einem starken wirtschaftlichen Gefälle wurden die Migranten wegen ihres als rückständig empfundenen Lebensstils von vielen langjährigen Städtern als Fremde gesehen. Die Migranten hatten sich überwiegend nicht in den kemalistisch geprägten urbanen Lebensstil integriert; stattdessen behielten sie die Traditionen und Werte ihrer Heimatregionen bei. Dadurch unterschieden sie sich kulturell, wirtschaftlich und sozial von den ursprünglichen Stadtbewohnern, was die Ausgrenzung bzw. ihre eigene »Abkapselung« verstärkte. Die RP war bei dieser städtischen Unterschicht mit ihrem als adıl düzen (»Gerechte Ordnung«) bekannten Programm besonders erfolgreich. Es enthielt einerseits Forderungen, die sich auf die Interessen der Arbeiter bezogen (etwa nach der Einrichtung eines Wohlfahrtsstaates und nach weiterer Industrialisierung), aber auch auf konservative Positionen abzielende Forderungen wie die stärkere Verankerung des Islam in Politik und Gesellschaft. Die gemeinsame Religion – und nicht Ethnie oder Staat – wurde von der RP als die wichtigste Verbindung zwischen den Türken proklamiert; die Anerkennung der (sunnitischen) Kurden als ethnische Minderheit war für die Partei daher unproblematisch. Eine vergleichbare Position fand sich bis zum Scheitern der Friedensgespräche mit der PKK im Frühjahr 2015 auch bei der AKP.
Kemalistische Kreise in Politik, Militär, Justiz und Wirtschaft sahen durch den politischen Erfolg der RP ihre Stellung gefährdet. Im Februar 1997 forderte das Militär Erbakan auf, einen Maßnahmenkatalog mit zahlreichen Forderungen umzusetzen, so etwa die Verlängerung der Grundschulzeit von fünf auf acht Jahre, um religiöse Erziehung einzugrenzen, und ein universitäres Kopftuchverbot. Obwohl Ministerpräsident Erbakan versprach, die Forderungen rasch zu erfüllen, wurde die RP im Januar 1998 durch das Verfassungsgericht verboten. In Voraussicht dieses Verbots hatten Parteiaktivisten bereits Ende 1997 die FP (Fazilet Partisi, Tugendpartei) gegründet. Sie zeichnete sich durch eine weitere Mäßigung des politischen Programms aus; gesellschaftliche Werte wurden nicht mehr aus dem Islam, sondern aus der Tradition abgeleitet. Auch die Aufhebung des Säkularismusgebots war keine Forderung mehr. Der Wunsch nach Ausbau religiöser Freiheiten wurde nur noch innerhalb eines weiteren Menschenrechtsdiskurses formuliert. Im Zusammenhang mit dem oft als »postmodern« bezeichneten Militärputsch von 1997 gegen die Regierung Erbakan waren viele religiöse oder religiös inspirierte, kulturelle, politische und wirtschaftliche Netzwerke verboten worden. Die Aktivisten der RP hatten erkannt, dass die Zustimmung der Wähler allein sie nicht vor einem Verbot bewahren konnte; im Konflikt mit den Kemalisten war die Annäherung an den Westen und seinen Menschenrechtsdiskurs daher auch strategisch motiviert. Der Menschenrechtsdiskurs der islamistischen Parteien enthält darüber hinaus die Forderung nach politischer, wirtschaftlicher und kultureller Teilhabe und der Anerkennung der eigenen Lebensweise durch die gesamte Gesellschaft. In den Wahlen 1998 wurde die FP mit 15,4 Prozent nur drittstärkste Partei und verlor im Vergleich zur RP Stimmen an kurdisch- und türkisch-nationalistische Konkurrenten. Wegen angeblicher anti-säkularer Aktivitäten wurde die FP 2001 durch das Verfassungsgericht verboten. Im selben Jahr kam es zur Spaltung der Bewegung in AKP und SP (Saadet Partisi, Glückseligkeitspartei). Dies war nicht nur eine inhaltliche Differenz, sondern auch eine machtpolitische Loslösung der Gruppe um Erdoğan, Arınç und Gül von ihrem »Ziehvater« Erbakan.
Die AKP vollzog in ihrer öffentlichen Selbstdarstellung einen Bruch mit dem Islamismus und präsentierte stattdessen ihr politisches Konzept »Konservative Demokratie« (muhafazakar demokrasi).[24] Wichtigstes Dokument ist ein Buch darüber, das 2004 von Erdoğans Berater Yalcın Akdoğan verfasst und von der AKP herausgegeben wurde. Im selben Jahr veranstaltete die Partei zudem einen Kongress zum Thema Konservative Demokratie, der sich an Parteimitglieder richtete, aber auch an externe Beobachter. Im Rahmen dieses Diskurses wollte die AKP Pluralismus und Menschenrechte ins Zentrum ihrer politischen Arbeit gestellt sehen. Sie versprach eine Öffnung für das Land, indem sie keine Ideologie vorgeben und religiöse und ethnische Merkmale nicht zur politischen Mobilisierung nutzen werde.[25] Das Konzept der Konservativen Demokratie ist allerdings problematisch, blieb die AKP in der Definition doch sehr vage. Die Partei kündigte an, ihr Konzept werde sich durch die Regierungspraxis erklären – die freilich durch starke Schwankungen und ein flexibles Reagieren auf sich verändernde Machtverhältnisse gekennzeichnet ist. Mit zunehmender Machtkonsolidierung lässt sich bei der AKP außerdem ein stark schwindendes Interesse an ihrer ideologischen Profilierung feststellen. Auch wenn die AKP sich gerade in ihren ersten Jahren stark auf den politischen Konservatismus à la Özal bezog oder auf die erste konservative Partei der Türkei, die 1946 gegründete Demokrat Partisi, ist sie sowohl inhaltlich als auch personell in der Tradition der islamistischen Parteien verankert. Die Selbstverortung der Akteure als »konservative Demokraten« scheint damit eher im Hinblick auf außenpolitische Beobachter und Kritiker innerhalb der Türkei sowie auf ein anfangs drohendes Parteiverbot gewählt worden zu sein. Inwieweit dies allein instrumentellen Charakter hatte bzw. zum Zeitpunkt der Formulierung der Überzeugung vieler Aktivisten und Wähler entsprach, lässt sich auch im Rückblick nicht klar entscheiden. Eindeutig ist jedoch, dass die AKP im Laufe ihrer Regierungszeit zunehmend autoritärer agiert. War sie anfangs – schon wegen der kemalistischen Dominanz im Staatsapparat – noch für einen zurückgenommenen Staat, für Dezentralisierung und Pluralisierung eingetreten, ist die Situation nun eine völlig andere. Die AKP, und in erster Linie »ihr« Präsident Erdoğan, regiert nicht nur, sondern hat vielmehr den Staat fest in der Hand.
Seit ihrer Gründung kämpft die Türkei mit einer Reihe systemimmanenter Probleme wie etwa einem instabilen politischen System, einem häufigen Eingreifen des Militärs und vielfältigen sozialen Spaltungen. Die AKP schien die beschriebenen Probleme zunächst aktiv anzugehen, tatsächlich aber verstärkte sie diese weiter. Erdoğan ist damit zwar als extreme Ausprägung, aber als durchaus symptomatisch für das türkische Parteiensystem zu verstehen.
Optimistische Beobachter argumentieren, dass sich eine Gegenbewegung entwickelt habe – etwa während der Gezi-Proteste 2013 oder beim Referendum 2017. Genaueres Hinsehen zeigt jedoch, dass sich diese Bewegung in großen Teilen allein gegen die AKP-Regierung richtet, nicht aber entschieden für eine unabhängige Justiz, für innerparteiliche Demokratie, Meinungsfreiheit und Minderheitenrechte eintritt. Statt Erdoğan als autoritären Einzelfall zu verdammen, muss die zeithistorische Forschung vielmehr Fragen der Kontinuität solcher Positionen in unterschiedlichen Phasen türkischer Innenpolitik berücksichtigen. Ohne aus normativer Sicht einen autoritären Politikstil pauschal zu verurteilen, ist zu analysieren, warum diesem innerhalb des Landes überwiegend Akzeptanz entgegengebracht wird. Politikwissenschaftliche, historische, ethnologische und soziologische Zugänge müssen dabei ineinandergreifen. Dazu gehört nicht nur der historische Rückblick bis ins Osmanische Reich, sondern verstärkt auch der Vergleich zwischen unterschiedlichen Parteien. Statt gebetsmühlenartig das Argument der Konfliktlinien zwischen Islamismus und Laizismus zu wiederholen, ist stärker zu fragen, wie sich diese in Bezug auf Klassenzugehörigkeit, Sozialisation und Region abbilden bzw. daraus entstehen und welche Gemeinsamkeiten im Hinblick auf demokratische oder antidemokratische Werte existieren. Nicht zuletzt müssen sich künftige Analysen stärker mit dem türkischen Nationalismus beschäftigen – neben dem Autoritarismus die wichtigste Konstante türkischer Innenpolitik. Präsident Erdoğan versteht es meisterlich, aus der Nicht-Anerkennung oder sogar Demütigung zahlreicher Türken im In- und Ausland durch seine Schwarz-Weiß-Rhetorik Unterstützung für die eigene Politik abzuleiten. Die Macht, die er durch seinen konfrontativen Politikstil ausstrahlt, und sein fast tägliches Erscheinen in ausländischen Medien vermitteln vielen türkischen Bürgern das Gefühl, die Türkei werde außenpolitisch nun endlich genügend wahrgenommen. Gerade im Hinblick auf die in Deutschland lebenden Türken und die engen Beziehungen der beiden Länder ist ein tieferes Verständnis der innenpolitischen Dynamik der Türkei und ihrer historischen Genese auch hierzulande dringend nötig.
Abkürzungen |
|
AKP |
Adalet ve Kalkınma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt) |
ANAP |
Anavatan Partisi (Mutterlandspartei) |
CHP |
Cumhuriyet Halk Partisi (Republikanische Volkspartei) |
DP |
Demokrat Partisi (Demokratische Partei) |
DSP |
Demokratik Sol Parti (Demokratische Linkspartei) |
FP |
Fazilet Partisi (Tugendpartei) |
HDP |
Halkların Demokratik Partisi (Demokratische Partei der Völker) |
MNP |
Milli Nizam Partisi (Nationale Ordnungspartei) |
MSP |
Milli Selamet Partisi (Nationale Heilspartei) |
PKK |
Partiya Karkerên Kurdistanê (Arbeiterpartei Kurdistans) |
RP |
Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) |
SHP |
Sosyaldemokrat Halkçı Parti (Sozialdemokratische Populistische Partei) bzw. Sosyaldemokrat Halk Partisi (Sozialdemokratische Volkspartei) |
SP |
Saadet Partisi (Glückseligkeitspartei) |
Anmerkungen:
[1] Amberin Zaman, Eyes turn to Gul as countdown begins to Turkish referendum, in: Al Monitor, 3.4.2017; Lenz Jacobsen, Aufstand am Hofe Erdoğans, in: ZEIT, 24.3.2015; Rengin Arslan, Bülent Arınç: Bu parti Tayyip’in partisi değildir [Bülent Arınç: Diese Partei gehört Tayyip nicht], in: BBC Türkçe, 17.6.2016.
[2] Wegen der 10-Prozent-Hürde errang die AKP mit nur einem Drittel der Stimmen die absolute Mehrheit der Mandate. Neben ihr schaffte allein die CHP (mit 19,4 Prozent) den Einzug ins Parlament.
[3] Jenny B. White, Muslim Nationalism and the New Turks, Princeton 2013; dies., Fear and Loathing in the Turkish National Imagination, in: New Perspectives on Turkey 42 (2010), S. 215-236.
[4] Charlotte Joppien, Municipal Politics in Turkey. Local Government and Party Organisation, London 2017 (erscheint vorauss. im Oktober).
[5] İlgü Özler/Ani Sarkissian, Stalemate and Stagnation in Turkish Democratization: The Role of Civil Society and Political Parties, in: Journal of Civil Society 7 (2011), S. 363-384; Stéphane Yerasimos, Civil Society, Europe and Turkey, in: ders./Günter Seufert/Karin Vorhoff (Hg.), Civil Society in the Grip of Nationalism. Studies on Political Culture in Contemporary Turkey, Istanbul 2000, S. 11-23; Ulaş Bayraktar, The Matrix of Citizen Participation. Leaders, Civil Society and Coalitions in Turkish Cities, CINEFOGO Working Papers, Working Paper No. 3, 2007.
[6] Laut der Organisation »Reporter ohne Grenzen« etwa liegt die Türkei nur noch auf Platz 155 von 180 Staaten in Bezug auf die Pressefreiheit (Stand April 2017): <https://www.reporter-ohne-grenzen.de/türkei/>.
[7] Arda Can Kumbaracıbaşı, Turkish Politics and the Rise of the AKP. Dilemmas of Institutionalization and Leadership Strategy, London 2009.
[8] Charlotte Joppien, Ohne Lider geht hier nichts! Eine Untersuchung der kommunalen Sichtbarkeit und Einflussnahme des Parteivorsitzenden, in: Klaus Kreiser u.a. (Hg.), Junge Perspektiven der Türkeiforschung in Deutschland, Wiesbaden 2014, S. 117-132.
[9] Ulaş Bayraktar/Cemal Altan, Explaining Turkish Party Centralism. Traditions and Trends in the Exclusion of Local Party Officers in Mersin and beyond, in: Elise Massicard/Nicole F. Watts (Hg.), Negotiating Political Power in Turkey. Breaking up the Party, London 2013, S. 17-36; Pelin Ayan, Authoritarian Party Structures in Turkey. A Comparison of the Republican People’s Party and the Justice and Development Party, in: Turkish Studies 11 (2010), S. 197-215.
[10] Joppien, Municipal Politics in Turkey (Anm. 4).
[11] Die von Atatürk gegründete CHP regierte bis 1946 in einem Einparteiensystem. Sie war hierarchisch aufgebaut und versuchte das Land durch eine staatlich gelenkte Bildungs- und Kulturpolitik zu modernisieren.
[12] Erik J. Zürcher, Turkey. A Modern History, London 1993, S. 180f.
[13] Ebd., S. 196.
[14] Ebd., S. 244f.
[15] İmam-Hatip-Schulen bilden Vorbeter und Prediger aus. Theoretisch berechtigte zwischen 1951 und 1971 der Abschluss einer İmam-Hatip-Schule nur zum Studium an den Yüksek İslam Enstitüleri (theologisches Studium), viele Schüler schrieben sich aber parallel noch an einer anderen Schule für die Abschlussprüfungen ein, um sich so auch die Option auf andere Studienfächer zu eröffnen.
[16] William M. Hale, Turkish Politics and the Military, London 1994.
[17] Die Nakşibendi-Bruderschaft ist eine der einflussreichsten Bruderschaften der Türkei. Sie entstand im 14. Jahrhundert in Buchara, ihr prägnantes Merkmal ist das Praktizieren des schweigenden Gedenkens an Gott.
[18] Klaus Kreiser/Christoph K. Neumann, Kleine Geschichte der Türkei, Bonn 2006.
[19] M. Hakan Yavuz, Islamic Political Identity in Turkey, Oxford 2003.
[20] Ruşen Çakır, Ne Şeriat Ne Demokrasi. Refah Partisini Anlamak [Weder Scharia noch Demokratie. Die Wohlfahrtspartei verstehen], Istanbul 1994; Ugur Akıncı, The Welfare Party’s Municipal Track Record. Evaluating Islamist Municipal Activism in Turkey, in: Middle East Journal 53 (1999), S. 75-94.
[21] Joppien, Municipal Politics in Turkey (Anm. 4).
[22] Jenny B. White, Islamist Mobilization in Turkey. A Study of Vernacular Politics, Seattle 2002.
[23] Für eine gute und ausgewogene Einführung in die Thematik siehe Kemal H. Karpat, The Genesis of the Gecekondu: Rural Migration and Urbanization (1976), in: European Journal of Turkish Studies 1 (2004), URL: <https://ejts.revues.org/54>; Tahire Erman, Becoming »Urban« or Remaining »Rural«. The Views of Turkish Rural-To-Urban Migrants on the »Integration« Question, in: International Journal of Middle East Studies 30 (1998), S. 541-561.
[24] Charlotte Joppien, Die türkische Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP). Eine Untersuchung des Programms »Muhafazakar Demokrasi«, Berlin 2011.
[25] Ebd.
Zum Weiterlesen:
Berna Pekesen, Vergangenheit als Populärkultur. Das Osmanenreich im türkischen Fernsehen der Gegenwart (ZF 1/2015)