- Medien- und Marktwandel: Geschichte als Verkaufsargument
- Fotografierte Geschichte archivarisch herstellen
- Die Umwidmung als gedächtnispolitischer Akt
- Fazit
Kommerzielle Bildanbieter entledigen sich zunehmend ihrer analogen Fotoarchive. Dabei geht es nicht selten um Millionen von Fotografien. Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage, wie es bei solchen Anbietern um die Wertschätzung ihres analogen Fotoerbes steht. Die Antwort scheint entsprechend einfach zu sein: Solche Bestände werden gering geschätzt. Die Fotoarchive werden abgegeben oder gar vernichtet, weil sie für ihre Besitzer mehr Verlust als Profit einbringen. In manchen Fällen übernehmen öffentliche Gedächtnisinstitutionen wie Archive, Museen und Bibliotheken die Bestände und widmen sie von Gebrauchs- zu historischen Fotoarchiven um.[1] Dies hat im Zusammenspiel mit der allgemeinen Digitalisierung der Fotografie das Bewusstsein für die Historizität alter Pressefotografien und damit für ihren kulturellen sowie wissenschaftlichen Wert geschärft.[2] Die einst massenhaft für den Verkauf hergestellten Gebrauchsbilder gelten heute als zeithistorische Dokumente. In der medialen Öffentlichkeit wird vollmundig vom »visuellen«[3] oder vom »fotografischen«[4] Gedächtnis eines ganzen Landes geschrieben.
In diesem Zusammenhang erscheint mir die Frage nach der Verantwortung derjenigen Institutionen bedeutsam, die sich nach der Übernahme ehemals kommerziell genutzter Bestände um das analoge Fotoerbe kümmern. Ich möchte die These aufstellen, dass das heutige analoge Erbe kommerzieller Bildanbieter in seiner materiellen Form und Ordnung eine Begleiterscheinung der Digitalisierung ist; es ist in nicht unerheblichem Maße ein Produkt archivarischer Umformungen der letzten 35 Jahre. Die millionenfach in Pressefotografien archivierte Vergangenheit ist eine in den Archiven von Bildagenturen und Verlagen gezielt hergestellte Kommerz-Geschichte.
Daran knüpft eine zweite Frage an: Weshalb sollten öffentlich finanzierte Gedächtnisinstitutionen solche riesigen Fotoarchive übernehmen, die auf einen Schlag kaum absehbare Kosten für Magazinraum, Bewertungsprozess, Erschließung und digitale Speicherung mit sich bringen? Bisher kaum beleuchtet und wohl auch erst ansatzweise fassbar ist zudem die Tatsache, so meine zweite These, dass öffentliche Institutionen, wenn sie Pressefotoarchive übernehmen, durchaus gedächtnispolitische Interessen verfolgen.[5]
1. Medien- und Marktwandel:
Geschichte als Verkaufsargument
Von den Universalanbietern wie Corbis und Getty über Verlage wie Ullstein und Ringier bis hin zu Nachrichtenagenturen wie AP oder Keystone: Was kommerzielle Bildanbieter heute selbstverständlich als historische Bilder offerieren, hat seine Anfänge in den 1970er-Jahren. Die Vermarktung alter Pressebilder, mit der die Etablierung eines eigenen Bildtyps einhergeht, muss vor dem Hintergrund der in dieser Zeit einsetzenden datenbankgestützten Erschließung verstanden werden.
1970 begann sich der Bildermarkt in mehrfacher Hinsicht nachhaltig zu verändern. Begleitet vom Durchbruch des Fernsehens zum Massenmedium in den 1960er-Jahren büßten Zeitschriften und Zeitungen deutlich an Auflage ein.[6] Dadurch änderten sich auch die Absatzmöglichkeiten für Bildagenturen; der Markt verdichtete sich zunehmend. Nicht wenige Agenturen mussten den Betrieb einstellen, und finanziell potente Bildanbieter verleibten sich deren Archivbestände ein.[7] Zugleich drängte sich im Fahrwasser der US-Pioniere Image Bank und Comstock ein neuer Typ Bildanbieter in den Markt: die Stock-Photography-Agenturen.[8] Sie perfektionierten die Herstellung sowie die archivarische und logistische Bewirtschaftung von (allgemeinen, nicht in erster Linie historischen) Symbolbildern zum höchst profitablen Geschäftsmodell – und sie nutzten dafür auch die neuen Möglichkeiten des Computers. Von der Konkurrenz bedrängt, sahen sich etablierte Agenturen und Medienverlage zunehmend dazu veranlasst, ihre Archive ebenfalls mit Hilfe von Datenbanken zu verwalten.[9]
Der enge Zusammenhang von marktwirtschaftlicher Lage und technischer Entwicklung im Bereich der EDV führte zu einer drastischen Verschiebung der Archivnutzung. Neue, mit Hilfe von Datenbanken erschlossene Bildbestände wurden etabliert. Die älteren, zumeist von Nachrichten- und Reportageagenturen aufgebauten Fotobestände verschwanden in Abstellkammern und Kellerabteilen. Ihre über Jahre gewachsenen Ordnungs- und Klassifikationssysteme stießen um 1980 an die Grenzen der wirtschaftlichen Effizienz und Effektivität: Sie genügten den Ansprüchen einer kosten- und zeitsparenden Archivverwaltung nicht mehr. Die Vorstellung, dass solche Fotoarchive dereinst in die Hände öffentlicher Institutionen übergehen würden, war damals (fast) undenkbar.[10] In den Archiven kommerzieller Anbieter bahnte sich jedoch im Zuge dieser Entwicklung unter den mit der Archivierung und der Dokumentation betrauten Personen eine Wahrnehmungsverschiebung an. Sie begannen die jahrzehntelang gesammelten Fotos als ökonomisch verwertbare Vergangenheit zu bewirtschaften. Im Laufe der 1980er-Jahre entfaltete sich gerade im deutschsprachigen Raum in Bezug auf die Krisen- und Kriegszeit der 1930er- und 1940er-Jahre eine breite medienöffentliche Erinnerungskultur; der Zusammenbruch der Sowjetunion und weiterer sozialistischer Herrschaftssysteme verstärkte diese Historisierungsimpulse zusätzlich. Bereits 1980 stellte beispielsweise der Leiter des 1979 neu gegründeten Ringier-Dokumentationszentrums in Zürich eigens einen Historiker ein, um die alten Fotobestände zu sichten und neu zu ordnen.[11] Zuerst noch vereinzelt, dann zunehmend systematischer begannen Bildanbieter damit, ihr Material nach neuen thematischen Kriterien zu sortieren und die historische Dimension ihrer Archive aktiv als Verkaufsargument zu positionieren.
Die auf der Fotografie zu sehende Vergangenheit erhielt den Status des Authentischen; fotografische Aufnahmen schienen die dort dokumentierte Vergangenheit zu vergegenwärtigen und zu beglaubigen. Anfänglich drückte sich dieses Authentizitätsempfinden von Archivarinnen und Dokumentaren noch eher unscheinbar über Berichtigungen von Bildlegenden aus, um das Abgebildete korrekt zu beschreiben. Ab den 2000er-Jahren warben kommerzielle Bildanbieter in Broschüren, Zeitungsbeiträgen und Konzeptpapieren schließlich explizit damit, »authentische« zeitgeschichtliche Fotodokumente im Angebot zu haben.[12]
2. Fotografierte Geschichte archivarisch herstellen
Die sich ändernde Wahrnehmung alter Pressefotografien war begleitet von Versuchen, die »historischen« Bestände an die neuen, von Datenbanken und Abfrageprogrammen geprägten archivarischen Verwaltungsweisen anzupassen. Erst die Erschließung der Bild- und Archivinformationen in Datenbanken reintegrierte die alten Fotobestände in die zunehmend vom Personal Computer geprägte Fotoarchivverwaltung. Nur über die Such- und relationale Kombinierbarkeit der Bild-Metadaten in Datenbanken, und seit Ende der 1990er-Jahre dann auch der digitalen Bilder, schien die effektive und effiziente Bewirtschaftung der Archive gewährleistet. Die zumeist immense Anzahl alter Pressefotos machte jedoch eine vollständige EDV-Erschließung unmöglich. Wohl auch aufgrund dieser Umstände filterten Agenturen und Verlage bereits ab Mitte der 1980er-Jahre fortlaufend bestimmte Bilder aus den Beständen heraus, um diese neu zu sortieren und aufzubereiten.
Solche materiellen Archivpraktiken waren äußerst vielfältig und veränderten über Jahre hinweg die gewachsenen Ordnungen der Archive. Manche Fotografien wurden nach ihrer EDV-Erschließung lediglich entsprechend markiert und wieder in die ursprünglichen physischen Ordnungslogiken zu den nicht aufbereiteten Bildern abgelegt. Für bestimmte Themen wurden ganze Bestände komplett neu zusammengestellt. Deren Bilder waren zuvor gezielt aus anderen, bereits vorhandenen Fotobeständen in den Archiven ausgefiltert worden. Da sich die Auswahlentscheidungen und Aufbereitungen der Fotografien an jeweils aktuellen oder vermuteten Nachfragen orientierten, gab es immer wieder neue archivarische Aufbereitungsprojekte und -wellen, um das Angebot an historischem Bildmaterial aufzufrischen.[13] Der Ringier-Verlag stellte beispielsweise zwischen 1980 und 1986 aus alten Pressefotografien einen komplett neuen Archivbestand zum Thema Zweiter Weltkrieg zusammen. Die Bildagentur Keystone Schweiz begann Mitte der 1990er-Jahre damit, die alten Fotobestände mit Hilfe eines neuen Schlagwort-Katalogs digital zu erschließen, um die bisherigen semantischen Ablagestrukturen des Archivs zu überarbeiten. Die Bildanbieter erhofften sich von diesen Maßnahmen eine bessere kommerzielle Verwertbarkeit der historischen Fotografien, also eine entsprechende Nachfrage durch Bildredakteure.
Die Filter- und Aufbereitungskriterien orientierten sich dabei immer an aktuellen Geschehnissen und vorherrschenden Sichtweisen. Dass Ringiers Dokumentare in den 1980er-Jahren gerade Fotografien aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs aus den alten Archivbeständen neu organisierten, hing mit einer aufkeimenden medienöffentlichen Erinnerungskultur zusammen. Die semantischen Ordnungen des Bestandes spiegeln dabei die in der Schweiz dieser Jahre noch vorwiegend positiv gefärbte Sicht auf die Rolle der Armee und auf die vermeintliche Neutralität des Landes in der Kriegszeit.[14]
In den Archiven gesucht wurden zudem historische Bilder von berühmten Persönlichkeiten und Ereignissen aus Politik, Kultur, Showbusiness und Sport. Diese historischen Referenzbilder, die einen in der jeweiligen Zeit verhandelten oder in der Erinnerungskultur gegenwärtigen Zusammenhang symbolisierten, wurden, wie erwähnt, neu organisiert und erschlossen.[15] Damit einhergehend erhielten sie neue, im Zuge der digitalen Erschließung oft an internationale Standards wie IPTC Photo Metadata oder die Dublin Core Metadata Initiative angelehnte semantische Archiveinbettungen. Die bestehenden und über Jahrzehnte gewachsenen, oft von Archivarinnen und Dokumentaren in den Fotoarchiven der Agenturen und Verlage selbst nach Bedarf entworfenen Wissensordnungen wurden abgelöst. Die nun neu zugewiesenen Schlagworte wie »Geschichte«, »historische Aufnahme« oder »Archivbild« signalisieren die veränderte Wahrnehmung: Die vermeintlich vergangene und in alten Pressefotografien abgebildete sowie referenzierte Geschichte ist somit das Produkt einer späteren Wirkmächtigkeit der Bilder und ihrer archivarischen Aufbereitungen. Dass die Fotoarchive zum wertvollen Bestandteil des analogen Kulturerbes werden konnten, resultierte entscheidend aus der von den Anbietern selbst seit den 1980er-Jahren forcierten Herstellung »historischen« Bildmaterials.
3. Die Umwidmung als gedächtnispolitischer Akt
Wie ist es also einzustufen, wenn Gedächtnisinstitutionen die von ihnen übernommenen Pressebildarchive euphorisch als »Bilderschatz«[16] oder »Fundus nationaler Geschichte«[17] betiteln, wie das in der Schweiz 2009 und 2012 der Fall war? Dass die Bewahrung von mehreren Millionen Pressefotografien mit einem massiven Kostenaufwand verbunden ist, liegt auf der Hand. Hinter dem angeblichen Problem, Besitzer gigantischer Bildarchive zu sein, verstecken sich jedoch gedächtnispolitische Motive. Gerade an den langfristigen Übernahmekosten – die bei öffentlichen Institutionen durch Steuergelder gedeckt werden – lässt sich aufzeigen, dass solche Übernahmen durchaus politisch legitimiert werden müssen.
So hat das Staatsarchiv des Kantons Aargau im Frühjahr 2008 die Bestände des analogen Fotoarchivs des Ringier-Verlags zuerst begutachten lassen, bevor es die Schenkung des Fotoarchivs inklusive einer Mitgabe im niedrigen sechsstelligen Frankenbereich 2009 definitiv angenommen hat.[18] Aus einem internen Protokoll der Bildabteilung des Verlags geht hervor, dass zunächst der kulturhistorische Wert und der Zustand des Archivs eingeschätzt werden sollten, damit das »Staatsarchiv seinerseits eine Übernahme begründen kann«[19] – eine Übernahme, bei der allein schon für das Sicherungs- und Evaluationsprojekt Ringier Bildarchiv in den ersten fünf Jahren rund eine Million Franken aufgewendet wurden.
Weil Fotoagenturen und Presseverlage privatwirtschaftlich orientierte Unternehmen sind, unterliegen sie gegenüber staatlichen Gedächtnisinstitutionen keiner Anbietungspflicht; sie könnten ihre Fotoregistraturen und -archive einfach vernichten. Zum Beispiel hat der Ringier-Verlag bereits 1979 bei der Zusammenführung verschiedener Redaktionsbestände ganze Abfallmulden mit Glasplatten entsorgt. Und viele kleinere Bildanbieter wie die Schweizer Agentur Dukas vernichteten ihre Fotoarchive im Zuge der Umstellung von analoger auf digitale Fotografie.[20] Gedächtnisinstitutionen wollen sich also diese historischen Überreste aus der Vergangenheit sichern, weil damit Geschichte gemacht werden kann – und weil das Historikerinnen und Historikern erst ermöglicht, bestimmte Geschichten zu schreiben. Die Übernahmen sind daher auch eine Reaktion auf einen zunehmenden Methoden- und Theoriepluralismus innerhalb der historischen Wissenschaften.
Im Zuge der seit Mitte der 1990er-Jahre stattfindenden Hinwendung zu Bildern hat sich – immer auch vor dem Hintergrund der fortschreitenden digitalen Verfügbarkeit von Bildern – das wissenschaftliche Interesse am Medium Fotografie stark erhöht. Das schlägt sich besonders in einer seit der Jahrtausendwende steigenden Anzahl von Einführungen nieder, die sich mit unterschiedlichen Reichweiten dem Thema Fotografie und Geschichte widmen.[21] Die archivarische und museale Sicherung sowie Erschließung von mehreren Millionen Pressefotos ist ein Versuch, diese neuen Strömungen in der historischen Forschung und Vermittlung aufzugreifen und nach Möglichkeit zu bedienen. Denn trotz der schieren Menge an hergestellten Negativen, Dias und Abzügen führte die Pressefotografie abseits von kanonisierten Fotoreportern und illustrierten Zeitschriften bis vor kurzem eher ein Nischendasein. Die im Zuge ihrer Umwidmung zu Geschichtsarchiven erfolgte kulturhistorische Aufwertung ist also auch Ausdruck einer sich etablierenden Long Tail-Kultur, die sich »auf eine Vielzahl von Nischen« hinbewegt.[22]
Mit der beschriebenen Umwidmung von Pressebildarchiven versuchen Gedächtnisinstitutionen, die Deutungshoheit über die Vergangenheit zu bewahren. Gerade Archive geraten als Orte, an denen mit einer überlieferten Vergangenheit kommuniziert und Geschichte gemacht wird, zunehmend unter Druck. Bereits im Verlauf des 20. Jahrhunderts haben audiovisuelle Medien wie Fotografie, Film und Ton die Wahrnehmungsweisen und -möglichkeiten von Geschichte nachhaltig verändert, indem sie die Vergangenheit vermeintlich unmittelbarer erfahrbar gemacht haben: Das, was die US-amerikanische Kunstkritikerin und -theoretikerin Rosalind Krauss als »das Photographische« bezeichnet hat, die optisch-chemisch eingeschriebene Indexikalität, Reproduzierbarkeit und die realitätstreue Abbildungsfähigkeit der Fotografie, hat die Erfahrbarkeit und damit das Machen von Geschichte um eine wirkmächtige Dimension erweitert[23] – eine Dimension, die kommerzielle Bildanbieter bereits seit den 1980er-Jahren in ihren Archiven für den Verkauf historischer Bilder verwertbar gemacht hatten. Mit dem Beginn der heute allgegenwärtigen Digitalisierung der bisherigen Medien hat sich dieser Effekt nochmals verstärkt und differenziert: Das Archiv ist nur noch ein Ort unter vielen, um mit Vergangenheit in Kontakt zu treten.[24]
Die Übernahme eines Pressebildarchivs ist dahingehend auch ein Akt der Positionierung. Denn Archive – und im weiteren Sinne auch Museen – wollen und müssen konkurrenzfähig bleiben, um als Orte der Vergangenheitserfahrung und des Machens von Geschichte zu bestehen. Wenn Geschichte als sinnstiftender Orientierungspunkt für unser gegenwärtiges und künftiges Dasein verstanden wird, dann geht es für Gedächtnisinstitutionen immer auch darum, sich als Orte einer materialiter erfahrbaren Vergangenheit zu behaupten.[25] Weil nun aufgrund der Digitalisierung die riesigen Fotoarchive von Bildagenturen, Medienverlagen und Pressefotografen für die Bestandsbildner zunehmend wertlos geworden sind und dadurch überhaupt erst als historisches Fotoerbe verfügbar werden, bringen sich zahlreiche lokale, regionale und nationale Gedächtnisinstitutionen in Stellung: Wer sich ein Pressebildarchiv gesichert hat, verfügt über große Mengen Bildmaterial, die eine umfassende fotografische Vergangenheitserfahrung möglich machen – dass solche Erfahrbarkeit auch eine systematische Aufbereitung der Bestände erfordert, ist der gedächtnispolitischen Positionierung der Institutionen nachgeordnet.
Durch die archivarischen Aufbereitungen ihrer Fotobestände haben die kommerziellen Bildanbieter ein Fotoerbe geschaffen, das im Verlauf seines Bestehens immer wieder neu organisiert wurde. Ihre Archive sind ein Beispiel dafür, dass die Materialität des historischen Gedächtnisses stets gegenwärtig geformt wird. Für die zeithistorische Forschung gilt es daher, die Genesen und Wandlungen dieses fotografischen Erbes kritisch zu durchleuchten. Denn nicht nur für Forschende, sondern auch für Archivarinnen und Kuratoren in Gedächtnisinstitutionen besteht die Gefahr, eine in den Fotobeständen einst konstruierte Geschichte und damit den massenmedial präformierten Blick zu reproduzieren.
Eine solche Archäologie des Archivs ist im Rahmen des noch immer im Gange befindlichen Transferprozesses hin zu historischen Archiven nur partiell möglich.[26] Dennoch müssen die geschichtspolitischen Interessen öffentlicher Institutionen zumindest reflektiert werden. Eine künftige historische Forschung, die sich mit der Verschränkung von (Presse-)Fotografie und geschichtskulturellen sowie gedächtnispolitischen Fragen beschäftigt, wird nicht umhin kommen, die politischen Beweggründe, Umstände und Rhetoriken solcher Fotoarchiv-Übernahmen zu durchleuchten. Gleichzeitig wäre es wünschenswert, wenn sich kulturpolitische Akteure ihre eigene gedächtnispolitische Position klarmachten und diese transparenter kommunizieren würden, anstatt sich einer massenmedial aufgeblähten Rhetorik zu bedienen, auch wenn das paradoxerweise Finanzierungsmöglichkeiten minimieren kann. Denn die kommerziellen Fotoarchive bewahren nicht nur zukünftig zu schreibende Geschichte. Sie bewahren immer auch etwas vom »Unbewussten der Geschichte«. [27]
Anmerkungen:
[1] Zwei Beispiele aus einer ganzen Serie solcher Fälle: Im Februar 2010 übernahm die University of Texas in Austin das Archiv der Fotografen-Genossenschaft Magnum Photos; im Frühjahr 2009 übernahm das Staatsarchiv des Schweizer Kantons Aargau das Fotoarchiv des Medienverlags Ringier. Siehe dazu: Steven D. Hoelscher (Hg.), Reading Magnum. A Visual Archive of the Modern World, Austin 2013; Ringier Bildarchiv: <https://www.ag.ch/de/bks/kultur/archiv_bibliothek/ringier_bildarchiv_2/ringier_bildarchiv.jsp>.
[2] Dass dieses Bewusstsein durchaus auch bei kommerziellen Bildanbietern besteht, zeigte der damalige Leiter der Agentur ullstein bild in einem Artikel von 2010: Frank Frischmuth, Ausgelagert, abgeschafft und weggeworfen. Historische Pressebildarchive im digitalen Wertschöpfungsprozess, in: Photonews Nr. 7-8/2010 (Sonderheft »Archive und Nachlässe«), S. 6. Inzwischen (seit 2013) ist Frischmuth Geschäftsführer der Deutschen Digitalen Bibliothek.
[3] Medienmitteilung des Staatsarchivs Aargau via Schweizerische Depeschenagentur AG (SDA), Ringier übergibt grösstes Schweizer Bildarchiv dem Kanton Aargau, 13.10.2009.
[4] Daniele Muscionico, Im Bergwerk der Bilder. Wer rettet das fotografische Gedächtnis der Schweiz?, in: ZEIT, 18.1.2012.
[5] Das Schweizer Bundesamt für Kultur hat diesbezüglich für Archive, Museen und Bibliotheken eine eng gefasste und als quasi-staatlicher Auftrag definierte Gedächtnispolitik formuliert, die sich der Bewahrung und Vermittlung des kulturellen Erbes annehmen soll. Vgl. Bundesamt für Kultur, Memopolitik. Eine Politik des Bundes zu den Gedächtnissen der Schweiz, Bern 2008, URL: <http://www.bak.admin.ch/kulturerbe/04405/?lang=de>.
[6] Dazu der historische Vergleich der Zeitschriften »Life« und »Look«: Sally Stein, Mainstream-Differenzen. Das unverwechselbare Aussehen von Life und Look in der Medienkultur der USA, in: Herta Wolf (Hg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt a.M. 2003, S. 135-172, hier bes. S. 138f.
[7] Vgl. Estelle Blaschke, Photography and the Commodification of Images. From the Bettmann Archive to Corbis (ca. 1924 – 2010), Paris 2011, S. 190-195 (Dissertation: EHESS, ausgezeichnet mit dem DGPh-Forschungspreis für Photographiegeschichte 2012).
[8] Vgl. Paul Frosh, The Image Factory. Consumer Culture, Photography and the Visual Content Industry, Oxford 2003; Wolfgang Ullrich, Bilder zum Vergessen. Die globalisierte Industrie der »Stock Photography«, in: Elke Grittmann/Irene Neverla/Ilona Ammann (Hg.), Global, lokal, digital – Fotojournalismus heute, Köln 2008, S. 51-61.
[9] Zur Nutzung von Datenbanken für die Archivbewirtschaftung in den 1970er-Jahren siehe Angelika Menne-Haritz, Digitaler Lesesaal, virtuelle Magazine und Online-Findbücher. Auswirkungen der Digitalisierung auf die archivischen Fachaufgaben, in: Gerald Maier/Hartmut Weber (Hg.), Digitale Archive und Bibliotheken. Neue Zugangsmöglichkeiten und Nutzungsqualitäten, Stuttgart 2000, S. 25-34, hier S. 29.
[10] Vgl. Diethart Kerbs, Rettet die Bilder!, in: ders. (Hg.), Das Bildarchiv I – Rettet die Bilder!, Berlin 1986, S. 3.
[11] Eigenes Interview mit Mario König, Aarau, 26.7.2010.
[12] Zum Begriff und Konzept des Authentischen siehe Achim Saupe, Authentizität, Version: 3.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 25.8.2015, URL: <http://docupedia.de/zg/Authentizität>.
[13] Eine Antizipation der Nachfrage nach bestimmten Bildern und eine entsprechende Produktion sind die Grundpfeiler des Bildgeschäfts. Siehe dazu Matthias Bruhn, Bildwirtschaft. Verwaltung und Verwertung der Sichtbarkeit, Weimar 2003, bes. S. 29-32.
[14] Angestoßen von den mehrjährigen Nachforschungen einer unabhängigen Expertenkommission, die den Verbleib jüdischer Vermögenswerte untersuchte, die während des Weltkriegs in die Schweiz gelangten, wandelte sich diese Sicht ab der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre grundlegend. Siehe: Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg, Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Schlussbericht, Zürich 2002.
[15] Zu Referenzbildern siehe Martin Hellmold, Warum gerade diese Bilder? Überlegungen zur Ästhetik und Funktion der historischen Referenzbilder moderner Kriege, in: Thomas F. Schneider (Hg.), Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des »modernen« Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film, Bd. 1, Osnabrück 1999, S. 34-50, hier S. 36. Siehe auch Gerhard Paul, Die Geschichte hinter dem Foto. Authentizität, Ikonisierung und Überschreibung eines Bildes aus dem Vietnamkrieg, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 2 (2005), S. 224-245.
[16] Medienmitteilung des Staatsarchivs Aargau (Anm. 3).
[17] Schweizerisches Nationalmuseum, Attention. Photos de Presse. Pressebilder. Fotografie di stampa, Zürich 2012, S. 5.
[18] Ein weiterer Fall: 2006 zahlte das Schweizer Nationalmuseum dem Besitzer der um das Jahr 2000 eingestellten Schweizer Fotoagentur Actualité Suisse Lausanne (ASL) 50.000 Franken für die Kosten der Einlagerung, die jener seit der Einstellung der Agentur für die Unterbringung des Archivs aufwenden musste. Siehe Richard Aschinger, 60 Jahre Geschichte in 5 Millionen Bildern, in: Der Bund, 20.10.2007, S. 6.
[19] Aus noch nicht archivarisch aufbereiteten Bürounterlagen der Ringier Dokumentation Bild: Protokoll RDB-Teamsitzung, 15.1.2008.
[20] Für eine kursorische Auflistung bedrohter oder bereits vernichteter deutscher Fotografen- und Agenturarchive aus dem Jahr 1986 siehe Kerbs, Bildarchiv (Anm. 10).
[21] Dazu exemplarisch: Jens Jäger, Photographie: Bilder der Neuzeit. Einführung in die Historische Bildforschung, Tübingen 2000.
[22] Chris Anderson, The Long Tail. Nischenprodukte statt Massenmarkt – das Geschäft der Zukunft, München 2007, hier S. 61f.
[23] Vgl. Rosalind Krauss, Das Photographische. Eine Theorie der Abstände, München 1998.
[24] Vgl. Mario Wimmer, Archivkörper. Eine Geschichte historischer Einbildungskraft, Konstanz 2012, S. 29.
[25] Siehe exemplarisch Jörn Rüsen, Historische Aufklärung im Angesicht der Post-Moderne: Geschichte im Zeitalter der »neuen Unübersichtlichkeit«, in: ders., Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens, Frankfurt a.M. 1990, S. 231-251.
[26] Zur »Archäologie des Archivs« siehe Peter Burke, Commentary, in: Archival Science 7 (2007), S. 391-397.
[27] Mario Wimmer, Der Geschmack des Archivs und der historische Sinn, in: Historische Anthropologie 20 (2012), S. 90-107, hier S. 98.