West-Berlin hat Konjunktur. Nostalgische Erinnerungen widmen sich der Insel inmitten der DDR;[1] die alte City West rund um den Breitscheidplatz wird wiederentdeckt; Ausstellungen beschäftigen sich mit West-Berlin und seinen Heroen.[2] Vor allem aber boomt das visuelle Gedächtnis der Teilstadt. In dichter Folge erscheinen derzeit Bildbände mit Fotografien, die von der frühen West-Berliner Nachkriegszeit bis zum Fall der Mauer reichen.[3] Besonders der Bezirk Kreuzberg findet hierbei ein unvergleichliches Interesse: Allein im Jahr 2013 erschien ein halbes Dutzend neuer Bildbände mit zeithistorisch interessanten Kreuzberg-Fotos.
Zweifellos würde es zu kurz greifen, diesen Boom allein als Aufholerscheinung zu deuten, mit der dem Westen nun jene Aufmerksamkeit zuteil wird, die nach 1989 vor allem dem Osten Berlins galt. Die Gründe für die Wiederentdeckung West-Berlins sind vielfältiger. Zum einen konservieren die Bildbände ein Stück des alten West-Berlins, das derzeit eine dynamische städtebauliche Transformation erlebt. Das Waldorf Astoria Hotel im neuen »Zoofenster« dominiert plötzlich die Skyline der City West – anstelle der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, die in vielen Bildbänden noch als West-Berliner Wahrzeichen erscheint und nicht von ungefähr auch das Cover des vorliegenden Themenhefts ziert. Zum anderen sind die Bände Teil einer Geschichtskultur, die der visuellen Erinnerung an vergangenen Alltag einen hohen Wert beimisst.[4] So finden sich in den Büchern oft Bilder, mit denen Hobbyfotografen das Leben in West-Berlin festgehalten haben. Viele dieser Fotografen sind inzwischen im Rentenalter. Es geht ihnen auch darum, ihre Bildschätze für die Nachwelt zu bewahren. Die Verleger wiederum haben ein sicheres Gespür, dass sich Bücher über Berlin gut verkaufen.[5] Berlin sells – das haben vor allem die altehrwürdige Nicolaische Verlagsbuchhandlung und der geschäftstüchtige Berlin Story Verlag erkannt. Letzterer betreibt Unter den Linden eine eigene Buchhandlung, die gleichzeitig ein riesiger Souvenirshop ist. Die Mehrzahl der Bildbände, die im Folgenden besprochen werden, stammt aus diesen beiden Verlagen. Dabei unterscheiden sich die einzelnen Bände deutlich in der Präsentation und Kontextualisierung der Fotos. Der vorliegende Beitrag möchte eine Auswahl der neueren West-Berlin-Bildbände vorstellen und abschließend nach ihrem Nutzen für die zeithistorische Forschung fragen.
Die »Rückeroberung des Lebens« in der Berliner Trümmerlandschaft ist das Thema der frühen Aufnahmen von Ernst Hahn (geb. 1926), der 1950/51 als junger Fotografiestudent der Zürcher Kunstgewerbeschule mit seiner Kodak-Retina-Ausrüstung durch die Stadt zog. Beginnend mit der Demontage der alten Gaslaternen am zerstörten Stadtschloss schreitet der Bildband »Berlin um 1950« (verlegt von der edition Friedenauer Brücke) in konzentrischen Kreisen verschiedene Gegenden Berlins ab – auch solche, die im sowjetischen Sektor lagen.[6] Dabei erscheint die Stadt noch weitgehend ungeteilt. Die Trümmerlandschaften im Osten gleichen denen im Westen. Auffällig ist der Kontrast der sauber gefegten Straßen und Bürgersteige zu den angrenzenden Häuserruinen, der durch das grelle Sonnenlicht noch gesteigert wird. Von der Siegessäule aus ergeben sich unendlich weite Blicke über den abgeholzten Tiergarten, der von verschwindend kleinen Spaziergängern bevölkert wird. Viel näher an den Menschen ist Hahn dagegen auf dem Kurfürstendamm, wo er elegant gekleidete Passantinnen fotografierte, indem er unbemerkt den Auslöser seiner Brust-Kamera betätigte.
Wie die Berliner sich die zerstörte Stadt in den 1950er-Jahren wieder aneigneten, zeigt auch ein bei Nicolai erschienener Bildband von Antonia Meiners, die hierfür Aufnahmen von unterschiedlichen, nicht näher vorgestellten Fotografen zusammengebracht und lose mit Zeitzeugenzitaten ergänzt hat.[7] Wiederum werden Ost- und West-Berlin noch gleichermaßen dargestellt. Bei allen Unterschieden, für die vor allem Aufnahmen von politisch entgegengesetzten Massenkundgebungen stehen, ergeben sich jedoch auch einige bemerkenswerte Ähnlichkeiten in der Systemkonkurrenz. So schreiten die FDJlerinnen beim Pfingsttreffen 1950 ähnlich frohgelaunt und untergehakt durch das Brandenburger Tor wie vier Jahre später der italienische Modeschöpfer Emilio Schuberth mit seinen Mannequins. Beide Fotos besitzen trotz entgegengesetzter Blickrichtung und divergierender Geschlechterbilder fast die gleiche Perspektive und eine ähnliche Botschaft: Ob Kommunismus oder Kapitalismus – die Menschen beleben die Ruinen und ziehen gemeinsam vorwärts in eine neue Zeit.
Berlin und seine Bewohner stehen auch im Mittelpunkt der Bilder des amerikanischen Fotojournalisten Will McBride (geb. 1931), der die Stadt von 1956 bis 1963 mit der Kamera beobachtete. Von McBride stammen einige Fotoikonen aus der Hochphase des Kalten Kriegs, etwa von der Panzerkonfrontation am Checkpoint Charlie oder vom Kennedy-Besuch in Berlin. Der Schwerpunkt seiner Berlin-Bilder, die hauptsächlich für die deutsche Illustrierte »Twen« aufgenommen und nun in einem hochwertigen Band beim Leipziger Lehmstedt-Verlag wiederveröffentlicht wurden, liegt jedoch auf dem Alltag in West-Berlin.[8] Sie zeigen zwei Welten; einerseits Menschen, die noch ganz der ersten Jahrhunderthälfte anzugehören scheinen: Schaffner in altertümlichen Uniformen, ausgemergelte Zeitungsverkäufer, Kinder in kurzen Hosen. Andererseits sehen wir junge Leute auf der Suche nach Individualität: Schmalztollen mit Kofferradios, Jugendliche beim Probehören neuer Schallplatten. Besonders bemerkenswert ist die Jazz-Clique, die McBride auf ihren Kremserfahrten, Bootstouren und Strandbesuchen begleitet hat. Im Gegensatz zu den heimlichen Aufnahmen Ernst Hahns war McBride ein teilnehmender Beobachter bei den Ausflügen der jungen Leute. Mit betonter Subjektivität und Nähe fotografierte er die Lebenslust einer neuen Generation.
Völlig menschenleer erscheint die Stadt dagegen in den Aufnahmen von Janos Frecot (geb. 1937) aus den Jahren 1964 bis 1966, die 2013 bei Nicolai in einer Auswahl erschienen sind.[9] Den Autodidakten Frecot interessierten weder die politischen Ereignisse noch die herkömmlichen Sehenswürdigkeiten der Stadt. Er schaute ganz auf die erhaltenen baulichen Strukturen des steinernen Berlins. Neben den zwischenzeitlich freigeräumten Bombenlücken erheben sich auf den Bildern riesige, meist unverputzte Brandwände mit Einschusslöchern, verblichenen Reklamen und aufgemalten Fußballtoren. Vor dem Auge des Betrachters entstehen ganze Gebirgslandschaften mit Bäumen auf den Dächern, so auch am ehemaligen Kunstgewerbemuseum, dem heutigen Martin-Gropius-Bau. Gründerzeitliche Solitäre haben den Krieg überdauert und harren der Dinge, hatten in den 1960er-Jahren allerdings meist nur den Abriss zu erwarten. Wir sehen Häuser auf Abruf, vor denen Ehrfurcht erregende Steinbrechmaschinen stehen. Frecots Bilder sind jedoch kein politisches Statement zur Stadtentwicklung, sondern eher ein künstlerisches Experiment. Der spätere Kurator der Berlinischen Galerie ästhetisiert die eigentümlichen Stadtlandschaften nicht mit dem Ziel, sie vor dem Abriss zu bewahren. Gleichwohl haben etwa die streng symmetrisch angelegten Bilder von den imposanten Rundbögen des Görlitzer Bahnhofs, der kurz darauf abgerissen wurde, inzwischen auch einen dokumentarischen Wert (Abb. aus dem besprochenen Band, S. 75).
Der Kontrast zwischen Frecots ästhetisierenden Schwarz-Weiß-Bildern und den kommerziellen Farbpostkarten Herbert Maschkes (1915–2005) könnte kaum größer sein. Maschke, der Anfang der 1950er-Jahre aus der DDR in den Westen übergesiedelt war, inszenierte die West-Berliner Sehenswürdigkeiten in den 1950er- und 1960er-Jahren vor allem als Aufbruch ins kleine menschliche Glück der Konsumgesellschaft.[10] Der von der Stiftung Stadtmuseum herausgegebene, ebenfalls bei Nicolai erschienene Bildband trägt daher den passenden Titel »Wirtschaftswunder West-Berlin«. Die ausgewählten Farbfotos zeigen das Neue Bauen, die Autobahnkreuze der autogerechten Stadt und den Tiergarten, in dem das Grün wieder sprießt. Spektakulär ist die Seilbahn über der Straße des 17. Juni während der Internationalen Bauausstellung von 1957 im Hansaviertel. Vor allem aber steht der Kurfürstendamm mit seinen Kinos und Limousinen für das moderne West-Berlin. Die Gedächtniskirche ist keine Ruine mehr, sondern Mittelpunkt eines neuen städtebaulichen Ensembles, das sich vom Zoo-Palast über das Bikini-Haus bis zum Europacenter erstreckt. Der neue Glockenturm und der achteckige Kirchenneubau von Egon Eiermann mit ihren strahlend blauen Wabenfenstern von Gabriel Loire bilden das zentrale Motiv eines modernen Stadtimages. Einzig der »hohle Zahn« in der Mitte – der konservierte Glockenturm der alten Gedächtniskirche – erinnert noch an die Kriegszerstörungen. Maschkes Fotografien zeigen West-Berlin als Teil der westlichen Moderne und künden von einem neu erwachten Fortschrittsoptimismus.
West-Berlin in Farbe zeigen auch die Dias, die der Regierungsbaudirektor Heinz Noack (gest. 2003) bei seinen sonntäglichen Streifzügen »durch die halbe Stadt« aufgenommen hat – so der Titel des von seinem Enkel Tobias Hellmann herausgegebenen, bei der Edition Braus erschienenen Bildbandes.[11] Die Fotos stammen aus den ersten Jahren nach dem Mauerbau und erkunden ganz unterschiedliche Gegenden West-Berlins. Noack interessierte sich auch für die Peripherien der Teilstadt: den Grunewald, Rixdorf, Spandau und Lübars. Zu den West-Berliner Randlagen gehörten allerdings auch ehemals innerstädtische Gebiete, die seit 1961 direkt an die Berliner Mauer grenzten. Die Fotos zeigen Panzersperren und Stacheldraht am Potsdamer Platz sowie die Grenzanlagen in Kreuzberg, die ganze Straßenzüge zerschneiden und ins städtebauliche Abseits rücken. Selten hat man den Verfall derart in Farbe gesehen. Das neue West-Berliner Zentrum in Charlottenburg steht dazu in scharfem Kontrast. Zwar weisen auch hier erhaltene gründerzeitliche Fassaden zum Teil noch Einschusslöcher auf. An ihnen prangen jedoch die bunten Reklamen und Filmplakate des »Wirtschaftswunders«. Konsum und Wohlstand haben Einzug gehalten; die 1960er-Jahre erscheinen als West-Berliner Gründerzeit. Nichts repräsentiert dies besser als der Mercedes-Stern auf dem Beobachtungsturm ausgangs der AVUS, der die bundesdeutschen Transitreisenden in West-Berlin willkommen hieß.
Eine ungemein reichhaltige Sammlung von Alltagsfotografien bietet der Band »Leben in West-Berlin«, den Günther Wessel im Elsengold-Verlag herausgegeben hat.[12] Auf 460 Seiten werden in acht lebensweltlichen Rubriken mit originellen Einführungstexten über 1000 fotografische Schätze aus dem Bestand der Bildagentur picture alliance gezeigt, die in ihrer Zusammenschau ein umfassendes Panorama des gesellschaftlichen Lebens in West-Berlin bieten. Wichtige Veranstaltungen und Institutionen wie die Berlinale, die Funkausstellung, das Sechstagerennen oder das »British Tattoo« werden ausgiebig dokumentiert. Der Band enthält einige sehr ungewöhnliche Aufnahmen, etwa das als Maibaum der Freiheit komplett begrünte Brandenburger Tor von 1954 (Abb. im Buch auf S. 186).
Bedauerlich ist dagegen, dass die Fotografen komplett unbekannt bzw. unbenannt bleiben. Sämtliche Bildnachweise werden auf einer einzigen Seite zusammengedrängt und bis zur Unkenntlichkeit abgekürzt. Die knappen Bildlegenden sind bisweilen fehlerhaft.[13] Nur wenige Bilder erstrecken sich über die gesamte Seite. Meist bilden drei bis vier kleinformatige Bilder eine assoziative Collage. Das Potential des Folioformats wurde auf diese Weise leider verschenkt. Der aufwendig gestaltete Bildband, dessen Schuber ein ganzseitiges Foto der ikonischen Kreuzung Kurfürstendamm/Ecke Joachimsthaler Straße schmückt, hält insofern nicht ganz, was er verspricht. Er dokumentiert jedoch in bemerkenswerter Breite die Dynamik und Vielfalt der West-Berliner Aufstiegsgesellschaft.
Ein ganz anderes Narrativ bieten die Bildbände zu Kreuzberg an. Fast ausnahmslos in schwarz-weiß gehalten, sind sie vor allem Dokumente der 1970er- und 1980er-Jahre, die als eine entrückte Zeit erscheinen. So zeigen die melancholischen Fotos von Ludwig Menkhoff (1923–2008), die 2011 beim »Verlag M« des Stadtmuseums Berlin mit grell pinkfarbenem Cover erschienen sind, einen Bezirk im Wartestand mit bröckelnden Fassaden und düsteren Remisen.[14] Die Reklamen sind nicht bunt, sondern stammen noch aus der Vorkriegszeit. Die Bewohner leben in ärmlichen Verhältnissen.[15] Türkische Kinder spielen in den Ruinen der zum Abriss freigegebenen Häuser – ein Motiv, das eigentlich eher in der unmittelbaren Nachkriegszeit populär war (wenngleich noch nicht mit Familien von »Gastarbeitern«). Menkhoffs Bilder sind einer dokumentarisch-poetischen Fotografie verpflichtet, deren Ästhetik an Henri Cartier-Bresson erinnert. Der Autodidakt Menkhoff schuf Kunstwerke, die er erst kurz vor seinem Tod Jürgen Borchers anvertraute, der sie zusammen mit Erik Steffen herausgab. Wie sich später herausstellte, stammen manche der Fotos, die Menkhoff gesammelt hatte, offenbar von Peter Gormanns (geb. 1945) und Siebrand Rehberg (geb. 1943). Die Autorschaft ist auch bei zeithistorischen Fotografien nicht immer eindeutig und zum Teil umstritten.
Gormanns’ und Rehbergs Bilder sind in einem Band des Kreuzberg-Museums enthalten, der Aufnahmen von sieben Kreuzberger Fotografen versammelt (Berlin Story Verlag).[16] Schon der Titel »Stillstand und Bewegung« möchte andeuten, dass Kreuzberg in den 1980er-Jahren aufhörte stillzustehen und die Zeit in Bewegung geriet. Indem die Fotografen die neue gesellschaftliche Dynamik öffentlich dokumentierten und so zur Selbstverständigung der Akteure beitrugen, waren sie selbst daran beteiligt, dass der Bezirk zum städtebaulichen und politischen Experimentierfeld und Labor alternativer Lebensentwürfe wurde.[17] Vor allem Wolfgang Krolow (geb. 1950), der mit einigen seiner bekanntesten Werke in dem Band repräsentiert ist, gab der Hausbesetzerbewegung einige visuellen Ikonen. Seine erfolgreichen Fotobücher – etwa »Kinder in Kreuzberg« (1979), das »Instandbesetzer Bilderbuch« (1981) und »Seiltänze« (1982) – machten Krolow über die Grenzen des Bezirks hinaus bekannt; sie wurden Ausdruck eines West-Berliner Lebensgefühls in den 1980er-Jahren.[18] Krolows Kreuzberg-Bilder trugen zu einer neuartigen Ästhetisierung und Politisierung des alten Arbeiterbezirks bei. Die urbane Welt von gestern, die durch den Mauerbau an den Stadtrand geraten war, ist gefüllt mit neuem Leben, in dem Künstler und Kinder die Straße erobern (Abb. aus dem besprochenen Band, S. 120).
4. Die Ästhetik des Widerstands
Michael Hughes (geb. 1952) hatte den Blick von außen und innen zugleich. 1982 zog der Londoner Hausbesetzer nach Kreuzberg und erlebte den Bezirk als »westeuropäisches Jottwede«. Seine Bilder, die sowohl im Sammelband »Stillstand und Bewegung« als auch in einer eigenständigen Publikation des Berlin Story Verlags zu finden sind, künden von der großen Armut und Jugendarbeitslosigkeit im Bezirk und ästhetisieren zugleich die Kreuzberger Protestbewegung als Widerstand gegen das System.[19] Hughes fotografierte zahlreiche anarchische Kunstaktionen und Mieterfeste, mit denen die Straße als öffentlicher Raum besetzt wurde. Vor allem aber dokumentierte er mit seinen Bildern den 1. Mai 1987, an dem das traditionelle alternative Straßenfest am Lausitzer Platz in einen massiven Ausbruch von Gewalt umschlug. Hughes war hautnah dabei und erfasste mit seiner Kamera die Hände an den Pflastersteinen, die Angst der Polizisten und die Flammen, die aus den umgestürzten Autos schlugen. Die Straßengewalt wird hierbei als ungleicher Kampf inszeniert: Vermummte Autonome kämpfen mit Steinschleudern gegen schier übermächtige Wasserwerfer. Hughes’ wohl bekanntestes Bild entstand jedoch wenige Stunden, bevor sich die Ereignisse zuspitzten. Es zeigt eine Couch mitten auf der Oranienstraße – fünf junge Leute folgen wie Fernsehzuschauer entspannt dem Treiben auf dem Oranienplatz (Abb. siehe unten; aus dem besprochenen Band, S. 63). Mittlerweile ist dieses Bild in Gestalt von Kühlschrankmagneten in zahllosen Kreuzberger Läden zu haben. Es steht damit nicht nur für die Stilisierung Kreuzbergs als Alternativbezirk, sondern auch für dessen heutige Kommodifizierung.
Wie sehr sich die nostalgische Verklärung Kreuzbergs inzwischen mit einem sicheren Gespür für dessen Marktgängigkeit verbindet, zeigt sich darin, dass der Berlin Story Verlag immer weitere Bildbände Kreuzberger Fotografen auf den Buchmarkt bringt, selbst wenn die Qualität der Bilder dies nicht in jedem Falle rechtfertigt. Der Band »Häuserkampf im Berlin der 1980er« mit Fotografien von Lothar Schmid (geb. 1950) wurde erkennbar schnell produziert.[20] Die grob aufgelösten Bilder bestechen weder durch einen künstlerischen Anspruch noch durch einen besonderen dokumentarischen Wert. Aussagekräftig ist jedoch das teleologische Narrativ, zu dem Bilder und Begleittexte angeordnet sind: Auf eine Schilderung der trostlosen Ausgangslage folgen Beschreibungen der Besetzer und ihres Kampfes, der schließlich zu einer behutsamen Erneuerung Kreuzbergs geführt habe. »Ohne den Häuserkampf wäre Berlin heute weniger liebens- und lebenswert«, lautet das Fazit des Bandes.[21] Die Fotos illustrieren damit eine Kreuzberger Erfolgsgeschichte, die sich im Moment ihrer historischen Ablösung noch einmal selber feiert.
Einen viel breiteren historischen Fokus wählt dagegen Dieter Kramer (geb. 1943). Anders als es der Titel »Kreuzberg 1968–2013. Abbruch, Aufbruch, Umbruch« vermuten lässt, schlägt sein bei Nicolai erschienener Bildband einen großen historischen Bogen von der Urbanisierung der früheren Luisenstadt im 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart des östlichen Kreuzberg.[22] Der Reiz des Buches, das wie ein Stadtspaziergang aufgebaut ist, liegt in der Gegenüberstellung historischer Ansichten und aktueller Aufnahmen. Dabei geht Kramer weit über den schematischen Vorher-Nachher-Vergleich anderer Publikationen hinaus.[23] Panoramafotos, Postkarten, Stadtpläne, Luftbilder, detaillierte Bilderläuterungen und thematische Exkurse machen aus dem Bildband eine informative Stadtgeschichte von Kreuzberg SO 36. Auch Kramer hält eine Ode auf die »Instandbesetzer«, reflektiert dabei jedoch zugleich seine eigene Rolle als Fotograf, Ausstellungsbauer und Stadtteilaktivist. So diente etwa seine bekannte Postkartenserie mit historischen Kreuzberger Ansichten[24] in den 1970er-Jahren der Finanzierung seines Katalogbandes »Wohnen darf nicht länger Ware sein«.[25] An dem nun vorliegenden Kreuzberg-Band hat Kramer fünf Jahre lang gearbeitet. Das Resultat erscheint wie ein kommentiertes Lebenswerk in Bildern, das als eine Art »Best-Practice-Beispiel« für West-Berlin-Bildbände gelten kann.
Die West-Berlin-Fotobände markieren in der Gesamtschau einen historischen Wandel, der für die zeithistorische Forschung in mehrfacher Hinsicht interessant ist. Sie dokumentieren einen Teil der Berliner Nachkriegsgeschichte, der inzwischen deutlich der Vergangenheit angehört. Dabei werden die Bildbände den quellenkritischen Ansprüchen der Geschichtswissenschaft nicht immer gerecht.[26] Die Bildnachweise sind oft auf ein Mindestmaß beschränkt und erfordern ein umständliches Blättern. Die Bildlegenden sind meist knapp und bisweilen falsch. Erläuternde Texte zur Kontextualisierung der Fotos sowie Hinweise auf deren Überlieferungs- und Publikationsgeschichte fehlen meist ganz. So heißt es in der Verlagswerbung für den Heinz-Noack-Band lapidar: »Die Fotos […] bedürfen keiner Worte: Sie spiegeln als Dokument auf eine sehr eindringliche Weise die Stimmung ihrer Zeit wider.«[27] Nur bei den Bänden, die einem einzelnen Fotografen gewidmet sind, finden sich biographische Informationen zum Künstler. Doch auch für Amateurfotos sind Kontextinformationen wichtig. Derzeit baut die Stiftung Stadtmuseum Berlin ein Bildportal zu »West-Berlin, privat« auf und bittet hierfür die Bevölkerung um eigene Fotos.[28] Erfreulicherweise werden bei den dort veröffentlichten Bildern auch die Standorte kartiert und Erläuterungen hinterlegt. So entsteht eine wertvolle Quellensammlung zur Visual History West-Berlins.
Die besprochenen Bildbände sind jedoch nicht nur als Dokumente vergangener Gegenwart interessant, sondern zugleich Ausdruck einer gegenwärtigen Sehnsucht nach dem alten West-Berlin. Die Konjunktur der Fotobücher ist damit Teil eines geschichtskulturellen Wandels, in dem die Hinwendung zur Vergangenheit einhergeht mit der Suche nach historischer Authentizität.[29] Dabei erscheint nichts »authentischer« als das fotografische, scheinbar exakte Abbild der Vergangenheit. Nirgends wirkt das alte West-Berlin lebendiger als auf historischen Aufnahmen. Farbfotos erinnern an das modernistische West-Berlin vor dem Mauerfall. Schwarz-Weiß-Bilder zeigen das alte Kreuzberg, das noch nicht von den Touristenströmen »heimgesucht« wurde. Paradoxerweise richten sich die oft mehrsprachigen Bildbände nicht zuletzt an ebenjene Touristen und reproduzieren so den urbanen Berlin-Mythos, der durch visuelle Ikonen global verbreitet wird. Der Retro-Chic der Mauerstadt lockt immer weitere Besucher in die musealisierte Metropole, die sich durch ihre fortschreitende Touristifizierung zugleich dynamisch verändert. Die retrospektive Visualisierung der Stadt trägt somit ungewollt zum Verschwinden des alten West-Berlins bei, das die Bildbände eigentlich festhalten möchten.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Wilfried Rott, Die Insel. Eine Geschichte West-Berlins 1948–1990, München 2009; Jenny Schon (Hg.), Wo sich Gott und die Welt traf. West-Berlin. Zeitzeugen erinnern sich an die ersten Jahre nach dem Mauerbau, Vechta 2011; Horst Bosetzky, West-Berlin. Erinnerungen eines Insel-Kindes, Berlin 2013.
[2] So die Ausstellungen »West:Berlin. Eine Insel auf der Suche nach Festland« im Ephraim-Palais (14.11.2014 – 28.6.2015, <http://www.west.berlin>) und »David Bowie« im Martin-Gropius-Bau (20.5. – 24.8.2014, <http://www.davidbowie-berlin.de>).
[3] Noch vor wenigen Jahren gab es kaum Bildbände zu West-Berlin. Ausnahmen bilden: Jürgen Scheunemann/Gabriela Seidel, Was war los in West-Berlin 1950–2000, Erfurt 2002; Ute und Ernst Eickemeyer, Reflexionen. Fotografien 1967–1990, Berlin 2010.
[4] Eigenständige Stadtbildbände sind indes kein neues Phänomen, sondern in Deutschland seit den 1920er-Jahren, besonders aber seit den 1950er- und 1960er-Jahren weit verbreitet. Vgl. Rolf Sachsse, Urbanes Flair im Bild. Städtische Identität zwischen Werbung, Dokumentation und Kritik in fotografischen Publikationsformen des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte im Westen 28 (2013), S. 11-27, v.a. S. 18-24.
[5] Das gilt auch für die Belletristik, wie etwa die erfolgreichen Kriminalromane von Volker Kutscher zeigen.
[6] Berlin um 1950. Fotografien von Ernst Hahn. Komposition + Text Hermann Ebling. Mit einem Vorwort von Annemarie Jaeggi, Berlin 2013.
[7] Antonia Meiners, Berlin in den 1950er-Jahren. Eine Chronik in Bildern, Berlin 2013. Für das Cover des Buches hat der Verlag eine weithin bekannte Bildikone verwendet, die bereits in unterschiedlichen Kontexten eingesetzt wurde: in Farbe etwa als Covermotiv für Josef Heinrich Darchingers »Wirtschaftswunder«-Buch und jetzt auch für Ulrich Herberts Buch »Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert«.
[8] Mathias Bertram (Hg.), Will McBride. Berlin im Aufbruch. Fotografien 1956–1963. Mit einem Vorwort von Hans-Michael Koetzle, Leipzig 2013.
[9] Janos Frecot, Die Jahre mit der Kamera. Fotografien aus Berlin 1964–1966, Berlin 2013. In einem eigenen Beitrag (S. 107-111) geht Frecot auf seine Amateurfotografie ein, die er 1967 aus beruflichen und familiären Gründen aufgab und nun im Zuge des gegenwärtigen Berlin-Booms erstmals veröffentlicht hat.
[10] Hierzu gibt es in dem Band ein Vorwort von Götz Aly, in dem die Fotos biographisch und gesellschaftsgeschichtlich eingeordnet werden. Stiftung Stadtmuseum Berlin (Hg.), Wirtschaftswunder West-Berlin. Fotografien von Herbert Maschke, Berlin 2013, S. 8ff.
[11] Durch die halbe Stadt. West-Berlin in den Jahren nach dem Mauerbau. Fotografien von Heinz Noack, Text von Tobias Hellmann, Berlin 2013.
[12] Günther Wessel, Leben in West-Berlin. Alltag in Bildern 1945–1990, Berlin 2014. Zuvor ist im selben Verlag bereits ein analoger Band zu Ost-Berlin erschienen: Jens Kegel, Leben in Ost-Berlin. Alltag in Bildern 1945–1990, Berlin 2013.
[13] So steht das Le Corbusier-Haus nicht im Hansaviertel (sondern im Westend), der Neubau der Gedächtniskirche entstand nicht erst 1969 (sondern wurde 1961 eingeweiht), und die öffentlichen Bedürfnisanstalten in Berlin werden nicht »Café Sechseck« genannt (sondern »Café Achteck«).
[14] Jürgen Borchers/Erik Steffen (Hg.), Stationen sonstiger Augenblicke. Berlin-Kreuzberg: Fotografien von Ludwig Menkhoff, Berlin 2011. Zur Biographie siehe auch Bernd Kramer/Erik Steffen (Hg.), Erinnerungen an einen Unangepassten. Ludwig Nikolai Menkhoff (1923–2008). Seemann – Anarchist – Ikonenmaler, Berlin 2011.
[15] Noch deutlichere, etwas frühere Aufnahmen des zeitgenössischen Wohnungselends in West-Berlin stammen von Heinrich Kuhn, Armutszeugnisse. West-Berlin vor der Stadterneuerung in den sechziger Jahren, Berlin 2014. Kuhn machte die Fotos Anfang der 1960er-Jahre im Auftrag des Berliner Senats, der die Notwendigkeit der Stadtsanierung und der damit verbundenen umfangreichen Abrissmaßnahmen dokumentiert sehen wollte.
[16] Ellen Röhner/Erik Steffen (Hg.), Stillstand und Bewegung. Menschen in Kreuzberg. Fotografien aus den 70er und 80er Jahren, Berlin 2013. Der Band enthält Bilder von Peter Gormanns, Michael Hughes, Ann-Christine Jansson, Wolfgang Krolow, Horst Luedeking, Toni Nemes und Siebrand Rehberg.
[17] Das gilt in besonderem Maße auch für Jürgen Henschel, dessen Foto vom sterbenden Benno Ohnesorg eine hohe, über West-Berlin hinausreichende Mobilisierungskraft erreichte. Vgl. Jürgen Henschel, Der Fotograf der »Wahrheit«. Bilder aus Kreuzberg 1967–1988, Berlin 2006.
[18] Röhner/Steffen, Stillstand und Bewegung (Anm. 16), S. 108.
[19] Michael Hughes, Inside Kreuzberg. Eine Hommage auf Berlin-Kreuzberg in den 80ern, Berlin 2013.
[20] Lothar Schmid, Häuserkampf im Berlin der 1980er, Berlin 2013.
[21] Ebd., S. 70.
[22] Dieter Kramer, Kreuzberg 1968–2013. Abbruch, Aufbruch, Umbruch, Berlin 2013.
[23] Vgl. etwa Peter Frischmuth, Berlin Kreuzberg SO 36, Berlin 2012.
[24] Dieter Kramer, Kreuzberger Stadtteilgeschichte auf Postkarten, 10 Teile, Berlin o.D.
[25] Ders./Lienhard Wawrzyn, Wohnen darf nicht länger Ware sein, Darmstadt 1974.
[26] Vgl. hierzu einführend: Gerhard Paul, Visual History, Version: 3.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 13.3.2014.
[29] Vgl. Martin Sabrow, Die Sehnsucht nach dem Authentischen, in: Merkur 67 (2013), S. 767-777; ders./Achim Saupe (Hg.), Historische Authentizität, Göttingen 2016 (in Vorbereitung).