- Ein proletarisches Neubauviertel?
Arbeit an der sozialen Topographie der Stadt - Medialisierte Randständigkeit:
Zur Darstellung der Großsiedlung als Problemviertel - Fazit
»Man spricht von ›denen‹ und bemüht den Behördenausdruck ›Großfamilie‹, wenn man Leute meint, denen es schwerfällt, die Miete zu zahlen. Man sagt ›Nichts gegen Kinder, wenn sie erzogen sind‹. Bei ›Toilettengeschäften‹ im Treppenaufgang höre der Spaß aber auf«, schrieb die Journalistin Marie-Luise Scherer 1969 in der »ZEIT«.[1] In ihrer Reportage schilderte sie die Probleme eines Viertels, in dem »jede fünfte Familie« von der Sozialhilfe unterstützt werde und viele mit der Erziehung ihrer Kinder ebenso kämpften wie mit der Miete. Gemeint war das Märkische Viertel, eine Großsiedlung, die seit 1963 am nordöstlichen Stadtrand von West-Berlin entstand. In den Jahren um 1970 erschien eine ganze Flut von Zeitungsartikeln, Dokumentarsendungen und Studien, die sich mit dem Märkischen Viertel beschäftigten.[2] Meist ging es den Verfassern um eine Auseinandersetzung mit den modernen Stadtplanungsidealen, die der Siedlung zugrunde lagen. Vor allem aber zeichneten viele das Märkische Viertel als ein Quartier, in dem sich die Probleme von Arbeitern und so genannten sozial schwachen Familien verdichteten. Die Soziologen und Aktivisten, Sozialarbeiter und Journalisten, die seit den späten 1960er-Jahren in das Viertel kamen, verfolgten unterschiedliche Motive. Doch verband sie die Erwartung, dort eine spezifische soziale Realität vorzufinden: die Realität einer noch im Entstehen begriffenen Großsiedlung, vor allem aber die Realität einer Schicht, die sie am unteren Rand der Gesellschaft ansiedelten. Damit waren es nicht allein konkurrierende Vorstellungen von Urbanität, die anhand der West-Berliner Großsiedlung verhandelt wurden, sondern unterschiedliche Deutungsweisen des Unten und Außen der Gesellschaft.
Vor diesem Hintergrund ist es lohnend, sich mit der sozialen Etikettierung des Märkischen Viertels zu befassen: Die Entwicklung des Viertels zu einem Quartier mit zweifelhaftem Ruf hilft erstens zu verstehen, auf welche Weise in westeuropäischen Gesellschaften die Wahrnehmung sozialer Lagen mit urbanen Entwicklungen verschränkt war.[3] Zweitens gibt die diskursive Herstellung des Viertels als urbaner Problemzone Aufschluss über zeitgenössische Verschiebungen in der Konstruktion sozialer Milieus, zumal des proletarischen Milieus. Medienvertreter wie Wissenschaftler suchten »den Arbeiter« dort nicht im Betrieb auf, sondern im urbanen Raum. Drittens erlauben es die wissenschaftlich und medial generierten Repräsentationen der Siedlung, nach der Bedeutung lokal situierten Wissens und speziell nach der Bedeutung West-Berlins für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse zu fragen. Anders ausgedrückt: Warum wurde eine West-Berliner Großsiedlung weit über die Grenzen der Stadt hinaus zum viel zitierten Beispiel einer fehlgeschlagenen Stadtplanung und gesellschaftlicher Probleme?
Dass Berlin für die westdeutsche (ebenso wie im Übrigen für die ostdeutsche) Diskussion von Stadtplanungsfragen eine prominente Rolle spielte, hat die zeithistorische Forschung wiederholt hervorgehoben. West-Berlin diente als Ort einflussreicher Bauausstellungen, die für die Verständigung über die Gegenwart und Zukunft bundesdeutscher Städte von zentraler Bedeutung waren.[4] Über ihren Einfluss auf die Stadtplanung hinaus waren Ausstellungen wie die Interbau 1957 dabei stets auch Instrumente der Systemkonkurrenz, indem sie Prestigeprojekte wie das Hansaviertel als Ausdruck einer freiheitlich-demokratischen Wohnkultur präsentierten. Die Bekämpfung des Wohnungsmangels gehörte in den ersten Nachkriegsjahrzehnten zu den zentralen Versprechen beider deutscher Staaten. Der soziale Wohnungsbau und architektonische Großprojekte waren gerade im Falle Berlins in beiden Teilen der Stadt nicht allein Reaktionen auf die akute Wohnungsnot, sondern stets auch symbolische Mittel im Kalten Krieg. Indes hat die bisherige Forschung sich stark auf die frühe Nachkriegsmoderne konzentriert – oder auf die Diskussionen im weiteren Umfeld der Internationalen Bauausstellung 1987 und damit auf die im Kontext der Häuserbesetzungen formulierten postmodernen Erwartungen an das urbane Leben.[5] Sehr viel weniger analysiert worden ist dagegen der konkrete Prozess des Umschlagens einer zunächst dominierenden Zustimmung zu den Idealen der städtebaulichen Moderne in deren Ablehnung. Dabei ist anzunehmen, dass West-Berlin auch für die Abkehr von der Nachkriegsmoderne und damit für die wachsende Kritik an den etablierten staatlichen Baupraktiken eine zentrale Rolle zukam.
Indes beschränkte sich diese Kritik nicht auf Architekturfragen im engeren Sinne, sondern bezog insbesondere im linksalternativen Milieu übergreifende gesellschaftliche Verschiebungen ein. Sabine Hake hat gezeigt, wie Berlin schon während der Weimarer Republik zu einem zentralen Schauplatz der Auseinandersetzung mit umfassenden sozialen Veränderungen wurde: Der Aufstieg der Angestellten sowie überhaupt die Krise der etablierten Klassengesellschaft wurden demnach bevorzugt anhand der Berliner Topographie verhandelt.[6] Nachdem sich die Hauptstadt im Kaiserreich zur Stadt der Mietskasernen und der rasch anwachsenden Arbeiterquartiere entwickelt hatte, kam ihr für die Beschreibung des proletarischen Milieus eine hervorragende Bedeutung zu.[7] Allerdings veränderte sich mit der Nachkriegsordnung die soziale und ökonomische Stellung Berlins. Aus West-Berlin zogen mit Beginn des Kalten Kriegs zahlreiche Traditionsbetriebe fort. Das führte nicht nur dazu, dass der wirtschaftliche Aufschwung dort vergleichsweise spät einsetzte, sondern brachte auch eine langfristige Strukturschwäche als Industriestandort mit sich. Umso mehr stellt sich die Frage, ob die Wohnverhältnisse in der Stadt auch nach 1950 prominent herangezogen wurden, um sich mit »der Arbeiterschaft« und überhaupt mit Verschiebungen in der sozialen Ordnung zu befassen.
Beschreibungen sozialer Ordnungen unterliegen immer einem Wandel: weil sich Gesellschaften ändern und weil sich permanent verschiebt, wer wie Repräsentationen der sozialen Ordnung schafft, die als realitätsnah anerkannt werden.[8] Dabei sind es stets – mit dem Soziologen Howard S. Becker gesprochen – unterschiedliche Interpretationsgemeinschaften, die Erzählungen über Gesellschaften hervorbringen.[9] Dazu zählt an prominenter Stelle die Soziologie, dazu gehören aber auch die Medien und die von ihnen verbreiteten Bilder und Texte. Vor diesem Hintergrund bezieht die folgende Analyse verschiedene Formen des »telling about society« ein. Sie versucht zu zeigen, dass in der Darstellung der Neubausiedlung als Problem wissenschaftliche Wissensproduktion, gesellschaftspolitisches Engagement und mediale Logiken ineinandergriffen. Dementsprechend befasst sich der erste Abschnitt anhand zeitgenössischer sozialwissenschaftlicher Arbeiten mit der Einordnung des Märkischen Viertels in die soziale Topographie der geteilten Stadt. Der zweite Abschnitt bezieht sich auf die Repräsentation der Siedlung im Fernsehen sowie in der Presse und geht auf ihre Darstellung als Quartier von Problemfamilien ein. Der dritte Teil schließlich situiert deren schlechten Ruf am Schnittpunkt von lokalen, nationalen und transnationalen Entwicklungen und zeigt, dass in der Wahrnehmung der West-Berliner Stadtrandsiedlung bereits früh eine Desillusionierung über die urbane Moderne als städtebaulichem und gesellschaftspolitischem Projekt zum Ausdruck kam, die eng verknüpft war mit wachsenden Bedenken hinsichtlich der Abkoppelung so genannter sozial Schwacher vom Rest der Gesellschaft.
1. Ein proletarisches Neubauviertel?
Arbeit an der sozialen Topographie der Stadt
Kombiniert mit sozialplanerischen Ambitionen stellte das Märkische Viertel einen Versuch dar, die zeitgenössische Wohnungsnot zu bekämpfen. Zwischen 1963 und 1974 am nördlichen Rand West-Berlins entlang der Mauer zu Ost-Berlin erbaut, war das Viertel eine von zahlreichen Stadtrandsiedlungen, die in der Bundesrepublik im Rahmen der staatlichen Baupolitik entstanden.[10] Anders als im Falle der zeitlich beinahe parallel – seit 1962 – im Süden Berlins erbauten Gropiusstadt waren dem Bau des Märkischen Viertels langjährige Planungen vorangegangen, die sich zunächst auf eine vor Ort befindliche Laubensiedlung bezogen. Die Siedlung hatte nach Kriegsende primär Menschen angelockt, die infolge der Zerstörungen auf der Suche nach Wohnraum waren. Noch Mitte der 1950er-Jahre galt sie als größtes West-Berliner Notwohnungsgebiet.[11] Erst am Übergang zu den 1960er-Jahren wichen die ursprünglich auf Bezirksebene formulierten Pläne zu dessen Erschließung einem sehr viel ehrgeizigeren Vorhaben des Senats, der nun den Bau von 16.800 neuen Wohneinheiten für rund 50.000 Bewohner plante.
Der Mangel an Wohnraum beschränkte sich seinerzeit nicht auf West-Berlin. Allerdings wurde er dort durch den Bau der Mauer verschärft: Schließlich mussten die zuvor aus dem Ostteil der Stadt täglich nach Westen pendelnden Arbeitskräfte durch neue (westdeutsche) Kräfte ersetzt werden, für die wiederum Wohnungen benötigt wurden. Großprojekte wie das Märkische Viertel und die Gropiusstadt stellten eine Reaktion auf diese Situation dar. Außerdem sollten beide Viertel angesichts ihrer Lage direkt an der Grenze als Vorzeigeobjekte des westdeutschen sozialen Wohnungsbaus dienen.[12] Dennoch unterschied sich die West-Berliner Stadtplanungspolitik im Falle der Großsiedlungen eher graduell als grundsätzlich von derjenigen anderer westdeutscher Städte. Mit Blick auf den herrschenden Wohnungsmangel in den frühen 1960er-Jahren beschlossen zahlreiche Kommunen den Bau von Großsiedlungen, die sich ebenso in der Mischung von Hoch- und wenigen Einfamilienhäusern ähnelten wie in ihrer städtischen Randlage, die nicht allein planerischen Zielen folgte, sondern auch das Ergebnis der pragmatischen Suche nach kostengünstigen Baugrundstücken darstellte. Von seinem nach 1961 beschleunigten Bau abgesehen, war es damit weniger die Planungsgeschichte des Märkischen Viertels, die für West-Berlin spezifisch war, als die Art der öffentlichen Aufmerksamkeit, die ihm nach einer anfänglichen Begeisterung gegen Ende der 1960er-Jahre zuteil wurde.[13]
In der Politik des sozialen Wohnungsbaus schlugen sich generell ebenso moderne Stadtplanungsideale nieder, wie sich darin der Glaube an eine Optimierbarkeit sozialer Beziehungen mit Hilfe baulicher Strukturen ausdrückte.[14] Der neue Massenwohnungsbau sollte zu einer funktionalen Trennung des urbanen Raums und einer Auflockerung der städtischen Bebauung beitragen. Er versprach besser ausgestattete Wohnungen für die »breite Bevölkerung«. Vor allem aber sollte er die Durchmischung und Annäherung der sozialen Schichten fördern, indem er unterschiedlichen Einkommensgruppen neuen Wohnraum bot.[15] In Teilen blieb das ein Versprechen. Von der staatlichen Baupolitik insgesamt und zumal der Eigenheimförderung profitierte in erster Linie der Mittelstand, und beim Bau neuer Siedlungen stieß das Konzept der sozialen Mischung rasch an seine Grenzen.[16]
Dennoch bedeutete der Umzug in die gut ausgestatteten Wohnungen der Großsiedlungen für die meisten Bewohner zunächst einen Aufstieg. Das galt in besonderem Maße für das Märkische Viertel. Schließlich hatte ein beträchtlicher Teil der hinzuziehenden Familien zuvor in Wohnlauben und Baracken gelebt; weitere Neumieter hatten in Notunterkünften und Obdachlosenasylen gewohnt.[17] Die übrige Bevölkerung rekrutierte sich zu weiten Teilen aus innerstädtischen Quartieren wie dem Wedding,[18] dessen großflächige Sanierung Mitte der 1960er-Jahre eingesetzt hatte. Nicht selten bemühten sich die dort lebenden – häufig einkommensschwachen – Mieterinnen und Mieter selbst um die neuen Wohnungen am Stadtrand; andere wurden zwangsumgesetzt.[19] Dementsprechend hoch war im Märkischen Viertel der Anteil an Sozialhilfeempfängern. Jede sechste Familie nahm 1970 vorübergehend oder laufend Fürsorgeleistungen in Anspruch.[20] Für die meisten Haushalte galt, dass die Mieten im sozialen Wohnungsbau über den Mieten in ihren früheren Wohnungen lagen. Das Durchschnittseinkommen im Märkischen Viertel war deutlich niedriger als dasjenige in West-Berlin insgesamt; zudem war der Anteil der Arbeiter (40 Prozent) an den erwerbstätigen Bewohnern der Siedlung verhältnismäßig hoch, während der Anteil der Angestellten, Beamten und Selbstständigen mit 29 Prozent unter dem West-Berliner Durchschnitt lag.[21] Hinzu kam ein überdurchschnittlich hoher Anteil an verschuldeten Haushaltsvorständen.[22] Sozial homogen war die Bevölkerung des Viertels jedoch keineswegs. Schließlich handelte es sich nicht allein oder in der Mehrheit um Arbeiterhaushalte; zudem umfasste die Kategorie der »Arbeiter« Familien, die sich in ihrer Stellung stark voneinander unterschieden. Gleichwohl galt das Viertel als Quartier von Arbeiterfamilien.
Sozialwissenschaftler und Akteure aus dem Umfeld der Studentenbewegung sahen in der Stadtrandsiedlung auch deswegen ein geeignetes Experimentierfeld für ihre Projekte, weil sie sie als Gegenstück zu den traditionellen innerstädtischen Arbeiterquartieren der Stadt betrachteten. Sie hätten, erinnerte sich etwa der Erziehungswissenschaftler C. Wolfgang Müller, in einem »überwiegend proletarischen« Neubauviertel einen interdisziplinären Umgang mit Problemen »insbesondere der schichtspezifischen, politisch-gesellschaftlichen Erziehung« erproben wollen.[23] Das Märkische Viertel erschien ihnen für diese Arbeit besonders geeignet; zum einen, weil es viele Arbeiterhaushalte aufwies, zum anderen, weil es die Wohnungs- und Sozialisationsprobleme der Satellitenstädte »wie unter einem Vergrößerungsglas sichtbar« mache.[24]
Müller hatte Ende der 1960er-Jahre eine Professur für Sozialpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Berlin inne. Die etwa 100 PH-Studierenden, die 1968 unter seiner Leitung in das Märkische Viertel kamen, gehörten zu den ersten von außen kommenden Akteuren, die sich dort engagierten. Zunächst als Teil ihrer Seminararbeit und dann im Rahmen eines von der VW-Stiftung finanzierten Forschungsvorhabens führten sie zahlreiche Projekte in der Siedlung durch. Sie gaben gemeinsam mit den Bewohnern eine Stadtviertelzeitung heraus und engagierten sich in Elternkreisen, in der Jugendfreizeitstätte und auf dem Abenteuerspielplatz.[25] Dabei bezogen sich die Studierenden auf Methoden der sozialen Arbeit, wie Müller sie aus den USA kannte, und konzentrierten sich bei ihrem sozialpädagogischen Engagement primär auf proletarische Familien.[26] Dementsprechend hieß es über die eigene Medienarbeit, sie versuche, die »auf Selbsthilfe gerichteten Kommunikationsstrukturen alter Arbeiterquartiere in überwiegend proletarischen Neubauvierteln zu rekonstruieren«.[27] Nachbarschaftliche Solidarität galt den Studierenden als Charakteristikum eines innerstädtischen proletarischen Milieus, das sie nun am Stadtrand erneuern wollten.
Die Gegenüberstellung von warmen, nachbarschaftlichen, irgendwie heimeligen Altbauvierteln und kalten, anonymen Großsiedlungen strukturierte die gesamte Urbanitätsdebatte der späten 1960er- und der 1970er-Jahre.[28] In intellektuellen Zirkeln gerieten die funktionalen Maßgaben der modernen Stadtplanung in die Kritik. Während das moderne Bauen zu Beginn der 1960er-Jahre noch als Ausdruck gesellschaftlichen Fortschritts begrüßt wurde, wuchs in den späten 1960er-Jahren die Skepsis gegenüber dessen Ästhetik sowie den Konsequenzen für das urbane Zusammenleben, das individuelle Verhalten und die Psyche. Besonders häufig waren es die von Hochhäusern dominierten Großsiedlungen, an denen sich diese Bedenken entzündeten. Sozialwissenschaftler wie Publizisten tendierten dazu, die neuen Viertel als soziale Experimente zu behandeln: als Labore einer industriegesellschaftlichen Moderne, in denen sich neue Kommunikationsformen, aber auch neue soziale Probleme beobachten ließen.[29] Insbesondere für Soziologen diente in diesem Zusammenhang der Vergleich der alten und neuen Quartiere dazu, sich mit Veränderungen in den urbanen Lebensstilen im Allgemeinen sowie dem proletarischen Milieu im Besonderen zu befassen.
So hat der französische Soziologe Christian Topalov in einer wissenshistorischen Arbeit gezeigt, wie sich die Rede von »traditional working-class neighborhoods« in den 1950er- und 1960er-Jahren international zu einem neuen soziologischen Beschreibungsmodell entwickelte. Als Ausgangspunkt dienen ihm drei stadtsoziologische Klassiker: »Family and Kinship in East London« von Michael Young und Peter Willmott (Erstausgabe 1957), »The Urban Villagers« von Herbert J. Gans (Erstausgabe 1962) sowie »Rénovation urbaine et changement social« von Henri Coing (Erstausgabe 1966). Zwar unterscheiden sich die nationalen Settings, in denen sich die vier Soziologen bewegten, doch verdeutlicht Topalov, wie sie alle sich in ihren Studien auf innerstädtische Arbeiterviertel bezogen, die eine Phase der grundlegenden Sanierung durchliefen. Sie gingen dabei jeweils davon aus, es mit einer sozialen Einheit zu tun zu haben: mit einer Gruppe, die inmitten der Metropole durch enge soziale Beziehungen – wie in einem Dorf – miteinander verbunden sei und die über Generationen hinweg eigene Verhaltensmuster ausgebildet habe.[30] Während frühere soziologische Beschreibungen die urbanen Arbeiterviertel eher als unorganisierte Slums dargestellt hatten, entdeckte die Stadtsoziologie sie nun als quasi-dörfliche Gemeinschaften, deren Verschwinden sie kritisierte. In Suburbia und den neuen Quartieren, in denen sie ihre sanierungsbedingt umgesetzten Familien aus den Innenstädten wiederfanden, sahen die Autoren wiederum eine neue Gesellschaft entstehen.[31] Über den Vergleich zwischen den randstädtischen neuen und innerstädtischen alten Räumen näherten sie sich einem urbanen proletarischen Milieu, dessen Fortbestand ihnen wegen der Umstrukturierung der innerstädtischen Arbeiterquartiere ungewiss erschien.
Die westdeutsche Stadtsoziologie brachte keine Studie zu den Effekten des Urban Renewal hervor, die international ähnlich breit rezipiert wurde wie die Untersuchungen, auf die Topalov sich bezieht.[32] Doch begann sich auch in der Bundesrepublik eine jüngere Generation von Stadtsoziologen mit den Effekten der modernen Stadtplanung zu befassen. Deren Studien wiesen insofern Parallelen zu den Analysen von Gans, Young oder Willmott auf, als auch sie die Vereinzelung am Stadtrand mit einem Ideal innerstädtischer Nachbarschaftlichkeit kontrastierten. Der Münchner Soziologe Karolus Heil wies 1973 mit einer gewissen Berechtigung darauf hin, dass die zeitgenössische Forschung die alten Stadtviertel romantisiere.[33] Denn tatsächlich wurden die Großsiedlungen häufig in Abgrenzung von warmherzigen alten Stadtvierteln als beklemmende Orte der Entpersönlichung dargestellt – bis hin zu der Rede von einer »Kommunikose« als durch die Siedlungen hervorgerufener Erkrankung.[34]
Auch für das Märkische Viertel gilt, dass seine Position in der sozialen Topographie der Stadt nur über den permanenten Vergleich mit innerstädtischen Vierteln verständlich wird. »Einige von ihnen«, schrieb Marion Schreiber 1968 in der »ZEIT« über dessen Bewohner, »fahren eine halbe Stunde und länger mit dem Bus, um in Wedding oder Kreuzberg in ihrem alten ›Laden an der Ecke‹ einzukaufen und dabei ihren Bedarf an ›Informationen und Kontakten‹ zu decken«.[35] Die Großsiedlung galt nicht nur in ihrer baulichen Struktur als Gegenstück zu den Altbauvierteln, sondern auch in den Formen des Zusammenlebens, die sie hervorbrachte. In seiner Analyse des Märkischen Viertels aus dem Jahr 1973 führte der Soziologe Hermann Fischer-Harriehausen daher nicht allein den »geballten Anteil wirtschaftlich Schwacher« an, um die Siedlung als Problemgebiet zu kennzeichnen, sondern er verwies auch auf die unterentwickelten sozialen Kontakte der Bewohnerinnen und Bewohner. Deren »primäre Vereinzelung« stand für Fischer-Harriehausen in einem deutlichen Kontrast zu den engen Sozialkontakten, die sie in ihren Herkunftsbezirken unterhielten.[36] Einem gängigen Trend zu sozialpsychologischen Sichtweisen folgend, mischte sich in seine Beschreibung der gefühlskalten Hochhaussiedlung die Sorge um eine bedrohte urbane Arbeiterkultur.
Den meisten zeitgenössischen Kommentatoren diente ein idealisiertes Modell proletarischer Nachbarschaftlichkeit als Kontrastfolie ihrer wachsenden Kritik an den neuen Stadtrandsiedlungen; und das unabhängig von ihrer politischen Situierung. Doch kam im Falle des Märkischen Viertels hinzu, dass für viele der lokal engagierten Akteure dieses Modell eines urbanen Miteinanders handlungsleitend wurde: sei es, weil sie sich dort marxistisch inspiriert um proletarische Solidarität bemühten; sei es, weil sie im Umgang mit den neuen urbanen Strukturen neue Formen der Partizipation entwickeln wollten. Mehr als in anderen Großsiedlungen ging damit im Falle des Märkischen Viertels der soziologische Impetus der Beobachtung sozialer Prozesse in den aktiven Versuch ihrer Herstellung über.[37] Und früher als in anderen Siedlungen geriet im Zusammenhang mit dem West-Berliner Viertel eine moderne Stadtplanung in die Kritik, die als zu wenig human und zu wenig demokratisch galt. Denn tatsächlich war in West-Berlin das linksalternative Milieu, von dem diese Kritik ausging, besonders aktiv und vermochte besonders effektiv die Aufmerksamkeit der Massenmedien zu erregen.
2. Medialisierte Randständigkeit:
Zur Darstellung der Großsiedlung als Problemviertel
Hans Rickmann: »Was mich eigentlich heute stört, dass man von Anfang an nicht wusste, worum es ging. Es is mir alles später klar geworden, dass da welche Bücher drüber schreiben, dass da welche Dokumentationen von machen […]. Ich bin ja mit der Motivation herangegangen, […] dass det ne echte Selbsthilfe für uns sein sollte […]. Det det schon Leute da gab, die damit wat geplant hatten und uns eingeplant haben, det is mir alles später erst gekommen.«[38]
Auf diese Weise kommentierte ein Bewohner in einem von der Filmemacherin Helga Reidemeister 1974 aufgezeichneten Gespräch die vorangegangenen sechs Jahre. Hans Rickmann hatte bei verschiedenen politischen Initiativen und Filmprojekten mitgearbeitet, doch wehrte er sich in der Rückschau gegen die Vereinnahmung dieses lokalen Engagements durch Filmemacher und studentische Gruppen, die nicht selbst in der Siedlung wohnten.[39] Für die Entwicklung des Märkischen Viertels ist diese Wahrnehmung insofern kennzeichnend, als sich die Bewohner tatsächlich früh organisierten, um gegen infrastrukturelle Probleme zu protestieren.[40] Doch waren es maßgeblich von außen kommende Akteure, die in den späten 1960er-Jahren eine überregionale Öffentlichkeit auf die Siedlung aufmerksam machten. Meist in kritischer Absicht und dem linksalternativen Milieu verbunden, nahmen sie das Märkische Viertel zum Ausgangspunkt, um auf die Probleme der zeitgenössischen Stadtplanungspolitik oder des Kapitalismus an sich hinzuweisen. In den medialen Reaktionen, die sie damit hervorriefen, lag allerdings eine zentrale Ursache für die nachhaltige Abwertung des Viertels.Denn die geballte Medienarbeit von Akteuren aus dem linksalternativen Milieu, denen ebenso an einer Aktivierung der lokalen Bevölkerung gelegen war wie am Aufdecken gesellschaftlicher Missstände, ging Hand in Hand mit einer im Fernsehen und in der Presse verbreiteten Darstellung des Viertels als außergewöhnlich problematischem Quartier.[41]
Die neuen Bewohnerinnen und Bewohner des Märkischen Viertels sahen sich seit den späten 1960er-Jahren immer wieder zur Teilnahme an Interviews, Film- und Zeitungsprojekten aufgefordert. Bis Mitte der 1970er-Jahre, als das Interesse an dem Viertel schrittweise wieder nachließ, suchten Studenten, Reporter und Filmemacher wiederholt Ansässige, die sich an ihren Projekten beteiligten.[42] Kennzeichnend für die Vielfalt dieses Interesses waren die Arbeiten von Helga Reidemeister. Zunächst als Studentin für eine Ausstellung zur Stadtplanungspolitik, dann im Rahmen des Forschungsprojekts von C. Wolfgang Müller und schließlich als Teil ihrer eigenen filmischen Arbeit führte sie im Märkischen Viertel über mehrere Jahre hinweg Interviews mit Bewohnern. Nach dem Vorbild der Pariser Filmprojekte im Mai 1968 wollte sie ihnen die Möglichkeit zur »Selbstrepräsentation« geben.[43] Einen Teil des so gewonnenen Materials verarbeitete Reidemeister in Dokumentarfilmen. Andere Teile wurden im Laufe der 1970er-Jahre in Zeitschriften und Schulbüchern veröffentlicht.[44] Interessant sind ihre Interviews nicht allein mit Blick auf die Selbstdarstellung der »Arbeiterinnen und Arbeiter«, auf die Reidemeister sich konzentrierte. Aufschlussreich sind sie vielmehr, weil sie ein neues Bemühen um die Stimme einer Bevölkerung verdeutlichen, deren Benachteiligung auch darin gesehen wurde, dass sie ihre Bedürfnisse nicht effektiv artikulieren könne. Der Dokumentarfilm, der O-Ton, die dialektal korrekte Verschriftlichung von Interviews – in den Darstellungen des Märkischen Viertels dominierte die dokumentarische Form. Dennoch blieb das Verhältnis der Interviewten zu den Beobachtern der eigenen lokalen Ordnung ambivalent. Immer wieder beschwerten sich Bewohner darüber – wie Hans Rickmann in dem zitierten Gespräch –, zu wenig Einfluss auf die medialen Darstellungen des Viertels zu haben.
Unabhängige Regisseure und Rundfunkredakteure drehten in der Großsiedlung eine Reihe von Dokumentarfilmen. Meist von den Sendeanstalten finanziell unterstützt, erreichten viele dieser Arbeiten ein größeres Publikum. In den frühen 1970er-Jahren wurden sie teilweise mehrfach im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gezeigt und daraufhin auch in der Presse besprochen.[45] »Wir wollen Blumen und Märchen bauen« von Thomas Hartwig und Jean-François le Moign sowie deren Folgefilm »Rudi«, »Urbs Nova?« von Herbert Ballmann und Wolfgang Patzschke oder der dokumentarische Spielfilm »Der lange Jammer« von Max Willutzki liefen in den frühen 1970er-Jahren im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Andere, wie »Der gekaufte Traum« von Helga Reidemeister (1974–1977) und »Nun kann ich endlich glücklich und zufrieden wohnen« von Christian Ziewer, Max Willutzki und Klaus Wiese (1970) liefen im Kino und bei Festivals. Durchgehend stellten diese Filme so genannte proletarische oder unterprivilegierte Protagonisten in den Mittelpunkt.
Dass in der Großsiedlung binnen weniger Jahre eine vergleichsweise große Zahl an Dokumentarfilmen entstand, verdeutlicht deren Attraktivität als Schauplatz sozialdokumentarischer Arbeiten. Vor allem aber zeugt es von der Anziehungskraft, die West-Berlin für eine neue Generation von sozialistisch inspirierten Filmschaffenden hatte.[46] Thomas Hartwig und Jean-François le Moign, Max Willutzki und Christian Ziewer gehörten dem ersten Jahrgang der 1966 eröffneten Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin an, bis sie 1968 infolge einer politischen Aktion ausgeschlossen wurden.[47] Bekannt wurde in den 1970er-Jahren dann vor allem Ziewer mit seinem Versuch einer Wiederbelebung des Arbeiterfilms. Alle vier – Willutzki, Ziewer, Hartwig und le Moign – hatten im Märkischen Viertel begonnen, an ihren ersten Filmprojekten zu arbeiten. Der anfängliche Kontakt dorthin, erinnerte sich Hartwig 2012, sei über die Ehefrau von le Moign zustande gekommen, die wiederum C. Wolfgang Müller gekannt habe.[48] Auf diesem Weg seien sie mit dem Gemeinwesenprojekt im Märkischen Viertel in Berührung gekommen.
Die Großsiedlung war Teil eines sich seit 1967 in West-Berlin verdichtenden Netzes von Projekten der sozialen und politischen Arbeit.[49] Und je mehr Initiativen sich dort etablierten, desto mehr festigte sich der Status des Viertels als Labor der Beobachtung von und Arbeit mit »Arbeiterinnen und Arbeitern«. Die enge Vernetzung auf der Ebene der externen Akteure hatte ihr Äquivalent in einem sehr überschaubaren Kreis an Bewohnern, die in Dokumentationen und Zeitungsartikeln als typische Vertreter des Märkischen Viertels auftraten. Hans Rickmann etwa wurde von Helga Reidemeister interviewt und im »Spiegel« zitiert; er war der Protagonist einer ZDF-Reportage und zugleich einer der Bewohner, deren Bemühen um einen Mietstreik Max Willutzki in »Der lange Jammer« zu einem politischen Lehrstück über die Solidarisierung Unterdrückter montierte. Damit gehörte er zu einer Handvoll von Mietern, die sich in der Großsiedlung in politischen Initiativen engagierten und in diesem Umfeld für Medienprojekte rekrutiert wurden.
Keineswegs alle Bewohner fanden sich in den »Arbeiterinnen und Arbeitern« wieder, die in Presse und Fernsehen stellvertretend für die Bevölkerung der Siedlung interviewt wurden. Das verdeutlichen die Reaktionen auf den vom ZDF produzierten und dort 1971 erstmals ausgestrahlten Dokumentarfilm »Urbs Nova?«.[50] Der Film schilderte den Umzug Hans Rickmanns mit dessen Ehefrau Janine nach West-Berlin und folgte deren Weg vom Arbeiterwohnheim über eine Erdgeschosswohnung in Kreuzberg bis hin zur Neubauwohnung im Märkischen Viertel. Der Sender pries den Film als »Soziogramm« und stellte wiederum Rickmann als repräsentativen Bewohner dar. Sozial eingeordnet wurde dieser allerdings weniger als Arbeiter denn als Randständiger.
Interviewer [mit Blick auf Rickmanns Lebensverhältnisse 1969]: »Es war eigentlich eine Zeit, in der schon eine Menge Bundesbürger sich einen gewissen Reichtum geschaffen hatten. Wir sprechen von der Wohlstandsgesellschaft, vom Wirtschaftswunder. Sie standen da ein wenig abseits, Herr Rickmann.«
Hans Rickmann: »Wir fingen damals an, das, was andere schon hatten, langsam aufzubauen. Damals natürlich, habe ich mich erst einmal am Rande der Gesellschaft gefühlt, aber wenn man das ein wenig besser überblickt später, dann muss man feststellen, dass ich eigentlich nie eine andere Chance gehabt habe als am Rande der Gesellschaft zu stehen, seitdem ich überhaupt auf der Welt war.«[51]
Es war sein Hang zu revolutionärer Rhetorik, der Rickmann für Filmschaffende besonders interessant machte. Der Telefondienst des ZDF indes notierte im Anschluss an die Wiederholung des Films am 10. Oktober 1973: »Urbs Nova, 28 Anrufe ab 22 Uhr: Massierte Proteste vor allem von Bewohnern des Märkischen Viertels. Fühlten sich diffamiert, da Aussagen angeblich nicht der Wirklichkeit entsprechen.« Und an anderer Stelle: »Empörend. Rickmann mit seiner ›Familie‹ ist ein haarsträubendes Beispiel, ein Hohn und Spott, er ist asozial, ein Penner. Immer wieder die Frage nach dem verantwortlichen Redakteur.«[52]
Tatsächlich standen »Problemfamilien« im Mittelpunkt der Darstellungen in den Massenmedien. Dabei waren es nicht allein Filmschaffende aus dem Umfeld der Studentenbewegung, die sich auf die Erziehungsprobleme kinderreicher Familien konzentrierten. Auch die etablierte Presse führte primär »sozial schwache« Familien an, um die schwierigen Zustände in den neuen Großsiedlungen zu illustrieren. In Teilen spiegelte dieser Fokus eine demographische Realität wider. Wie in den meisten Großsiedlungen, die in Reaktion auf die Wohnungskrise der Nachkriegszeit errichtet wurden, stellten junge Familien einen überdurchschnittlich hohen Anteil an der Bewohnerschaft. Im Märkischen Viertel waren 1970 knapp 30 Prozent der dort Lebenden nicht älter als 15 Jahre.[53] Zudem war der Anteil von Haushalten mit mehr als drei Personen im Vergleich zur restlichen Stadt überdurchschnittlich hoch. Doch waren es nicht allein junge Familien, sondern kinderreiche Familien mit Erziehungsproblemen, die in Reportagen als typische Bewohnerinnen und Bewohner auftauchten. Immer wieder identifizierten zeitgenössische Kommentatoren diese »Problemfamilien« als die zentrale Ursache lokaler Konflikte.
Während Beobachter aus dem linksalternativen Milieu in den zerrütteten Familienverhältnissen einen Ausdruck sozialer Benachteiligung sahen, führten die Vertreter der etablierten Presse die Konzentration »sozial Schwacher« als einen Planungsfehler an. Der »Spiegel« etwa schrieb 1970 in einem ausführlichen Artikel: »Eine Geschäftsfrau sagt: ›Also, man schämt sich, den Besuch in den Hausflur zu lassen. Und man schämt sich überhaupt zu sagen: ›Ich wohne im Märkischen Viertel.‹ Wir wohnen im ersten Stock, aber wir nehmen immer den Fahrstuhl, die Treppe kann man nicht benutzen: ein Kackhaufen neben dem anderen. Die Mütter sitzen oben, rauchen oder saufen, spielen Prinzessin oder haben irgend so einen Besuch und blöken über die Sprechanlage zu den Kindern runter: ›Mach unten!‹«[54] Des Weiteren wurde kommentiert, dass der »Anteil der Problemfamilien« im Märkischen Viertel dreimal so hoch sei wie in klassischen Berliner Arbeiterbezirken. Die sozial Schwachen attackierten dort die sozial Schwächeren, erklärte der »Spiegel«, und wartete mit weiteren Beispielen familiärer und nachbarschaftlicher Streitigkeiten auf.
Das Unwohnliche des Viertels begründeten zeitgenössische Beobachter häufig mit dem abweichenden sozialen Verhalten der dort lebenden Menschen. Die stigmatisierenden Beschreibungen einer sozialen Gruppe und eines urbanen Raums legten sich übereinander. Bemerkenswert ist daran, dass anhand der Großsiedlung eine Auseinandersetzung mit einem sich auflösenden Klassenmilieu stattfand: Darstellungen des Viertels umkreisten stets aufs Neue die Grenze zwischen einer in den Mittelstand integrierten Arbeiterschaft und einer Problemgruppe, die sich weder einem traditionellen proletarischen Milieu noch einer neu aufgestiegenen Arbeiterschaft zuschlagen ließ. Als düsteres Szenario fand sich in den Beschreibungen der Großsiedlung das Bild einer sozialen Schicht von Randständigen, die eben nicht in der zunehmend integrierten Schicht der Arbeiter aufging und von der Solidarität etablierter Klassenbeziehungen profitieren konnte, sondern als »Subproletariat« oder »Sozialfall« am Rande der Gesellschaft stand.
Nachdem die Siedlung bei Baubeginn noch als Wohnform der Zukunft begrüßt worden war, galt sie damit schon Ende der 1960er-Jahre als Ort des sozialen Abstiegs. Dieses Image blieb in den folgenden beiden Jahrzehnten stabil. Zwar ging das öffentliche Interesse am Märkischen Viertel seit Mitte der 1970er-Jahre deutlich zurück. Auch setzten sich einzelne Presseberichte mit den verbesserten Wohnbedingungen und der hohen Wohnzufriedenheit der Bewohner auseinander. Dennoch griffen sie stets die »allgemeine« Einschätzung auf, dass die Siedlung einen schlechten Ruf habe. Dem entsprach, dass das Märkische Viertel in den 1980er-Jahren trotz gezielter Imagekampagnen der Wohnungsbaugesellschaften sowie umfassender Sanierungsprojekte mit Leerstand und einer erhöhten Mieterfluktuation zu kämpfen hatte.[55] Migrantische Milieus und damit verbundene Repräsentationen spielten für diese Entwicklung bis in die 1990er-Jahre keine nennenswerte Rolle. Dass Rapper wie der im Märkischen Viertel aufgewachsene Sido mit »Mein Block« 2004 die Großsiedlung als von Drogen und Kriminalität geprägtes Ghetto, aber eben auch als ›sein Herz, sein Leben, seine Welt‹ zeichneten,[56] war vergleichsweise neu. Doch letztlich fügte sich selbst diese Beschreibung in die etablierte Darstellung des Viertels als sozialer Brennpunkt ein.
Schon die ersten Einstellungen des Kinoerfolgs »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo« stimmten das Publikum 1981 auf die sich anschließende Erzählung von Drogenabhängigkeit und Vernachlässigung ein. Bevor der Blick auf die trüben Flure der West-Berliner Großsiedlung freigegeben wurde, in der die 13-jährige Christiane F. wohnte, sah man das Gesicht der Protagonistin und hörte sie im Off von den Kindern dort sprechen, die, »wenn sie draußen spielen und mal müssen«, es nicht mehr rechtzeitig bis in den zwölften Stock schaffen und aus Angst vor den Prügeln der Eltern dann »lieber gleich in den Hausflur« machen. Dem Film reichte dieser Einstieg, um zu verdeutlichen, in was für sozialen Umständen Christiane F. aufwuchs. Und obwohl die Siedlung selbst im Film kaum zu sehen war, umrissen Rezensenten in ihren Artikeln das Umfeld des drogenabhängigen Teenagers, indem sie auf die in Trennung lebende Mutter verwiesen – und auf das urbane Setting, in dem beide lebten: den »Betonklotz« (»Frankfurter Allgemeine Zeitung«), das »seelenlose Hochhausviertel« (»Süddeutsche Zeitung«) oder »a nasty high-rise housing development« (»Guardian«).[57] Diese Einordnungen waren kennzeichnend für das schlechte Image, das randständige Hochhaussiedlungen wie die Gropiusstadt, aus der Christiane F. kam, seinerzeit hatten.[58] Selbstverständlich ist das nicht. Schließlich banden sich Anfang der 1960er-Jahre noch umfassende Hoffnungen an die Neubauquartiere, und die Schaffung besserer urbaner Verhältnisse für alle gehörte zu den zentralen Versprechen des westdeutschen Wohlfahrtsstaats. Auch hielten die neuen Siedlungen zumindest in Teilen, was sie ursprünglich versprochen hatten: Vielen Menschen boten sie mehr Wohnraum unweit des grünen Stadtrands. Umso erklärungsbedürftiger ist ihr sich rasch verschlechternder Ruf.
Christiane F. jedenfalls knüpfte an eine Darstellung der Großsiedlung als Ort von »Problemfamilien« an, wie sie um 1970 besonders früh und besonders einflussreich mit Blick auf das Märkische Viertel formuliert worden war. Allerdings fügte sich ihre Beschreibung am Übergang zu den 1980er-Jahren stimmiger ein in das mittlerweile stärker etablierte Bild West-Berlins als Subventionsloch und Schauplatz sozialer Spannungen; ein Bild, das sich im Zuge der Hausbesetzungen und Straßenkämpfe weiter verfestigte. In vielerlei Hinsicht nahm die geballte Problematisierung des Märkischen Viertels diese späteren Darstellungen vorweg. Das um 1970 massive Interesse an der West-Berliner Großsiedlung muss dabei im Schnittpunkt dreier Entwicklungen gesehen werden: einer transnational wachsenden Kritik an der städtebaulichen Moderne, eines in West-Berliner linksalternativen Kreisen besonders intensiven Interesses an Stadtplanungsfragen im Allgemeinen und den Wohnbedingungen des »Proletariats« im Speziellen sowie einer deutlich weiter zurückreichenden Tradition, sich anhand der Berliner Topographie mit Verschiebungen im Arbeitermilieu zu befassen.
Als 1972, nicht einmal 20 Jahre nach ihrem Bau, das erste Gebäude der Hochhaussiedlung Pruitt-Igoe im US-amerikanischen St. Louis gesprengt wurde, weil Kriminalität und soziale Probleme überhandnahmen, galt das nicht nur lokal als Ausdruck einer gescheiterten Politik des sozialen Wohnungsbaus. Vielmehr wurden die Bilder der einstürzenden Hochhäuser von Pruitt-Igoe international zu Symbolen eines gescheiterten Projekts der urbanen Modernisierung, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dank eines intensiven internationalen Austauschs zwischen Architekten und Kommunalpolitikern einen bemerkenswerten Aufstieg erlebt hatte.[59] Ungeachtet der daran geknüpften sozialreformerischen Ambitionen lautete ein zentraler Vorwurf an das moderne Bauen, dass es den Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner zu wenig gerecht werde.
Dass jene Großsiedlungen, die in den 1950er- und 1960er-Jahren jeweils als Inbegriff der Moderne neu errichtet worden waren, zwar nicht weltweit, aber in westlichen Industriestaaten oft binnen weniger Jahre als gescheiterte Experimente galten, muss als Teil einer transnationalen Geschichte der Desillusionierung über moderne Planungsideale gelesen werden.[60] Schließlich entstanden nicht nur die Maßgaben der funktionalen Stadtplanung im Rahmen eines intensiven Austauschs über nationale Grenzen hinweg. Auch die Kritik an der ›unbehaglichen‹ urbanen Moderne, die sich aus Stadtplanungszirkeln ebenso speiste wie aus den Kreisen von Stadtsoziologen und anderen Experten des Urbanen, entwickelte sich in einem transnationalen Kontext. Die Streitschrift der US-amerikanischen Stadtplanungskritikerin Jane Jacobs zu »Tod und Leben großer amerikanischer Städte« hatte in Westdeutschland einen bemerkenswerten Einfluss.[61] Das Gleiche gilt für die Analysen des Stadtsoziologen Herbert Gans zu den sozialen Begleiterscheinungen einer umfassenden Modernisierung der amerikanischen Innenstädte. Zudem begleitete nicht zufällig das Aufkommen neuer sozialer Bewegungen das Ende der transatlantischen Urban Renewal Order: Das Experimentieren mit neuen demokratischen Formen und die mit wachsendem Nachdruck geäußerte Forderung, in der Stadtplanung den Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner gerecht zu werden, waren eng miteinander verknüpft.[62]
Die Kritik an randstädtischen Großsiedlungen war insofern Teil eines transnationalen Abschieds von der urbanen Moderne als städtebaulichem und gesellschaftspolitischem Projekt. Das heißt nicht, dass die Auseinandersetzung mit lokalen Großbauprojekten überall nach dem gleichen Schema verlief. Selbst wenn ihnen ähnliche Planungsideale zugrunde lagen, unterschieden sich die Siedlungen in ihrer sozialen Zusammensetzung, baulichen Struktur, ihrer Positionierung im städtischen Gefüge und ihrer Planungsgeschichte deutlich. Auch zogen nicht alle in gleicher Weise die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich. Sowohl innerhalb der einzelnen Städte wie überregional unterschied sich ihr Image. In der Geschichte von Großsiedlungen und zumal der Geschichte ihrer Repräsentation waren lokale Akteurskonstellationen und spezifische urbane Topographien mit nationalen und transnationalen Deutungskonstellationen verschränkt.
Dass das Märkische Viertel um 1970 weit über West-Berlins Grenzen hinaus zum Inbegriff einer urbanen Problemzone wurde, war einer medialen Ökonomie der Aufmerksamkeit geschuldet, in deren Folge die Siedlung – einmal in den Zirkel der Berichterstattung eingespeist – über mehrere Jahre hinweg zu einem besonders naheliegenden Objekt der dramatisierenden Sozialkritik wurde.[63] Als Austragungsort von internationalen Bauwochen kam West-Berlin für die westdeutsche Stadtplanungsdiskussion generell eine zentrale Bedeutung zu. Dass zur überregionalen Aufmerksamkeit für das Märkische Viertel eine Ausstellung beitrug, die von Architekturstudenten im September 1968 als Gegenveranstaltung zu den Berliner Bauwochen organisiert wurde, ist dafür kennzeichnend. Unter dem Titel »Diagnose zum Bauen in West-Berlin« widmete sich die Ausstellung einer kritischen Analyse des Baugeschehens in der Stadt. Als Musterbeispiel einer inhumanen Stadtplanungspolitik diente den Organisatoren das Märkische Viertel.[64] Ihre Kritik, die sie durch ausgiebige Zitate aus Interviews mit Bewohnern untermauerten, wurde weit über die Grenzen Berlins hinaus wahrgenommen. Dem »Spiegel« etwa diente sie als Ausgangspunkt eines längeren Berichts zum Märkischen Viertel, in dem das Magazin die »Mammutsiedlung im Norden Berlins« als »neuen Slum« beschrieb – begleitet von suggestiven Bildern.[65] Andere Kommentatoren urteilten ähnlich, wobei auffällt, dass sie anhand der Siedlung über Schwächen der westdeutschen Planungspraxis oder allgemein der urbanen Moderne berichteten, in der Regel aber keinen Bezug zu ostdeutschen Großsiedlungen herstellten. Trotz seiner exponierten Lage am Rande der Mauer wurde über das Viertel nicht im Modus der Systemkonkurrenz gesprochen. Vielmehr diente es maßgeblich einer jüngeren Generation von Akteuren dazu, sich kritisch mit der etablierten westdeutschen Bau- und Sozialpolitik sowie überhaupt mit der als sozial ungleich empfundenen westdeutschen Gesellschaft zu befassen.[66]
Die besondere öffentliche Aufmerksamkeit, die der West-Berliner Siedlung zuteil wurde, muss im Rahmen eines dichten Netzes von Projekten der gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Arbeit situiert werden, das sich Ende der 1960er-Jahre in West-Berlin etablierte.[67] Mehr als andere westdeutsche Städte entwickelte sich die Teilstadt zu einem beliebten Experimentierfeld für neue Formen der sozialen Arbeit und des universitären Arbeitens, des gesellschaftspolitischen Engagements und der alternativen Medienarbeit. Auf Akteure aus diesem Umfeld übte das Märkische Viertel eine besondere Anziehungskraft aus – weil der Anteil an Arbeiterhaushalten dort besonders hoch war, weil die neuen Stadtrandsiedlungen im zeitgenössischen Planungsdiskurs als Gegenstück zu den innerstädtischen Arbeiterquartieren gehandelt wurden und weil es sich bei den Großsiedlungen um kontroverse Räume handelte, die den einen als Laboratorium einer neuen Gesellschaft galten, den anderen als Schauplatz einer inhumanen Baupolitik.
Dementsprechend rückten im Falle des Märkischen Viertels deutlich früher als in anderen Großsiedlungen so genannte Problemfamilien in den Fokus der Kritik. Das hing nur bedingt mit dem de facto überdurchschnittlich hohen Anteil an Sozialhilfeempfängern in der Siedlung zusammen. Vielmehr entwickelte sich die Stadtrandsiedlung maßgeblich deswegen zu einem Inbegriff für gesellschaftliche Probleme, weil sich in West-Berlin Sozialwissenschaftler, Filmemacher und Aktivisten aus linksalternativen sowie radikal linken Kreisen konzentrierten, die das Viertel als Aktionsfeld für sich entdeckten und die dank ihrer Medienarbeit, vermittelt über das Leitmedium Fernsehen, eine breite Öffentlichkeit zu erreichen vermochten. Dem Bild zufolge, das sich in den Massenmedien durchsetzte, war das Märkische Viertel geprägt von Problemfamilien, die über geringe finanzielle Mittel verfügten, die Schwierigkeiten hätten, ihre Kinder angemessen zu erziehen, ihre Miete zu zahlen und sich insgesamt zu integrieren. Ziel dieser Darstellung war in der Regel eine Kritik an der herrschenden Wohnungspolitik sowie an den bestehenden gesellschaftlichen Hierarchien überhaupt. Zu ihren (nicht intendierten) Effekten gehörte hingegen eine langfristige Abwertung des Viertels, dessen einmal etabliertes schlechtes Image schwer zu revidieren war. Denn während die Siedlung tatsächlich mit infrastrukturellen und sozialen Problemen zu kämpfen hatte, entwickelte die Berichterstattung eine Eigendynamik, die mit den eigentlichen Konstellationen vor Ort nichts mehr zu tun hatte.
In den Darstellungen des Viertels und seiner Herstellung als urbaner Problemzone deutete sich früh eine grundlegende Verschiebung in der Selbstbeschreibung der westdeutschen Gesellschaft an, in der mit dem Abschied von der Klassengesellschaft und der schrittweisen Auflösung einer »Arbeiterklasse«, die sich als solche verstand, alternative Beschreibungen des Unten und Außen der Gesellschaft kursierten. Dadurch, dass Darstellungen des Märkischen Viertels stets den unteren Rand der Arbeiterschaft umkreisten, warfen sie die Frage auf, was das Arbeitermilieu um 1970 ausmache und wer dazu gehöre. Als Krisenszenario unterlag den Beschreibungen der Großsiedlung das Bild einer neuen sozialen Schicht von desintegrierten Randständigen. Was in den soziologischen und medialen Darstellungen um 1970 zur Debatte stand, war damit nicht allein die moderne Stadtplanung, sondern die von der Geschichtswissenschaft für das späte 20. Jahrhundert konstatierte, bis dato aber nur unzureichend erforschte Auflösung des traditionellen Arbeitermilieus.[68] In den Auseinandersetzungen um das Märkische Viertel zeichnete sich ein umfassender Wandel in den westdeutschen Deutungskonstellationen ab: nicht allein, weil darin der Bruch mit einem ungebrochenen Fortschrittsglauben zum Ausdruck kam, sondern auch, weil zeitgenössische Akteure anhand des Viertels die Vision einer demokratischeren, inklusiveren Gesellschaft entwickelten, die in den 1970er-Jahren weit über West-Berlin hinaus an Einfluss gewann.
Anmerkungen:
[1] Marie-Luise Scherer, »Brei für alle«. Geglücktes Wohnprojekt? Im Märkischen Viertel von Berlin wird jede fünfte Familie von der Sozialfürsorge unterstützt, in: ZEIT, 21.11.1969, S. 12.
[2] Zu den verschiedenen Phasen der Auseinandersetzung mit der Siedlung siehe Harald Bodenschatz/Clemens Radke/Carsten Seifert, Märkisches Vierteljahrhundert, in: Bauwelt 80 (1989), S. 2038-2047, sowie zur Chronologie ihrer Entwicklung Alexander Wilde, Das Märkische Viertel, Berlin 1989.
[3] Die historische Analyse der von urbanen Kontexten ausgehenden Problematisierung sozialer Ungleichheit zwischen 1950 und 1990 ist das Thema meines Habilitationsprojekts, auf dem die vorliegenden Überlegungen basieren und das den Arbeitstitel trägt: »Badlands oder die moralische Ökonomie der Wohlstandsgesellschaft. Urbane Marginalität in Frankreich und Westdeutschland«.
[4] Stephanie Warnke bezeichnet Berlin gar als »Hauptstadt der öffentlichen Architekturdebatten«. Stephanie Warnke, Stein gegen Stein. Architektur und Medien im geteilten Berlin 1950–1970, Frankfurt a.M. 2009, S. 9. Sandra Wagner-Conzelmann, Die Interbau 1957 in Berlin. Stadt von heute – Stadt von morgen. Städtebau und Gesellschaftskritik der 50er Jahre, Petersberg 2007, S. 9, unterstreicht die politische und propagandistische Funktion der Interbau als »Schaufenster der Freiheit«.
[5] Emily Pugh, Beyond the Berlin Myth: The Local, the Global and the IBA 87, in: Philip Broadbent/Sabine Hake (Hg.), Berlin. Divided City, 1945–1989, New York 2010, S. 156-167.
[6] Sabine Hake, Topographies of Class. Modern Architecture and Mass Society in Weimar Berlin, Ann Arbor 2008.
[7] Besonders prägend für diese Wahrnehmung der Stadt und ihrer Architektur war die kritische Darstellung von Werner Hegemann, Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietskasernenstadt der Welt, Berlin 1930.
[8] Patrick Joyce, What is the Social in Social History?, in: Past and Present 206 (2010), S. 213-248. Zu einer wissensgeschichtlichen Annäherung an diesen Wandel siehe die Beiträge in Christiane Reinecke/Thomas Mergel (Hg.), Das Soziale ordnen. Sozialwissenschaften und gesellschaftliche Ungleichheit im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2012.
[9] Howard S. Becker, Telling about Society, Chicago 2007.
[10] Zur Geschichte der Großsiedlungen siehe Ulfert Herlyn/Adelheid von Saldern/Wulf Tessin (Hg.), Neubausiedlungen der 20er und 60er Jahre. Ein historisch-soziologischer Vergleich, Frankfurt a.M. 1987; Axel Schildt/Arnold Sywottek (Hg.), Massenwohnung und Eigenheim. Wohnungsbau und Wohnen in der Großstadt seit dem Ersten Weltkrieg, Frankfurt a.M. 1989. Zur aktuellen historischen Erforschung der Großsiedlungen vgl. zudem Sebastian Haumann/Georg Wagner-Kyora, Westeuropäische Großsiedlungen – Sozialkritik und Raumerfahrung, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 1/2013, S. 6-12, sowie die Beiträge zum Themenschwerpunkt »Westeuropäische Großsiedlungen« im selben Heft. Speziell zur Baugeschichte des Märkischen Viertels siehe Torsten Birne, In weiter Ferne – Das Märkische Viertel und die Gropiusstadt. Wohnungsbau in Westberlin 1960 bis 1972, in: Thorsten Scheer u.a. (Hg.), Stadt der Architektur. Architektur der Stadt. Berlin 1900–2000, Berlin 2000, S. 307-313; DEGEWO (Hg.), 75 Jahre DEGEWO, Berlin 1999, S. 53-67.
[11] Zur Geschichte der Laubenkolonie siehe Bernd Hildebrandt/Klaus Schlickeiser, Abschied von der Laube. Die Zeit vor der Entstehung des Märkischen Viertels, Berlin 1989.
[12] Wilde, Das Märkische Viertel (Anm. 2), S. 43.
[13] Carla Aßmann befasst sich in ihrer Promotion aus stärker emotionshistorischer Perspektive mit der Entwicklung des Märkischen Viertels, die sie zu Le Mirail im französischen Toulouse in Bezug setzt: <http://www.ngzg.geschichte.uni-muenchen.de/personen/ehemalige_ls_sj/assmann_carla/index.html>.
[14] Zum Wohnungsbau der Nachkriegszeit allgemein vgl. v.a. Jeffry M. Diefendorf, In the Wake of War. The Reconstruction of German Cities after World War II, New York 1993; Ingeborg Flagge (Hg.), Geschichte des Wohnens, Bd. 5: 1945 bis heute. Aufbau, Neubau, Umbau, Stuttgart 1999.
[15] Zu den Urbanitäts- und sozialen Ordnungsvorstellungen siehe David Kuchenbuch, Geordnete Gemeinschaft. Architekten als Sozialingenieure – Deutschland und Schweden im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2010, sowie speziell zu den Großsiedlungen Sylvia Necker, Hässlich, aber innovativ? Architektur und soziale Wirklichkeit der Großsiedlung Steilshoop, in: Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (Hg.), 19 Tage Hamburg. Ereignisse und Entwicklungen der Stadtgeschichte seit den fünfziger Jahren, München 2012, S. 161-173.
[16] Zur sozialen Schieflage im sozialen Wohnungsbau siehe Adelheid von Saldern, Häuserleben. Zur Geschichte städtischen Arbeiterwohnens vom Kaiserreich bis heute, 2. Aufl. Bonn 1997, v.a. S. 266-269. Zur mittelschichtsorientierten Eigenheimförderung vgl. Dagmar Hilpert, Wohlfahrtsstaat der Mittelschichten? Sozialpolitik und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik Deutschland (1949–1975), Göttingen 2012, S. 271-298.
[17] Vgl. Karl-Heinz Hasselmann, Neue Bevölkerungs- und Sozialstrukturen in West-Berlin. Erläutert am Beispiel des Märkischen Viertels, in: Soziale Arbeit 21 (1972), S. 149-164, hier S. 156.
[18] 75 Jahre DEGEWO (Anm. 10), S. 62.
[19] Vgl. hierzu Katrin Zapf, Rückständige Viertel. Eine soziologische Analyse der städtebaulichen Sanierung in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 1969.
[20] Wilde, Das Märkische Viertel (Anm. 2), S. 114. Der eingangs zitierte »ZEIT«-Artikel von 1969 spricht dagegen von jeder fünften Familie. Indes erscheinen die von Wilde auf der Basis von Reinickendorfer Bezirksakten recherchierten Angaben vertrauenswürdiger.
[21] »Für den Überblick kann im Märkischen Viertel angenommen werden, daß die stärkste Gruppe die der ›Arbeiter‹ ist, die 40% erreichen. Dieser Gruppe stehen ›Angestellte und Beamte‹ mit 27% gegenüber. Relativ hoch ist der Anteil der Rentner mit 22%.« Hasselmann, Sozialstrukturen (Anm. 17), S. 153f. Der Autor bezieht diese Angaben auf die Gesamtheit der »Arbeitenden im Beruf«, zu denen er allerdings neben den üblichen Kategorien auch »Rentner« zählt. Die Daten basieren auf einer 1970 durchgeführten Stichproben-Befragung der Bewohner im Viertel.
[22] Ebd., S. 160.
[23] C. Wolfgang Müller/Ursula Schröter, Das Gemeinwesenprojekt Märkisches Viertel in Berlin, in: betrifft: erziehung 8 (1975), S. 28-33, hier S. 28. Siehe hierzu auch C. Wolfgang Müller, Ein Stück des Wegs zur gemeinsamen dritten Sache, in: Widersprüche 68 (1998), S. 7-16.
[24] Müller/Schröter, Gemeinwesenprojekt (Anm. 23), S. 28.
[25] Vgl. hierzu: Autorengruppe »Märkische Viertel Zeitung«, Stadtteilzeitung. Dokumente und Analysen zur Stadtteilarbeit, Reinbek bei Hamburg 1974; »Jetzt reden wir«: Betroffene des Märkischen Viertels, Wohnste sozial, haste die Qual. Mühsamer Weg zur Solidarisierung, Reinbek bei Hamburg 1975, v.a. S. 77-80.
[26] Müller/Schröter, Gemeinwesenprojekt (Anm. 23), v.a. S. 30, S. 32; Betroffene des Märkischen Viertels, Wohnste sozial (Anm. 25), v.a. S. 77-80. Zum Verhältnis von sozialer Arbeit und linksalternativem Milieu allgemein siehe Sven Steinacker, ›Dass die Arbeitsbedingungen im Interesse aller verändert werden müssen!‹ Alternative Pädagogik und linke Politik in der sozialen Arbeit der sechziger und siebziger Jahre, in: Sven Reichardt/Detlef Siegfried (Hg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik. Die Bundesrepublik Deutschland und Europa, 1968–1983, Göttingen 2010, S. 353-374.
[27] Betroffene des Märkischen Viertels, Wohnste sozial (Anm. 25), S. 77; Bericht zum Märkischen Viertel, in: Konkret, 12.4.1973.
[28] Für die Kritik an der modernen Stadtplanung in der Bundesrepublik zentral: Alexander Mitscherlich, Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden, Frankfurt a.M. 1965. Vgl. dazu auch: Tim Schanetzky, Anstiftung zum Unfrieden. Mitscherlich und die abstrakte Kunst des Städtebaus, in: Tobias Freimüller (Hg.), Psychoanalyse und Protest. Alexander Mitscherlich und die »Achtundsechziger«, Göttingen 2008, S. 85-108.
[29] Karolus Heil, Kommunikation und Entfremdung. Menschen am Stadtrand. Eine vergleichende Studie in einem Altbauquartier und in einer neuen Großsiedlung in München, Stuttgart 1971; Hermann Fischer-Harriehausen, Berliner Neubauquartiere. Ein Beitrag zur Entstehung der sozialökologischen Problematik moderner Großsiedlungen, Berlin 1973, S. 25-28; Heidede Becker/K. Dieter Keim (Hg.), Gropiusstadt: Soziale Verhältnisse am Stadtrand. Soziologische Untersuchung einer Berliner Großsiedlung, Stuttgart 1977, S. 64ff.
[30] Christian Topalov, ›Traditional Working-Class Neighborhoods‹: An Inquiry into the Emergence of a Sociological Model in the 1950s and 1960s, in: Osiris 18 (2003), S. 212-233, hier S. 215.
[31] Ebd., S. 230.
[32] Zur transnationalen Situierung der westdeutschen Stadtplanungsdiskussion siehe Christopher Klemek, The Transatlantic Collapse of Urban Renewal. Postwar Urbanism from New York to Berlin, Chicago 2011.
[33] Karolus Heil, Neue Wohnquartiere am Stadtrand, in: Wolfgang Pehnt (Hg.), Die Stadt in der Bundesrepublik. Lebensbedingungen, Aufgaben, Planungen, Stuttgart 1974, S. 181-200, hier S. 188.
[34] Petra Dorsch, Eine neue Heimat in Perlach. Das Einleben als Kommunikationsprozess, München 1972, S. 14.
[35] Marion Schreiber, Die Satellitenstadt Märkisches Viertel. Wenn nicht mehr getratscht werden kann... Die Berliner Bauplanung hat versagt: Kinder sind nicht vorgesehen, in: ZEIT, 8.11.1968.
[36] Fischer-Harriehausen, Berliner Neubauquartiere (Anm. 29), S. 27.
[37] Zur langen Tradition sozialreformerischer und -revolutionärer Stadt(teil)arbeit vgl. Friedrich Lenger, Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850, München 2013, S. 129-148.
[38] Protokoll des Gesprächs vom 10. April 1974, S. 3, Archiv APO und soziale Bewegungen, Freie Universität Berlin, Ordner 1294a, MV-Protokolle, 1968–1972. Die Transkription ist im Wortlaut aus den vorliegenden Protokollen übernommen, die ihrerseits auf Tonband-Mitschnitten basieren.
[39] Ebd., v.a. S. 3ff., S. 12-17.
[40] Die Bewohner begannen sich im Sommer 1968 in Initiativen und Elternvereinen zu organisieren. Vgl. Groll aus dem Märkischen Viertel. Bezirksamt im Verhör – den unzufriedenen Bewohnern Besserung gelobt, in: Tagesspiegel, 8.6.1968, S. 11; Taten nach kritischen Mieter-Worten, in: Tagesspiegel, 28.6.1968, S. 10.
[41] 1974 neigte sich die intensive öffentliche Auseinandersetzung mit dem Viertel ihrem Ende zu. Siehe auch Christiane Reinecke, Laboratorien des Abstiegs? Eigendynamiken der Kritik und der schlechte Ruf zweier Großsiedlungen in Westdeutschland und Frankreich, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 1/2013, S. 25-34.
[42] Zu den verschiedenen Phasen der Auseinandersetzung mit dem Viertel siehe auch Bodenschatz/Radke/Seifert, Märkisches Vierteljahrhundert (Anm. 2).
[43] Marc Silberman, Interview with Helga Reidemeister. The Working Class Family, in: Jump Cut: A Review of Contemporary Media 27 (1982), S. 44f.
[44] »Schöner Wohnen«. Protokoll aus dem Märkischen Viertel Berlin, aufgezeichnet von Helga Reidemeister, in: Kursbuch 27 (Mai 1972), S. 1-11; Bericht zum Märkischen Viertel (Anm. 27); Schöner wohnen. Protokoll aus dem Märkischen Viertel, 1971/72, in: Drucksachen. Lesebuch für die 8. Klasse, 2. Aufl. Düsseldorf 1976, S. 71-75.
[45] »Wir wollen Blumen und Märchen bauen«: Erstsendung 15.12.1970, ARD (Wiederholung: 16.2.1972); »Rudi«: Erstsendung 27.3.1972, ARD; »Der lange Jammer«: Erstsendung 19.10.1975, ARD; »Urbs Nova?«: Erstsendung 22.9.1971, ZDF.
[46] Siehe dazu auch die (stark politisierte) Analyse von Michael Drechsler, Selbstorganisierte Medienarbeit in basisdemokratischen Initiativen. Die Filmprojekte im Märkischen Viertel Berlin, Berlin 1980. Zu den medialen Strategien der Studentenbewegung allgemein vgl. die Beiträge in Martin Klimke/Joachim Scharloth (Hg.), 1968. Handbuch zur Kultur- und Mediengeschichte der Studentenbewegung, Stuttgart 2007.
[47] Helga Reidemeister begann 1973 an der Film- und Fernsehakademie Berlin zu studieren.
[48] Interview der Autorin mit Thomas Hartwig, Berlin, 31.8.2012.
[49] Zu der »im Soziotop des Eilands« mit Beginn der Studentenbewegung blühenden »Vielfalt von Utopien, Ideen, Ein- und Ausfällen« siehe auch das Editorial zum Themenheft »Die Insel West-Berlin« von Wolfert von Rahden/Stephan Schlak, Zum Thema, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 2 (2008) H. 4, S. 4.
[50] »Urbs Nova?«: Erstsendung 22.9.1971, ZDF (Wiederholung: 10.10.1973).
[51] Ebd., Dialog aus dem Film.
[52] Archiv des ZDF, Mainz, Ordner Telefonprotokolle vom 1.9.1973 bis 31.12.1973. Protokoll des Telefondienstes am Mittwoch, dem 10.10.1973, 18 Uhr bis Sendeschluss, Nr. 117-143.
[53] Dieter Voll, Von der Wohnlaube zum Hochhaus. Eine geographische Untersuchung über die Entstehung und die Struktur des Märkischen Viertels in Berlin (West) bis 1976, Berlin 1983, S. 180.
[54] Karl-Heinz Krüger, Menschen im Experiment. Das Märkische Viertel und seine Bewohner, in: Spiegel, 2.11.1970, S. 223-233. Siehe auch Hermann Funke, »Da hilft nur noch Dynamit«, in: ebd., S. 233-238.
[55] Vgl. dazu: Institut für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin, Märkisches Viertel. Projektbericht 6. Nachbesserung von Großsiedlungen in Berlin (West), Berlin 1987; »Ein bißchen viel Beton hier!«. Das Märkische Viertel zwischen Akzeptanz und neuer Krise, in: zitty 27/1984, S. 29.
[57] Michael Schwarze, Ohne Wut und ohne Wucht. Uli Edels umstrittener Film »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.4.1981; Herbert Riehl-Heyse, Wie vorbildlich ist Christiane F.?, in: Süddeutsche Zeitung, 3.4.1981; Derek Malcom, The Dance of Death in a Berlin Disco, in: Guardian, 3.12.1981.
[58] Zur Entwicklung der Gropiusstadt aus Sicht der Bewohner einerseits und der Medien andererseits vgl. <http://www.kulturspionage.com/Gros-werden-mit-Gropius-Interviews> (aufgezeichnete Gespräche von 2012).
[59] Zur transnationalen Geschichte des Endes der technokratischen Urban Renewal Order in den USA, Kanada und Westdeutschland siehe die Analyse von Klemek, Transatlantic Collapse (Anm. 32).
[60] Zur länger anhaltenden Attraktivität randstädtischer Großsiedlungen im sozialistischen Kontext vgl. Lenger, Metropolen (Anm. 37), S. 464-467.
[61] Vgl. dazu Johannes Novy, Die Entdeckung der »Mannigfaltigkeit«. Wie Jane Jacobs’ »Tod und Leben großer amerikanischer Städte« die Stadtforschung veränderte, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 4 (2007), S. 456-460. Speziell zum Kontakt zwischen Jacobs und dem West-Berliner Senatsbaudirektor Werner Düttmann vgl. Peter Blake, No Place like Utopia. Modern Architecture and the Company We Kept, New York 1996, S. 269f.
[62] Insbesondere zur Ablösung einer paternalistischen modernen Stadtplanungskultur durch partizipative Planungskonzepte im transatlantischen Zusammenhang vgl. Sebastian Haumann, ›Schade, daß Beton nicht brennt...‹. Planung, Partizipation und Protest in Philadelphia und Köln 1940–1990, Stuttgart 2011. Siehe auch Kenny Cupers, The Expertise of Participation. Mass Housing and Urban Planning in Post-War France, in: Planning Perspectives 26 (2011), S. 29-53.
[63] Zu Georg Francks Konzept der Aufmerksamkeitsökonomie und dessen möglichem Nutzen für die Geschichtswissenschaft vgl. Axel Schildt, Die »Aufmerksamkeitsökonomie« als heuristisches Konzept für eine kulturhistorisch orientierte Mediengeschichte, in: Comparativ 21 (2011) H. 4, S. 81-92.
[64] Die jungen Architekten wollen ganz anderes bauen, in: Tagesspiegel, 6.6.1968, S. 10; Das große Buh der Bauwochen, in: Tagesspiegel, 10.9.1968, S. 8.
[65] West-Berlin. Slums verschoben, in: Spiegel, 9.9.1968, S. 134-138.
[66] Zur wachsenden Selbstreferentialität westdeutscher politischer Debatten vgl. auch Ralph Jessen, Bewältigte Vergangenheit – blockierte Zukunft? Ein prospektiver Blick auf die bundesrepublikanische Gesellschaft am Ende der Nachkriegszeit, in: Konrad H. Jarausch (Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008, S. 177-195.
[67] Müller, Ein Stück des Wegs (Anm. 23); Rahden/Schlak, Zum Thema (Anm. 49).
[68] Siehe zum diesbezüglichen Forschungsstand Hartmut Kaelble, Sozialgeschichte Europas. 1945 bis zur Gegenwart, München 2007, S. 186ff.