Gleichheit und Ungleichheit als zeithistorisches und soziologisches Problem

Anmerkungen

In den 1970er-Jahren lief im westdeutschen Fernsehen eine Serie der Augsburger Puppenkiste, deren Held und Titelgeber der kleine König Kalle Wirsch war. Kalle Wirsch, König der Erdmännchen, war, wie sein Name sagte: ein freundliches kleines Männchen, alles andere als unwirsch. Der Name aber irritierte – wer benutzt schon das Wort „wirsch“? Das Wort gibt es tatsächlich, es ist aber kein Gegenbegriff zu „unwirsch“, sondern eine Verballhornung von „wirr“. Zu „unwirsch“ gibt es keinen Gegenbegriff. Der kleine König Kalle Wirsch mag einem bei „Gleichheit und Ungleichheit“ in den Sinn kommen. Denn viel wird gesprochen von Ungleichheit, und dies vor allem im Zusammenhang mit sozialer Ungleichheit. Aber Gleichheit? Nur ganz wenige Autoren haben über deren Geschichte nachgedacht. Einer davon ist der Zürcher Historiker Jörg Fisch.1 Er fasst, bezogen auf das späte 19. Jahrhundert, Gleichheit vor allem als einen Anspruch, als eine Forderung. Sie ist also etwas, was (noch) nicht ist. „Gleichheit“ blieb als die bürgerliche Forderung nach rechtlicher und politischer Gleichberechtigung stehen und wurde (jedenfalls in Europa) im späten 19. und im 20. Jahrhundert zumindest teilweise eingelöst. Die Forderung nach sozialer Gleichheit jedoch, die aus revolutionären Bewegungen kam, ließ sich nicht einmal als Anspruch durchhalten, wurde als staatsgefährdend identifiziert und erbittert bekämpft. Soziale Gleichheit erhielt das Stigma des Utopismus und behielt lediglich in der Forderung nach Abbau (und nicht Abschaffung) sozialer Ungleichheit eine gewisse Berechtigung.

Ungleichheit in ihren verschiedenen Schattierungen ist hingegen ein vertrautes Thema für Historiker. In ihrer für die Moderne prägenden Form, nämlich der sozialen Ungleichheit, hat sie aber in der Geschichtswissenschaft auch lange ein Schattendasein gefristet. Selbstverständlich wussten die Historiker um ihre Existenz, doch offenbar schien sie nicht geschichtsfähig – womöglich genau weil sie unaufhebbar erschien. Der Strukturwandel im Zusammenhang mit der Industrialisierung freilich, in Gestalt von Pauperismus und Proletarierarmut, hat auch frühere Historiker beschäftigt.2 Jedoch hat erst die moderne Sozialgeschichte sich der sozialen Ungleichheit angenommen. Sie tat es dann aber so gründlich, dass die Beschäftigung mit ihr geradezu zum Kennzeichen der Sozialgeschichte wurde. Für einen ihrer Protagonisten, Hartmut Kaelble, war die Geschichte der sozialen Ungleichheit der „Königsweg der Sozialgeschichte“.3 Die Sozialstruktur und die in sie eingelassene soziale Ungleichheit „war“ sozusagen die Gesellschaft, und konsequenterweise hat Hans-Ulrich Wehler reklamiert, dass „Gesellschaftsgeschichte über weite Strecken Sozialstrukturgeschichte“ sei.4 Er schrieb der sozialen Ungleichheit eine so hervorragende Bedeutung zu, dass er sie als die Zentralachse seiner Gesellschaftsgeschichte behandelte.

Dass die Sozialgeschichte sich dabei an der soziologischen Ungleichheitsforschung orientierte, überrascht nicht. Einen großen Unterschied stellt man aber schon beim ersten Lesen fest: Während die soziologische Ungleichheitsforschung stets ein wenig dazu neigte, die soziale Ungleichheit als ein Skandalon festzustellen, während in ihrem heuristischen Horizont immer, wenn auch unausgesprochen, eine Gesellschaft der Gleichen stand, hat die Sozialgeschichte immer, wenn auch häufig ebenso unausgesprochen, die soziale Ungleichheit als ein konstitutives Moment jeder Gesellschaft behandelt. Zwar mochte sie zu bestimmten Zeiten wachsen, sie mochte teilweise skandalöse Ausmaße erreichen (was auch immer man darunter verstehen mochte), aber für den historisch geschulten Blick war eine Gesellschaft ohne soziale Ungleichheit nicht denkbar. Die geschichtswissenschaftliche Frage richtete sich vielmehr auf die Eigenart und den Wandel der sozialen Ungleichheit.

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1. Zwei Perspektiven auf soziale Ungleichheit
 

Die theoretischen Rahmungen der genannten Frage wurden in den historiographischen Darstellungen bemerkenswert wenig expliziert. Das mochte auch an der Unübersichtlichkeit des Themas in der Soziologie und der politischen Ökonomie liegen, wo sehr unterschiedliche Vorstellungen von sozialer Ungleichheit und ihrem gesellschaftlichen Zweck kursierten. Denn dass die Menschen unterschiedliche Ressourcen zur Verfügung hatten, sich unterschiedlicher sozialer Wertschätzung erfreuten und dass sie sozialen Gruppen mit unterschiedlichen Chancen auf Einfluss angehörten: das war unumstritten. Gestritten wurde aber darum, was Ungleichheit für das Funktionieren einer Gesellschaft bedeute. Zwei große Paradigmata kann man – in aller Unschärfe – unterscheiden. Das eine hält soziale Ungleichheit für ein Problem; das andere hält sie für notwendig, gar für nützlich.

Die erste Perspektive – man könnte sie die klassische nennen – bezog ihren Schwung im Grunde aus der politischen Skandalisierung der sozialen Ungleichheit des 19. Jahrhunderts, an deren Ende die Vision einer Gesellschaft der Gleichen stand. Ihr Gründervater ist Marx. Soziale Ungleichheit bezeichnet, genau wie die rechtliche und politische Ungleichheit, ein Stück Inhumanität der Gesellschaft, und wer wissenschaftlich beschrieb, was war, beschrieb damit zugleich, was nicht sein sollte. Es hing mit dieser normativen Tradition zusammen, dass ihre Vertreter sich auch immer als politisch intervenierende Wissenschaftler verstanden haben. Das gilt im Grunde bis heute. In einer aktuellen Anthologie, die wichtige Texte zur Ungleichheitsforschung vereint, gehen die Herausgeber mit einer gewissen Selbstverständlichkeit vom problematischen Charakter der sozialen Ungleichheit aus: „Erst wenn wir verstehen, wodurch soziale Ungleichheiten in unserer Gesellschaft hergestellt werden, können wir auch darüber befinden, was getan werden müsste, um sie zu verringern.“5

Diese soziologische Ungleichheitsforschung, die Berührungspunkte mit der Konfliktsoziologie hatte und sich in den 1960er-Jahren zu einer regelrechten Subdisziplin der Soziologie ausformte, fragte vor allem danach, woher soziale Ungleichheit rühre und welche Erscheinungsformen sie annehme. Sie fragte selten danach, wozu soziale Ungleichheit unter Umständen gut sei. Die funktionalistische Ungleichheitstheorie, um die zweite große Schule zu nennen, interessierte sich für genau das: Sie behauptete nicht nur, dass soziale Ungleichheit in einer komplexen Gesellschaft unaufhebbar sei. Sie behauptete auch, dass diese in gewisser Hinsicht sogar „nützlich“ sei, indem sie die Zunahme von Differenzierung und Komplexität, mithin die Dynamik einer Gesellschaft erhöhe. Denn unterschiedliche Entlohnung und unterschiedliche Ressourcenverfügung stellten einen Anreiz dar, seine soziale Position wechseln zu wollen. Wenn es keine soziale Ungleichheit gäbe – und damit keine Belohnungsanreize –, gäbe es auch keine Instrumente, fähigere Personen an anspruchsvollere und weniger fähige Personen an anspruchslosere Positionen zu allozieren.6

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Dieser Ansatz, der aus Talcott Parsons’ strukturfunktionalistischer Schule kam, wurde weithin schlicht als eine sozialwissenschaftliche Verbrämung der US-amerikanischen Kapitalismusbotschaft nach dem Zweiten Weltkrieg verstanden und entsprechend kritisiert. Dennoch lässt er sich nicht so einfach abtun: Man stelle sich eine Gesellschaft vor, in der alle gleich sind. Ab diesem Moment führt jede eigene ökonomische Aktivität, jede Erfindung, jede unvorhergesehene Unternehmung sofort zu neuer Ungleichheit, die politisch moderiert werden muss, soll sie sich nicht zu einer Struktur entwickeln.

Für die DDR-Soziologie stellte dies ein systematisches Problem dar.7 Sie hatte den politischen Auftrag, ihre Gesellschaft als komplex, dynamisch und mobil zu zeichnen, konnte sie aber nicht mit den vertikalen Ungleichheitsmustern beschreiben, die in der westlichen Schichtungstheorie soziale Mobilität herstellten. Darstellungen der DDR-Sozialstruktur hatten deshalb immer ein „ständisches“ Gesicht. Klassen und Schichten lagen nicht übereinander, sondern neben-einander; soziale Mobilität wurde als horizontale Mobilität beschrieben: als das Hinüberwechseln in einen anderen Beruf, aber nicht als ein Zuwachs an Ressourcen, an Geld und Prestige. Erst in den 1980er-Jahren haben einige DDR-Soziologen versucht, vertikale soziale Ungleichheitsmuster zu beschreiben; sie taten das bemerkenswerterweise unter Rückgriff auf die funktionalistische Ungleichheitstheorie – ohne diese freilich so nennen zu können. Vielmehr verwendeten sie einen alten Marx’schen Begriff, wenn sie das auf die DDR angewandte funktionalistische Ungleichheitstheorem als „Triebkrafthypothese“ bezeichneten: Unterschiedliche Ressourcenzuweisungen, nach Leistung gestaffelt, regten die Bürger zu höheren Leistungen an, damit zu sozialer Mobilität und zu mehr gesellschaftlicher Dynamik. Diese explizite Akzeptanz sozialer Ungleichheit in einer sozialistischen Gesellschaft wurde damit gerechtfertigt, dass auf dem Weg zur kommunistischen Gesellschaft – die selbstverständlich eine Gesellschaft der Gleichen sein würde – der Sozialismus ja mit dem Kapitalismus konkurrenzfähig sein müsse, dass deshalb Innovation und Dynamik dem Weg zum Sozialismus zuträglich seien. Im Grunde wussten aber auch die DDR-Soziologen – die meisten davon überzeugte Vertreter ihres Systems –, dass eine Gesellschaft der Gleichen eine Vision sei, die man wahrscheinlich mit gesellschaftlichem Stillstand zu bezahlen habe.

2. Sozialgeschichte und soziologische Selbstbeschreibung zwischen Oben und Unten
 

Die einflussreichste historiographische Position, Wehlers Konzeptualisierung sozialer Ungleichheit als verbindender „Achse“ der Gesellschaft, versuchte die klassische und die funktionalistische Perspektive zu verbinden. Einerseits sagte Wehler unumwunden, dass Ungleichheit gesellschaftlich konstitutiv sei; andererseits verfocht er die möglichste Abflachung sozialer Ungleichheiten als ein wünschbares Ziel von Politik: „Ein bestimmtes Maß an funktioneller, freilich schärfstem Legitimationszwang auszusetzender Ungleichheit scheint nicht nur der historischen Erfahrung nach unvermeidbar, sondern mit guten systematischen Argumenten verfechtbar zu sein. […] Der Ausgleich, nicht die völlige Aufhebung struktureller sozialer Ungleichheit wird als ein Langzeitproblem auch der zukünftigen deutschen Politik verstanden.“8

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Wehler, der sich bekanntlich immer auch als politischer Publizist versteht, hat gerade in jüngerer Zeit energisch auf die Fortdauer eines stabilen Systems sozialer Ungleichheit hingewiesen. Vor kurzem hat er eine ebenso detaillierte wie polemische Untersuchung veröffentlicht, die besonders gegen die „luftigen“ Theorien von Postmoderne und Individualisierung, Lebensstil und Milieu gerichtet ist. Darin argumentiert er, dass die soziale Ungleichheit – nimmt man die herkömmlichen Indikatoren von Einkommen und Vermögen, von Bildungskarrieren und Berufsverläufen – in der Bundesrepublik der vergangenen 30 Jahre deutlich zugenommen habe.9 Gesellschaft denkt er als ein geschichtetes, nach einem vertikalen Muster differenziertes Sozialgebilde. Die Mobilität zwischen diesen Schichten ist möglich, aber nicht ohne weiteres überall hin. Es zeichnet Wehlers Ansatz aus, dass er im Rekurs auf Max Weber und Pierre Bourdieu nach spezifischen Mentalitäten, Wertorientierungen und „ständischen“ Sonderbedingungen fragt. Diese theoretischen Verweise strukturieren aber nicht das Gebilde, das Wehler vor seinem geistigen Auge hat, sondern sie helfen, dessen Stabilität zu erklären. Oberschichten rekrutieren sich demgemäß zum großen Teil aus sich selbst, weil sie einander über einen spezifischen Habitus „erkennen“. Wer oben und wer unten ist, beschreibt sich bei Wehler aber im Wesentlichen durch Einkommen und Vermögen, also durch Geld. Auch die Ungleichheit der Geschlechter, die Ungleichheit im Alter oder in Hinsicht auf die ethnische Herkunft drücken sich am Ende in Einkommen oder unterschiedlichen Berufspositionen aus – die sich wiederum in Einkommen manifestieren.

Angenommen, der Befund wachsender Ungleichheit sei zutreffend, dann verträgt er sich jedenfalls mit dem Befund der Sozialhistoriker, dass in Zeiten großer gesellschaftlicher Dynamik die Ungleichheit und die soziale Mobilität im Allgemeinen zunehmen. Vor allem während der Industrialisierung sowie durch Kriege und andere Umwälzungen nahm der Abstand zwischen Oben und Unten zu, aber auch die Möglichkeit und die Reichweite des sozialen Ortswechsels.10 Das gilt offensichtlich ebenso für die gegenwärtige dritte Industrielle Revolution, im Verein mit beschleunigten Globalisierungsprozessen. Dennoch konnten die Sozialhistoriker dem 20. Jahrhundert insgesamt, bei allen Umwälzungen, eine generelle Tendenz zum Abbau sozialer Ungleichheit attestieren – jedenfalls in Europa. (Globalhistorisch orientierte Langfrist-Untersuchungen zu diesem Thema gibt es noch nicht, und sie wären methodisch wohl auch eine Herausforderung.) Zunehmender Wohlstand und staatliche Steuerung haben eine im Vergleich zum 19. Jahrhundert sehr deutliche Nivellierung, man könnte sagen: größere soziale Gleichheit mit sich gebracht.

Man findet diesen Befund auch in den zeitgenössischen soziologischen Konzepten, jedenfalls in Deutschland. Schon 1949 – noch vor dem Aufbruch ins „Wirtschaftswunder“ – hat Theodor Geiger die Diagnose einer „Klassengesellschaft im Schmelztiegel“ gestellt.11 Wenig später hat Helmut Schelsky die exemplarische Perspektive einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ entwickelt. Diese Thesen sind schon zeitgenössisch als eine Verlängerung der „Volksgemeinschaft“ gedeutet worden, als die Sehnsucht nach einer harmonischen, entdifferenzierten Gesellschaft.12 Ihre dauerhafte Prominenz ist freilich nur vor dem Hintergrund einer Erfahrung zu denken, die strukturell ähnlich war wie diejenige der amerikanischen Gesellschaft, die aber offensichtlich ganz anders verarbeitet wurde: Die Wirtschaftswundergesellschaft wurde nicht gedeutet als eine Gesellschaft, welche die soziale Ungleichheit besser aushaltbar, weil im Zug gestiegener sozialer Mobilität leichter überwindbar machte. Sie wurde vielmehr interpretiert als eine Erfahrung der Entdifferenzierung, als eine „Vermittelschichtung“ der Bundesrepublik. Wenn man etwa den vergleichenden Blick auf England lenkt, wo eine ganz selbstverständliche Konzeption von „Klassengesellschaft“ weiterhin galt, fällt auf, wie sehr die Westdeutschen sich von einem antagonistischen Gesellschaftskonzept verabschiedet hatten.13

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Der Schichtenbegriff war dafür eine Alternative. Er konnte als Folie für sehr unterschiedliche Vorstellungen dienen. Der Hauptunterschied zum lange prominenten Klassenbegriff bestand darin, dass Klassen streng geschieden erscheinen, während eine geschichtete Gesellschaft gleitende Übergänge kennt. Deshalb kann sie auch keine differenzierten sozialen Gruppenbewusstseinsformen ausbilden. „Klasse für sich“ gibt es, „Schicht für sich“ nicht. Die Sozialhistoriker konstatierten deshalb unter dem Rubrum eines „Abschieds von der Proletarität“ vor allem ein Ende der alten Arbeiterkultur.14

Zwei Dinge aber blieben nach 1945 gleich gegenüber den älteren Vorstellungen sozialer Ungleichheit: Erstens zeichnete auch die Schichtentheorie die Gesellschaft als einen vertikalen Ungleichheitszusammenhang, der eindeutige Oben-Unten-Verhältnisse und ebenso eindeutige soziale Standorte kannte. Es handelte sich um eine zweidimensionale Matrix, die suggerierte, dass man theoretisch jedem anderen Menschen gegenüber, den man traf, eindeutig bestimmen konnte, ob man „über“ oder „unter“ ihm sei. Man selber stand an einem (und keinem anderen) Punkt dieser Matrix. Soziale Positionen waren unzweideutig.

Zweitens erschien diese soziale Ordnung mehr oder weniger als der Ausdruck eines einzigen Kausalzusammenhangs, nämlich der Ungleichverteilung von Gütern und Chancen im Gefolge des kapitalistischen Wertschöpfungsprozesses. Man war „unten“, weil man weniger Anteil an den Gütern hatte als „die da oben“. Das mochte sich vielleicht nicht mehr in Semantiken von Ausbeutung formulieren lassen; aber es war primär oder sekundär eine Folge von Produktionsverhältnissen und ließ sich letztendlich in Geld ausdrücken. Denn die entscheidenden Indikatoren, mit denen diese Forschung (und das dahinterstehende Alltagsbewusstsein) operierte, waren monetärer Art: Einkommen und Vermögen. Andere Kriterien (wie etwa die berufliche Qualifikation) wurden als Chance zum Erwerb dieser Ressourcen behandelt. Auch die Geschlechter- oder die ethnische Ungleichheit zeigten sich darin, dass Frauen oder Migranten eben keine adäquat bezahlten Jobs bekamen oder ihnen die Chance auf Aufstieg (also bessere Gehälter) durch Bildung verweigert wurde. Man konnte dar-aus den politischen Schluss ziehen, dass die Verminderung der Ungleichheit gleichbedeutend sei mit dem Transfer von Geld von oben nach unten.

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3. Jenseits von Klasse und Schicht.
Mehrdimensionale Ungleichheitskonzepte
 

Beide Vorstellungen, die Sicht der Gesellschaft als eines vertikalen Ungleichheitszusammenhangs und der Blick vorrangig auf monetäre Faktoren, sind seit den frühen 1970er-Jahren zunehmend in Zweifel gezogen worden. Mühsam von den Rändern der etablierten Sozialwissenschaft kommend, setzte sich langsam eine Perspektive durch, die auf unterschiedlich gelagerte, dabei aber interferierende Ungleichheitsdimensionen verwies, etwa die zwischen Männern und Frauen, zwischen Hautfarben oder Altersgruppen. Die klassische Ungleichheitsforschung tut sich bis heute schwer mit diesen Dimensionen; denn es lässt sich argumentieren, dass solche Ungleichheiten lediglich auf „Vorurteilen“ beruhten und nicht auf strukturellen Nach- und Vorteilsverhältnissen, wie dies etwa bei Lohn, Profit und Ausbeutung der Fall ist. Vor allem die marxistische Theorie hat das Verhältnis zwischen verschiedenen Formen von Ungleichheit unter dem Signum des Haupt- und Nebenwiderspruchs gefasst: Der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit sei der „Hauptwiderspruch“, alle anderen (insbesondere die Geschlechterverhältnisse) seien „Nebenwidersprüche“. Besonders die feministische Sozialwissenschaft hat heftig dagegen opponiert. Unter dem Stichwort der Intersektionalität hat sie versucht, die Interferenz verschiedener Ungleichheitsformen theoretisch zu fassen.15 Sie hat dabei auf den praxeologischen Ansatz des „doing gender“ zurückgegriffen und Ungleichheiten als abhängig vom Interaktionskontext gedeutet. Ungleichheit wird so nicht allein als eine Strukturkategorie verstanden, sondern auch als eine Dimension der Herstellung von Identität, die als Interaktion, als Praxis „passiert“. Die Intersektionalitätsforschung hat zudem nachdrücklich darauf hingewiesen, dass Ungleichheit nicht in einem zweidimensionalen Schema zu sehen, sondern in einem mehrdimensionalen Raum zu verorten ist. Ungleichheit heißt eben nicht, dass man genau weiß, wer „über“ und wer „unter“ einem ist.

Man könnte daran die Überlegung knüpfen, dass jede Dimension gesellschaftlicher Unterschiedlichkeit (und nicht allein Klasse, Geschlecht oder Ethnie) zum Ausgangspunkt sozialer Ungleichheit werden kann. Einige davon sind vielfach thematisiert, von der Intersektionalitätsforschung aber häufig übersehen worden, etwa: Alter, Wohnort, Religion. Man könnte aber auch fragen, ob nicht gesellschaftliche Bedingungen denkbar sind, unter denen Intelligenz, Körperkraft oder Körpergröße zu Merkmalen sozialer Ungleichheit werden.16 Auch Geschlecht oder Alter wurden schließlich lange Zeit nicht im Kontext sozialer Ungleichheit thematisiert. Auch heute ist man, so scheint es, noch nicht so weit, den Begriff der sozialen Ungleichheit prinzipiell für alle Arten gesellschaftlicher Verortung zu öffnen.

Ein weiterer Einwand gegen die klassischen vertikalen Ungleichheitsschemata kam aus dem Umkreis der neomarxistischen politischen Soziologie; er zielte auf den Staat und seine Interventionen, welche soziale Ungleichheit zu vermindern suchten. Denn was, wenn diese Interventionen selber wieder zu neuen Ungleichheiten führten? Wenn also diejenigen Instrumente, die Ungleichheit abbauen sollten, sie verstärkten oder lediglich verlagerten? Dieser Frage ging die Theorie der horizontalen Disparitäten nach, die seit dem Ende der 1960er-Jahre aus dem Umfeld von Jürgen Habermas kam und eng mit dem Namen Claus Offes verbunden ist.17 Offe fragte nach den Ungleichheitsstrukturen, die der Wohlfahrtsstaat selber schafft, und legte den Akzent auf die Vertretungsmacht von Interessen. Manche Interessen – etwa die von gewerkschaftlich organisierten Industriearbeitern – ließen sich demgemäß gut vertreten, weil die Arbeiter mit Sanktionen, etwa in Form von Streiks, drohen könnten, was schmerzhaft sei, wenn es sich um knappe Güter handle. Andere Akteure – zum Beispiel: unverheiratete Mütter oder Rentner – verfügten nicht über knappe Güter, mit deren Verweigerung sie drohen könnten. Es seien demzufolge nicht allein die durch den Markt vermittelten Ungleichheiten, die im Wohlfahrtsstaat dominant seien, sondern die Möglichkeiten organisierter Interessenvertretung entschieden darüber, wo das Füllhorn staatlicher Wohlfahrt hindirigiert werde und wen es übersehe. Die Theorie verwies nicht nur auf die staatlich produzierten Ungleichheiten, sondern auch auf deren Mehrdimensionalität, insofern sie die situativen Bedingungen stärker beleuchtete. Man kann als gewerkschaftlich organisierte Facharbeiterin vom System bevorteilt sein; als unverheiratete Mutter, die keinen bezahlbaren Kindergartenplatz bekommt, ist diese Facharbeiterin gleichzeitig benachteiligt. „Oben“ und „Unten“ gerieten auch hier in Zweifel.

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Die Theorie der horizontalen Disparitäten hat unvermutete Prominenz durch ihre Rezeption im konservativen Lager erhalten. Ende der 1970er-Jahre machte Heiner Geißler, damals seit kurzem Generalsekretär einer CDU, die im „sozialdemokratischen Jahrzehnt“ auf der Suche nach neuen Themen und neuen Wählergruppen war, Furore mit der angeblich von ihm entdeckten „Neuen Sozialen Frage“.18 Politisch unterschiedlichen Zwecken zum Trotz ging es Geißler im Kern um dasselbe wie Offe: um neue Ungleichheiten, die durch staatliches Handeln überhaupt erst entstehen, wenn auch unintendiert. Hans Günter Hockerts hat das in die Frage gekleidet, ob und inwieweit der Sozialstaat im 20. Jahrhundert „vom Problemlöser zum Problemerzeuger“ mutiert sei.19 Mit solchen Überlegungen schälte sich heraus, dass soziale Ungleichheit in den Sozialwissenschaften immer stärker in einen mehrdimensionalen Zusammenhang gestellt wurde. Damit ging, wie es scheint, eine neue Akzeptanz einher, denn diesen vielfältigen sozialen Ungleichheiten konnte man ohnehin nicht entgehen.

Der Plural setzte sich immer mehr durch. Auch der Deutsche Historikertag 2008 hat sich mit „Ungleichheiten“ als Leitthema beschäftigt. Dies ging einher mit der Prominenz der Frage nach Individualisierung und Wertewandel, mit Milieu- und Lebensstilforschung. Die Gesellschaft erschien von dieser Warte als ein Konglomerat sich überschneidender Zugehörigkeiten, die nicht mehr in einem klaren Oben-Unten-Zusammenhang abzubilden seien. Jedoch hat gerade Ulrich Beck der zeitweilig vielbesungenen These vom Ende der Klassengesellschaft mit dem Verweis auf den durch die Wohlstandsgesellschaft induzierten „Fahrstuhleffekt“ widersprochen: „[…] die Klassengesellschaft wird insgesamt eine Etage höher gefahren. Es gibt […] ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft, Massenkonsum.“20 Damit sei eine Individualisierung von Lebenslagen verbunden, die soziale Ungleichheit nicht mehr ohne weiteres als einen strukturellen Effekt von Klassenlagen oder Gruppenzugehörigkeiten erkennen lasse. Wohlstandsmehrung und Individualisierung wirkten zusammen, ohne dass soziale Ungleichheit abgeschafft sei. Sie spiele sich nun aber „jenseits von Klasse und Schicht“ ab.

Wo aber dann? Die alten Begriffe von Klasse und Schicht, ja, die vertikale Gesellschaftsordnung generell stoßen auf Zweifel. Es ist in der Tat fraglich, ob man die Gesellschaft des späten 20. und des frühen 21. Jahrhunderts noch mit Begriffen fassen kann, die vor 100 oder mehr Jahren geprägt worden sind, gleich wie universalhistorisch diese Begriffe daherkommen. Dass man sich jedoch Gesellschaft auch anders vorstellen kann denn in einer vertikal geschichteten Weise, zeigt die Systemtheorie. In der spezifisch konstruktivistischen Lesart Niklas Luhmanns, der Gesellschaft als einen Kommunikationszusammen-hang fasst, hat sie seit den 1970er-Jahren nicht nur in der Bundesrepublik ungeheuren Einfluss erlangt. Fast alle wichtigen Beschreibungen der gesellschaftlichen Wandlungen der letzten Jahrzehnte – mit erheblichen prognostischen Ansprüchen – sind von der Systemtheorie zumindest inspiriert: Risikogesellschaft, Wissensgesellschaft, Weltgesellschaft, multiple modernities, Individualisierungsthese. Die Systemtheorie konzipiert (moderne) Gesellschaft ganz anders, als die Stratifikationstheorie es tut: als ein Konglomerat voneinander relativ unabhängiger sozialer Systeme, die sich um sich selbst kümmern und in keinem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Im Klartext: Oben und Unten als durchgehendes Ordnungsmuster habe es in der Vormoderne gegeben, vielleicht bis in der Moderne des 19. Jahrhunderts. Heute bestehe „Gesellschaft“ aus funktional differenzierten, voneinander unabhängigen Systemen; sie organisierten sich jeweils autonom. Das Wissenschaftssystem stehe neben dem Wirtschaftssystem und bearbeite seine eigenen Themen, und deshalb mag der Professor zwar weniger verdienen als der Unternehmer, lässt sich aber nicht ohne weiteres „unter“ diesem einordnen. Soziale Ungleichheit hat Luhmann zufolge ihre zentrale strukturelle Bedeutung für die Gesellschaft verloren. Nicht, dass er sie negieren würde. „Daß Ungleichheiten bestehen, ist evident, und zwar mehr als zuvor.“21 Aber sie lassen sich nicht mehr in einem Oben-Unten-Schema beschreiben. Klassen und Schichten: Das sind für Systemtheoretiker eher simple Konstruktionen, die ein Bedürfnis nach eindeutigen Selbstzuordnungen erfüllen, als realitätsadäquate Beschreibungen.22 Wie sich die Ungleichheiten allerdings besser beschreiben ließen: Darüber schwieg der Meister sich freilich aus.

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Man mag der Systemtheorie vorwerfen, dass sie diese offensichtlich zentrale Dimension der Gesellschaft nicht wahrnimmt.23 Interessanterweise tut das kaum einer, und das hat wohl vor allem mit theoretischer Ignoranz zu tun. Die sozialstrukturell orientierte Ungleichheitsforschung und die differenzierungstheoretisch orientierte Gesellschaftsforschung stehen fast unverbunden nebeneinander und nehmen einander kaum zur Kenntnis. Die eine produziert bergeweise Empirie, lässt aber offen, was sie erklären will – außer, dass die Gesellschaft ungleich ist, und dies mal mehr, mal weniger; sie beruft sich auf eine Gesellschaftstheorie, die vielerorts als überholt angesehen wird. Die andere ist eine theoretische Leitdisziplin, deren Erklärungsmuster bis hinein in die anwendungsorientierten Disziplinen von Psychologie, Pädagogik oder Rechtswissenschaft einflussreich sind und die in der Geschichtswissenschaft ebenfalls auf zunehmendes Interesse stößt, die aber ein zentrales, auch in Alltagserfahrungen spürbares Kennzeichen der Gesellschaft schlicht ignoriert.

Der Soziologe Thomas Schwinn hat vorgeschlagen, das Ungleichheitsparadigma auf der Basis der Systemtheorie zu reformulieren.24 Er weist darauf hin, dass innerhalb differenzierter Funktionssysteme natürlich ebenfalls Ungleichheit herrscht. Differenzierte Funktionszuweisungen gibt es auch innerhalb von Systemen, und diese sind mit unterschiedlichen Belohnungen und Statuszuweisungen verbunden: Der Professor und der Uni-Hausmeister kommunizieren beide im selben Wissenschaftssystem, sind aber keineswegs gleich. Nun mag der Hausmeister aber ein politisch aktiver Mann sein, vielleicht der Kreisvorsitzende von des Professors Partei, so dass er hier – also im politischen System – Machtressourcen zur Verfügung hat, die der Professor nicht hat. Es ergeben sich unterschiedliche Settings von Ungleichheit: Als Hausmeister hat er dem Professor zur Hand zu gehen. Als Politiker kann er Entscheidungen beeinflussen, denen sich der Professor zu unterwerfen hat. Wir haben also differenzierte Systeme mit je unterschiedlichen Ungleichheitsmustern vor uns, die aber situativ wirken und nicht „immer“ gelten. Ob und wie solche Ungleichheiten aufeinander abbildbar, konvertierbar sind, ist offen und fraglich – dass sie nicht völlig unabhängig voneinander sind, ergibt sich schon aus der alltäglichen Beobachtung, dass Hausmeister selten Parteivorsitzende sind. Pierre Bourdieu hat, aus einer ähnlichen Überlegung heraus, das Bild der unterschiedlichen, gegeneinander konvertierbaren Kapitalformen ins Spiel gebracht.25 Diese kulturtheoretische Erweiterung der traditionellen Klassentheorie hat in der Tat die herkömmlichen Vorstellungen sozialer Ungleichheit wesentlich komplexer gemacht. Bourdieu denkt aber die Gesellschaft letztlich doch nach dem Vorbild der ökonomischen Ungleichheit – jedenfalls gibt es bei ihm weiterhin Klassen, und am Ende muss sich auch bei ihm alles in ökonomisches Kapital konvertieren lassen. Ist das so?

4. Ungleichheit als Wahrnehmungsproblem
 

Ein solcher ökonomischer Vorbehalt müsste voraussetzen, dass die Akteure selber das Geld und die dadurch gegebene soziale Position für das zentrale Kriterium halten. Offensichtlich tun sie dies aber nicht; und auch die sozialen Systeme vergeben ihre Gratifikationen nicht allein monetär, sondern auch in Form von Prestige, Prominenz, Verfügung über sich selbst. Die Individualisierungs- und Lebensstiltheorien haben überzeugend dargelegt, dass etwa die Frage nach der Verfügbarkeit über die eigene Zeit oder nach eigener Entscheidung über den Inhalt der Arbeit für viele Menschen wichtigere Kriterien darstellen als das Einkommen. Die prekäre Selbstständigkeit kleiner Internetunternehmer ist häufig ebenso selbstgewählt wie die vergleichsweise schlecht bezahlten und meist befristeten Beschäftigungsverhältnisse Wissenschaftlicher Mitarbeiter – ihr Lohn ist nicht allein in Geld aufzuwiegen, sondern auch in der relativ weitgehenden Verfügung über sich selber. Dass manche Mütter so zögerlich in den Arbeitsmarkt zurück wollen, mag auch damit zu tun haben, dass sie das Leben mit dem Kind zu schätzen gelernt haben. Dass Arbeiterkinder auf das Studium und auf eine bürgerliche Karriere häufig verzichten und lieber in die Fußstapfen ihrer Eltern treten, mag seinen Grund nicht zuletzt in der – begründeten! – Angst davor haben, dass soziale Mobilität auch einsam machen kann. Nimmt man allein die stratifikatorischen Kategorien von Einkommen und Vermögen als Maßstab, dann „wollen“ diese Menschen gar keinen sozialen Aufstieg. In Klammern: Dabei steht natürlich außer Frage, dass es „glass ceilings“ gibt, die Frauen den Aufstieg in die Unternehmensspitze oder die Professorenschaft erschweren oder dass Migrantenkinder aus ähnlichen Gründen wesentlich seltener studieren als Kinder aus deutschen Herkunftsfamilien. Aber der Arzt, der sich mit anderen eine Praxis teilt, um vier Monate im Jahr frei zu haben; der hochbezahlte Ingenieur, der sich irgendwann dann doch den Karrierezumutungen seines Konzerns verweigert; die jungen Eltern, die jeweils nur 30 Stunden arbeiten, um mehr Zeit für die Kinder zu haben: All dies wäre in einem monetär bestimmten stratifikatorischen System sozialer Ungleichheit als Verweigerung sozialen Aufstiegs zu interpretieren.

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Nun soll nicht bestritten werden, dass ökonomische Kriterien tatsächlich die Selbstzuordnung vieler Menschen bestimmen – und dass sie in einem ganz elementaren Sinn Chancen zusprechen oder verweigern. Das gilt besonders dann, wenn tatsächlich Existenzen bedroht sind. Als der Ostblock zusammenbrach und die verkündete Gesellschaft der Gleichen plötzlich eine Gesellschaft der sehr Ungleichen wurde, zeigte sich eine starke Ökonomisierung der Diskussion. Eine neue Form scharfer sozialer Ungleichheit offenbarte sich in Europa und ganz besonders in Deutschland: Der Osten war arm, der Westen reich, und wer im Osten reich werden wollte, ging gewöhnlich in den Westen. Die Osterweiterung der Europäischen Union hat die scharfen sozialen Unterschiede, die gleichzeitig regionale Unterschiede sind, in einem bisher nicht vorhandenen Maß erfahrbar gemacht. Aber nicht nur im Ost-West-, sondern auch im Süd-Nord-Bezug wurde die neue Regionalisierung des Armut-Reichtum-Verhältnisses deutlich (die so neu gar nicht war). Aber natürlich gilt diese Regionalisierung weit über Europa hinaus; sie ist global. Mit der transnationalen Erweiterung des sozialen Blicks wurde einerseits ein schwerwiegender theoretischer Rückstand der sozialwissenschaftlichen Ungleichheitsdiskussion sichtbar – nur in wenigen Feldern ist der methodologische Nationalismus so lang und so konsequent praktiziert worden. Andererseits wurde damit lediglich etwas nachgeholt, was in Zeiten von Fernsehen und Internet den Menschen als Alltagswissen präsent ist: dass Wohlstand und Armut viel mit Hiersein und Dortsein zu tun haben.

Es fällt auf, dass parallel zu dieser Transnationalisierung sozialer Ungleichheit besonders in der politischen Sphäre eine rasante Nationalisierung der Ungleichheitsdiskussion vor sich geht. Die Debatten um eine neue Armut in Deutschland, ebenso wie um eine bisher nicht gekannte Gier von Bankern und Spitzenmanagern reißen nicht ab. Die Daten dafür sollen nicht bestritten werden. Allein: Wie stellt sich diese deutsche soziale Ungleichheit im Kontext einer europäisch und weltweit zunehmenden Ungleichheit dar? Wie vermittelt man das Elend der Hartz-IV-Karriere, die aber immerhin im reichsten Land Europas stattfindet, mit dem Elend griechischer Rentner oder der Armut in Somalia? Eine gewisse nationale Verengung des Blicks wird man bei dieser Diskussion doch konstatieren müssen. Wollte man ihr entgehen, müsste man freilich auch zur Kenntnis nehmen, dass es unterschiedliche Vorstellungen von Wohlergehen gibt. Einem deutschen Touristen mag das süditalienische Dorf ärmlich vorkommen; seine Bewohner mögen das anders sehen. Der Tourist weiß vielleicht auch nicht, dass viele dieser Dorfbewohner über ansehnlichen Immobilienbesitz verfügen und von der Vermietung der Ferienwohnungen ganz gut leben können.

Das Umgekehrte stellen wir aber genauso fest: die Angleichung des Blicks. Ulrich Beck hat argumentiert, dass die globale Ungleichheit nicht deshalb zum Problem werde, weil die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer würden, sondern weil sich weltweit anerkannte Gleichheitserwartungen und Gleichheitsnormen ausbreiteten.26 Nicht dass die Griechen oder die Somalier arm sind, sondern dass sie ebenfalls Wohlstand wollen und es kein theoretisches Argument gibt, ihnen diesen Anspruch zu versagen: das lässt die soziale Ungleichheit zum Thema werden. Damit stellt sich die Problemkonstellation des 19. Jahrhunderts wieder ein. Nicht die Armut der Pauperisierten als solche, sondern der Anspruch der Arbeiterbewegung auf eine Gleichheit, die vor allem „Gerechtigkeit“ bedeutete, machte die soziale Ungleichheit zu einem Problem.

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Die beiden Ansätze zum Verständnis der sozialen Ungleichheit – sie einerseits zu analysieren, sie andererseits zu problematisieren – lassen sich also auflösen in eine Überblendung der Perspektive von heute mit der Perspektive der Zeitgenossen. Die Funktion sozialer Ungleichheit im ex-post- und im Makro-Zugriff zu verstehen ist die eine Perspektive. Die andere ist es, soziale Ungleichheit aus dem Blick der Zeitgenossen zu deuten, und dies werden immer plurale Blicke sein. Die Sicht des Sozialdemokraten muss mit der Sicht des wohlsituierten Bürgers abgeglichen werden, der soziale Ungleichheit als absolut notwendig für die Ordnung der Gesellschaft verstand. Der „kühle“ analytische Blick von heute auf die soziale Ungleichheit muss konfrontiert werden mit dem „heißen“ politischen Blick der Zeitgenossen – freilich sollte unser eigener „heißer“ Blick, der vor allem durch zeitgebundene Problemwahrnehmungen gegenwärtiger Verhältnisse informiert ist, beim Blick auf die historische soziale Ungleichheit hintan gestellt werden.

Anmerkungen: 

1 Jörg Fisch, Europa zwischen Wachstum und Gleichheit 1850–1914, Stuttgart 2002, S. 27-37. Vgl. auch Otto Dann, Art. „Gleichheit“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 997-1046.

2 Z.B. Werner Conze, Vom Pöbel zum Proletariat. Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 41 (1954), S. 333-364.

3 Hartmut Kaelble, Industrialisierung und soziale Ungleichheit, Göttingen 1983, S. 11.

4 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1: 1700–1815, München 1987, S. 10f.

5 Heike Solga/Justin Powell/Peter A. Berger, Soziale Ungleichheit – Kein Schnee von gestern! Eine Einführung, in: dies. (Hg.), Soziale Ungleichheit. Klassische Texte zur Sozialstrukturanalyse, Frankfurt a.M. 2009, S. 11-45, hier S. 11.

6 Der Locus Classicus: Kingsley Davis/Wilbert E. Moore, Einige Prinzipien der sozialen Schichtung [1945], in: Heinz Hartmann (Hg.), Moderne amerikanische Soziologie, Stuttgart 1973, S. 396-410.

7 Zum Folgenden: Thomas Mergel, Soziale Ungleichheit als Problem der DDR-Soziologie, in: Christiane Reinecke/Thomas Mergel (Hg.), Das Soziale ordnen. Sozialwissenschaften und gesellschaftliche Ungleichheit im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2012, S. 307-336.

8 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1 (Anm. 4), S. 16f.

9 Ders., Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland, München 2013.

10 Kaelble, Industrialisierung und soziale Ungleichheit (Anm. 3).

11 Theodor Geiger, Die Klassengesellschaft im Schmelztiegel, Köln 1949. Zum Folgenden auch: Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 318-351.

12 Helmut Schelsky, Die Bedeutung des Schichtungsbegriffs für die Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft [1953], in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit, Düsseldorf 1965, S. 331-336; Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965.

13 Vgl. David Cannadine, The Rise and Fall of Class in Britain, New York 1999.

14 Josef Mooser, Arbeiterleben in Deutschland 1900–1970, Frankfurt a.M. 1984, bes. S. 224-236.

15 Vgl. etwa Gabriele Winker/Nina Degele, Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 2009.

16 Zur Unterscheidung zwischen den (konstruierten) „ethnischen“ Gruppen der Tutsi und der Hutu in Ruanda hat die deutsche Kolonialmacht auf körperliche Merkmale wie die Größe zurückgegriffen. Hans-Walter Schmuhl, Deutsche Kolonialherrschaft und Ethnogenese in Ruanda, 1897–1916, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 307-334.

17 Zum Folgenden: Claus Offe, Politische Herrschaft und Klassenstrukturen. Zur Analyse spätkapitalistischer Gesellschaft, in: Gisela Kress/Dieter Senghaas (Hg.), Politikwissenschaft. Eine Einführung in ihre Probleme, Frankfurt a.M. 1969, S. 155-189.

18 Heiner Geißler, Die Neue Soziale Frage. Analysen und Dokumente, Freiburg 1976, 3. Aufl. 1980.

19 Hans Günter Hockerts, Vom Problemlöser zum Problemerzeuger? Der Sozialstaat im 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), S. 3-29.

20 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986, S. 122.

21 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 1058.

22 So Luhmann zu Klassen ebd., S. 1055ff.; zu Schichten: Rudolf Stichweh, Erzeugung und Neutralisierung von Ungleichheit durch Funktionssysteme, in: ders., Inklusion und Exklusion. Studien zur Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2005, S. 163-177, hier S. 166f.

23 Lediglich in der Diskussion um die Kategorien Inklusion und Exklusion gibt es dazu inzwischen Überlegungen: Paul Windolf, Einleitung: Inklusion und soziale Ungleichheit, in: Rudolf Stichweh/Paul Windolf (Hg.), Inklusion und Exklusion. Analysen zur Sozialstruktur und sozialen Ungleichheit, Wiesbaden 2009, S. 11-27.

24 Thomas Schwinn, Soziale Ungleichheit, Bielefeld 2007.

25 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1987.

26 Ulrich Beck, Die Neuvermessung der Ungleichheit unter den Menschen, Frankfurt a.M. 2008, S. 11.

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