2/2005: Offenes Heft

Aufsätze | Articles

Im Juli 1959 erklärte das Bundesverfassungsgericht den so genannten „väterlichen Stichentscheid" für verfassungswidrig. Mit dieser Entscheidung verwarf es zwei Paragraphen des Gleichberechtigungsgesetzes von 1957, in denen sich ein patriarchalisches Verständnis elterlicher Autorität niedergeschlagen hatte. Diese Entscheidung des Gerichts lässt sich als ein Durchbruch einer emanzipatorischen Geschlechterpolitik interpretieren. Die Argumentation der Richter entsprach einem in der westdeutschen Öffentlichkeit verbreiteten Bedürfnis, väterliche Autorität nicht mehr als ein natürliches Entscheidungsrecht des Mannes und ein hierarchisches Verhältnis von Befehl und Gehorsam zu interpretieren. Die Suche nach neuen Formen der Vaterschaft war in der frühen Bundesrepublik ein zentrales Thema der allgemeineren Selbstverständigung über Autorität und Demokratie. In der Debatte um den „demokratischen Vater" experimentierten die Westdeutschen mit einem Lebensgefühl, das es ihnen erlaubte, die Bundesrepublik nicht nur als Schicksal, sondern als Chance zu begreifen.
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On 29 July 1959, the Federal Constitutional Court of West Germany declared that the "paternal casting vote" was unconstitutional. This ruling annulled two elements of the family law reform of 1957 which had codified a patriarchal conception of parental authority. Within the bounds of civil law, fathers no longer had the final word. This essay interprets the court’s ruling as the emergence of emancipatory gender policies. In addition, it analyses criticism of the "paternal casting vote" during the 1950s in relation to contemporaneous debates over the meaning of paternal authority. The search for new kinds of fatherhood was not merely an obsession of the West German public between the early 1950s and the mid-1960s; it also played a key role in the process of democratisation in a society whose citizens were emerging from a murderous past and striving to steer a course, marked by tensions between democracy and authority, in order to construct a better polity.

This article discusses key aspects of the symbolic politics of the British and West German anti-nuclear-weapons movements in the late 1950s and early 1960s. More specifically, it examines the interaction between protest, politics, the media and the public sphere. It proposes two analyses of the protests: first, as the creation of a public sphere by means of "street politics" and, second, as a key to establishing an emotional community of protesters both in a national and transnational context. The media played a crucial role by enabling isolated protests to be perceived as parts of broader movements. The article argues that protests in both countries by and large adhered to, rather than transcended, the dominant national cultural codes. These movements thus exemplify the ways in which international relations, transnational links and national protest traditions interact.
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Der Artikel beschäftigt sich mit Schlüsselaspekten der symbolischen Politik der britischen und westdeutschen Protestbewegungen gegen Atomwaffen der späten 1950er- und frühen 1960er-Jahre. Im Mittelpunkt steht die Interaktion zwischen Protest, Politik, Medien und Öffentlichkeit. Dabei werden die Proteste aus einer doppelten Perspektive analysiert. Zum einen erscheinen sie als Schaffung von Öffentlichkeit durch „Straßenpolitik". Zum anderen war das Protesthandeln zentral, um eine emotionale Gemeinschaft der Protestierenden auf nationaler und transnationaler Ebene herzustellen. Die Medien spielten eine zentrale Rolle dafür, dass diese Proteste überhaupt als zusammenhängende Protestbewegungen wahrgenommen werden konnten. Die Untersuchung zeigt, dass beide Protestbewegungen im Großen und Ganzen die dominanten kulturellen Codierungen noch nicht überschritten und trotz internationaler Appelle sehr stark im nationalen Rahmen operierten. Exemplarisch zeigt sich hier die Wechselwirkung zwischen internationalen Beziehungen, transnationalen Kontakten und nationalen Protesttraditionen.

Nach wie vor gilt „1968" vielen Beobachtern als eine klare Zäsur in der bundesdeutschen Geschichte, als Übergang von der „restaurativen" Adenauer-Zeit zu einer liberalen westlichen Demokratie. In Schweden dagegen scheint „1968" keine Wirkungen gezeitigt zu haben; zumindest ist durch die (deutsche) Forschung nichts überliefert. In diesem Aufsatz werden die 68er-Ereignisse in beiden Ländern verglichen, um ihren historischen Stellenwert genauer zu bestimmen. Trotz unterschiedlicher Voraussetzungen gab es manche Gemeinsamkeiten. Das lag an einem ähnlichen gesellschaftlichen Strukturwandel in der Nachkriegszeit, in den die 68er-Bewegungen eingebettet waren, aber auch an kollektiven Wahrnehmungsprozessen, durch die das magische Jahr „1968" in beiden Ländern überhöht wurde. Aus dieser vergleichenden Perspektive erscheint „1968" weniger als spezifisch bundesdeutsche Zäsur denn als Katalysator der gesellschaftlichen Umbrüche in der gesamten westlichen Welt.
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For many observers, the year 1968 is still regarded as a decisive break in the history of the Federal Republic of Germany – a moment of transition from a conservative, nearly authoritarian republic to a liberal, western democracy. In Sweden, on the other hand, "1968" does not seem to have brought about any effects; at least there is nothing recorded by historians on the continent. This article compares the events of "1968" in these countries. It shows that, in spite of different preconditions, we may observe some similarities in each country due to a similar structural change in both societies, but also due to collective processes of perception which gave events a status of singularity which they never really had. This comparative analysis suggests that "1968" was not specifically a break in West German history, but rather a catalyst of profound changes which took place in all western societies since 1945.

Mit keinem anderen Bild verbindet sich der Schrecken des Vietnamkrieges und der Schrecken des Krieges im Allgemeinen so sehr wie mit dem Foto des Mädchens Kim Phúc. Die Aufnahme machte der vietnamesische Fotograf Nick Ut am 8. Juni 1972 in der Nähe des Dorfes Trang Bang. Sein vielfach ausgezeichnetes Bild wurde zu einer zentralen Ikone des 20. Jahrhunderts. Als solche führt sie im kollektiven Gedächtnis mittlerweile ein eigenes Leben und konstituiert eine Wirklichkeit, die mit der ursprünglich abgebildeten nur noch wenig gemein hat. Immer wieder ist das Bild politisch, kommerziell und religiös funktionalisiert und in neue Kontexte gestellt worden. Der Aufsatz rekonstruiert die politischen und medialen Zusammenhänge, in denen das Bild entstand. Zugleich verfolgt er den jedem großen Krieg nachfolgenden Prozess der Überzeichnung und Überschreibung der ursprünglichen Bilder sowie der mit wachsendem Zeitabstand zunehmenden Legenden- und Mythenbildung.
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No picture expresses the terror of the Vietnam War and the terror of war in general more radically than the photograph of the girl Kim Phúc. The picture was taken by the Vietnamese photographer Nick Ut on 8 June 1972 near the village of Trang Bang. His photograph, which has won several awards, has become a major icon of the twentieth century. It has taken on a life of its own in collective memory whose reality has little in common with the reality originally depicted. This image has been used for political, commercial and religious purposes, and placed in new contexts again and again. The article closely examines the circumstances in which the photograph was made in relation to political issues and the mass media. At the same time it considers the process of rewriting and refiguring original images which occurs in the wake of every major war along with the legends and myths that increase in proportion to the lapse of time.

Interviews

  • Barbara Klemm
    Fotografie als visuelle Geschichtsschreibung

    Ein Gespräch mit Barbara Klemm

Debatte | Debate

  • Jan-Holger Kirsch

    Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik

    Vorwort

  • Martin Sabrow

    Nach dem Pyrrhussieg

    Bemerkungen zur Zeitgeschichte der Geschichtsdidaktik

  • Stefan Jordan

    Die Entwicklung einer problematischen Disziplin

    Zur Geschichte der Geschichtsdidaktik

  • Dietmar von Reeken

    Eine ganz normale Epoche?

    Überlegungen zur Zeitgeschichte in Geschichtskultur und Geschichtsunterricht

  • Simone Rauthe

    Geschichtsdidaktik – ein Auslaufmodell?

    Neue Impulse der amerikanischen Public History

Quellen | Sources

  • Christoph Hamann

    Schnappschuss und Ikone

    Das Foto von Peter Fechters Fluchtversuch 1962

  • Bernd Lindner

    Das zerrissene Jahrhundert

    Zur Werk- und Wirkungsgeschichte von Wolfgang Mattheuers Plastik „Jahrhundertschritt“

Besprechungen | Reviews

Websites

  • Bernd Stöver

    Forschungen und Quellen zum Kalten Krieg

    Das „Cold War International History Project“

CD-ROMs und DVDs

  • Annette Weinke

    Überreste eines „unerwünschten Prozesses“

    Die Edition der Tonbandmitschnitte zum ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965)

Neu gelesen

  • Albrecht Weisker

    Korporatismus und Lobbyismus vor 50 Jahren und heute

    Theodor Eschenburgs „Herrschaft der Verbände?“

  • Kurt Seifert

    Wider die Logik der Selbstausrottung

    Rudolf Bahros Suche nach einer gesellschaftlichen „Alternative“

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