„Er redet leicht, schreibt schwer“

Theodor W. Adorno am Mikrophon

Anmerkungen

Theodor W. Adorno, ca. Mitte der 1960er-Jahre (Foto: Peter Zollna)

 

Theodor W. Adorno, ca. Mitte der 1960er-Jahre
(Foto: Peter Zollna)

Adorno als Redner und Sprecher – das ist ein zeitgeschichtlich brachliegendes Feld. Noch gibt es keine Monographie, die sein mündliches Wirken in der Öffentlichkeit genauer erkundet.1 Die folgenden Überlegungen stehen im Zusammenhang mit einem Publikationsprojekt, das diesem Desiderat begegnen soll – auf der Basis der schriftlichen und akustischen Quellen im Theodor W. Adorno Archiv.2 Das Rundfunkstudio und der Vortragssaal gehörten zu Adornos wichtigsten Wirkungsstätten. Er hatte mehr Hörer als Leser, und seine Auditorien waren umfassender als sein Lesepublikum. Durch das Radio konnte er seinen Wirkungskreis vervielfachen, also Zehntausende, mitunter wohl auch Hunderttausende erreichen.3 Adorno war sich dieser Verhältnisse durchaus bewusst, zeigte aber die Neigung, seine mündlichen Aktivitäten als Nebensachen darzustellen. Sie hing mit seinem schriftstellerischen Selbstverständnis zusammen. Dagegen verlangt eine zeithistorische Einschätzung seines Wirkens, in Adorno nicht nur den Autor zu sehen, sondern zugleich den öffentlichen Redner und Sprecher – seine intellektuelle Praxis also nicht auf das Schreiben zu verengen. Wenn man von Adornos „Ausstrahlung“ in der Bundesrepublik sprechen will, dann genügt es nicht, auf die Fülle seiner Essays und Bücher hinzuweisen.

Adornos Produktivität wurde von vielen Zeitgenossen bewundert, löste beim Rundfunk aber auch Besorgnisse aus. Der Norddeutsche Rundfunk zum Beispiel wollte „eine allzu grosse Massierung von Adorno-Vorträgen, die ja sehr grosse Ansprüche an die Hörer stellen, […] vermeiden“.4 In Briefen war die Rede von einer „Adorno-Inflation“ und einer „Adorno-Flut“. Trägt man zusammen, wann und wo Adorno öffentlich zu hören war, so summiert sich das in der Tat zu einer imposanten Liste. Für die 1950er- und 1960er-Jahre lassen sich fast 300 Rundfunkbeiträge ermitteln. Hinzu kommen mehr als 300 Auftritte vor Präsenzpublikum. Man konnte Adorno also fast jede Woche irgendwo hören.

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Als Adorno 1950 mit dem Vortrag „Auferstehung der Kultur in Deutschland“ seine Rundfunktätigkeit in der Bundesrepublik begann,5 konnte er von seinen früheren Radioerfahrungen profitieren. Er hatte ja nicht nur durch theoretisch orientierte Untersuchungen eine gründliche Kenntnis dieses Mediums erlangt; vielmehr war er, schon aus der Zeit der Weimarer Republik, auch ein geübter Praktiker des Rundfunks. 1931 zum Beispiel ging er sieben Mal im Südwestdeutschen Rundfunk on air, wo sein Freund Ernst Schoen Programmleiter war. Nach seiner Remigration ergaben sich 1950 dann Kontakte zum Hessischen Rundfunk, und bald kamen auch die anderen bundesdeutschen Sender hinzu.

Das föderale System der Rundfunkanstalten bot Adorno vielfältige Wirkungsmöglichkeiten. Seine Beiträge wurden im ganzen Bundesgebiet und keineswegs nur „hin und wieder auch von anderen Rundfunkanstalten“6 als dem Hessischen Rundfunk gebracht. Die Sender kooperierten; sie waren miteinander vernetzt und boten einander technische Hilfe. So musste Adorno sich nicht immer zum jeweiligen Sendeort begeben. Beim Hessischen Rundfunk konnte auch für die anderen Anstalten produziert werden (die so genannten Gefälligkeitsaufnahmen). Viele seiner Radiobeiträge gingen auf Adornos eigene Anregungen zurück. Die Themen wurden brieflich mit den Rundfunkredakteuren oder Programmleitern ausgehandelt – zum Beispiel mit Alfred Andersch, Hans Magnus Enzensberger, Adolf Frisé, Heinz Friedrich, Peter Hamm, Helmut Heißenbüttel, Horst Krüger, Rolf Liebermann und Winfried Zillig.

Bei Auftritten vor Ort war der Themenhorizont gewöhnlich von den Veranstaltern vorgegeben. Dies waren kulturelle Vereine, wissenschaftliche Gesellschaften, konfessionelle Vereinigungen, Sommerakademien, Hochschulgruppen, staatsbürgerliche Bildungsstellen, Musikhochschulen, Amerika-Häuser, Goethe-Institute, Volkshochschulen und andere Einrichtungen der Erwach-senenbildung. Im Laufe der 1950er- und 1960er-Jahre stieg die Nachfrage rapide an. Adorno wurde ein gesuchter Redner und Diskutant, und es kamen immer mehr Einladungen, so dass er schließlich viele ablehnen musste. Er trat in fast allen großen Städten der Bundesrepublik auf, aber auch in Wetzlar, Speyer, Recklinghausen, Bad Meinberg, Bad Sooden-Allendorf, Biberach oder Lemgo. Nach Berlin ist Adorno 15-mal gekommen, wobei er nicht mit dem Zug anreisen wollte: „[…] ich betrete grundsätzlich nicht den Boden der Ostzone und benutze darum für jede Berliner Reise das Flugzeug.“7

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Sieht man ab von den langen Sommerwochen, die Adorno fern von Geschäften in Sils-Maria verbrachte, so waren fast alle seine Reisen Vortragsreisen. Auch eine Fahrt nach Frankreich und Italien im Frühjahr 1961 wurde mit Vorträgen finanziert. So hat er in Paris, Rom, Palermo und Perugia gesprochen. Er nannte das ironisch „Auslandstournée“ und notierte im Tagebuch, dass es in Palermo sogar Autogrammwünsche gab.8 In diesen vier Wochen hat er, bei dichtem Tagesprogramm, elf Vorträge in französischer Sprache gehalten.

Anders als für manche Autoren der Gruppe 47 waren für Adorno seine Auftritte und Radiovorträge nicht die Lebensgrundlage. Man kann sie nicht eigentlich Brotarbeiten nennen – eher Zubrotarbeiten –, aber die materiellen Bedingungen waren Adorno nicht gleichgültig. Honorare wurden ausgehandelt, und er hat dies nicht ohne selbstbewussten Geschäftssinn betrieben. Für einen Vortrag erhielt er zwischen 200 und 1.000 DM – damals durchaus beachtliche Summen. Beim Rundfunk kam zu diesem Autorenhonorar manchmal noch ein kleines Sprecherhonorar hinzu (Adorno hat fast alle seine Vorträge selbst eingesprochen).

Er war ein geübter Sprecher, und er sprach auf individuell-unverwechselbare Weise: meistens in gleichmäßig ruhigem Tempo, ohne zu hasten, aber auch nicht schleppend; deutlich, ohne nuschelnd auch nur ein Wort zu verschleifen, ohne eine Endsilbe zu verschlucken. Diese sorgfältige Aussprache teilt dem Hörer mit: Adorno will verstanden werden. Zeitgenossen haben das akustisch Präzise, Prononcierte und Pointierte seines Sprechens betont. Es wurde oft als „überartikuliert“ bezeichnet. Sein Freund Ernst Křenek schreibt über die erste Begegnung: „Er hatte einen sonderbar stechenden Blick und eine überdeutliche, aggressive Sprechweise, und ich mochte ihn überhaupt nicht.“9 Analytische Genauigkeit, Eindringlichkeit und leidenschaftliche Bestimmtheit sprachen aus Adornos Stimme. Immer betonte sie die sachliche Artikulation. Doch seine Stimme war auch variabel und modulierend. Adorno nutzte die Möglichkeiten, klanglich zu nuancieren. Er hatte mehr als eine Sprechweise und mochte es, verschiedene Register zu ziehen. Er konnte sanft und warm sprechen, emphatisch und intensiv, aber auch mit scharfem Furor.

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In einem Vortrag über Anton Webern, gesendet im Hessischen Rundfunk am 3. Dezember 1958, zitierte Adorno aus Franz Kafkas Erzählung „Die Sorge des Hausvaters“: gesprochen in musikalisch weichem und zartem Ton.
(00:39 Minuten; Quelle: Theodor W. Adorno Archiv, TA 126)

Als Redner hat Adorno das Publikum fasziniert. Nie sprach er holprig, unsicher oder stockend. Seine sprachliche Souveränität und Ausdruckskraft wurden bewundert. Und es wurde oft gesagt, Adorno rede wie gedruckt. Er selbst aber hätte dieser Auffassung energisch widersprochen, sah er doch einen Abgrund zwischen dem gesprochenen Wort und seinen nach Strich und Faden gearbeiteten Texten. Adorno wollte Improvisiertes nicht an den Schriften gemessen wissen. Frei gehaltene Vorträge hatten für ihn nicht das Gepräge seiner gedruckt erschienenen Werke, die Produkte reiflicher Überarbeitung waren. Man weiß, wie sehr seine Aufsätze und Bücher aus sprachlicher Disziplin und mühevoller Arbeit erwuchsen. Marie Luise Kaschnitz hat 1957 in ihrem Tagebuch über Adorno notiert: „Er redet leicht, schreibt schwer, mit unzähligen Verbesserungen.“10

Adorno hatte generell Vorbehalte gegen die Fixierung des gesprochenen Wortes. Er verspürte ein Unbehagen, das Ephemere festzuhalten, das Improvisierte zu objektivieren und zu speichern. Fast alle Tonaufnahmen seiner Vorlesungen ließ er löschen. Im Hinblick auf das Sprechen, das sich im Augenblick verbraucht, hatte er keinen Überlieferungswillen. Groß war sein Unwille, etwas drucken zu lassen, das seinen empfindlichen Textanforderungen nicht entsprach. Es gehörte zu seiner literarischen Haltung, streng zwischen gesprochenem und gedrucktem Wort zu unterscheiden. Die fließende freie Rede sollte nicht stehenbleiben, nicht den Status der Druckschrift erhalten.

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Neben den improvisierten Vorträgen gab es viele, die schon als Text ausformuliert waren und die Adorno dann einfach vorlas. So hat er einen großen Teil seiner Essays und Aufsätze zuerst in mündlicher Form in die Öffentlichkeit gebracht. Man kann dabei durchaus von Mehrfachverwertung sprechen. Was immer ihm geeignet erschien, trug er vor Publikum oder im Radio vor, bevor es gedruckt herauskam. Auch insofern war die akustische Rezeption primär. Der Rundfunk wollte Unveröffentlichtes, wollte Originalbeiträge bringen. Darum hat Adorno nicht Gedrucktes vorgetragen, oft aber Getipptes: nämlich Texte, die fertig geschrieben, aber noch nicht erschienen waren.

Nun waren aber auch bei fertig ausgearbeiteten Vorträgen improvisierte Einschübe möglich. Was Adorno vorlas, wies immer irgendwelche Abweichungen vom später Gedruckten auf. Selbst wenn es nur kleine Varianten zum schriftlichen Text gab, sind diese oft sehr bezeichnend. In einem Vortrag zur „Kritik des Musikanten“11 warf er der Jugendmusikbewegung nicht wie in der Druckfassung „Boxfreudigkeit“ vor, sondern er sprach von „Kryptofaschismus“.

In dem Radiovortrag „Kritik des Musikanten“ von 1956 zitierte Adorno zunächst eine längere Passage von Karl Vötterle aus der Zeitschrift „Hausmusik“ (1952). Mit der knappen Bemerkung „Das genügt“ leitete er sodann zu einer scharfen Kritik an der „faschistischen Tendenz“ der Jugendmusikbewegung über, die sich in Vötterles Aufsatz dokumentiere.
(3:02 Minuten; Quelle: Theodor W. Adorno Archiv, TA 46)

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Adornos ausgeschriebene und gelesene Vorträge waren Probierläufe. Er nutzte die Möglichkeiten öffentlichen Sprechens, um die Wirkung seiner Arbeiten zu testen – aber auch, um seine Texte auf rhythmische und klangliche Stimmigkeit zu überprüfen. Nachdem er im Studio eine Aufnahme eingesprochen hatte, schrieb er dem Redakteur: „Lassen Sie mich heute nur hinzufügen, daß die Änderungen des gesprochenen Texts gegenüber dem Manuskript beabsichtigt sind. Sie ergaben sich, wie stets, wenn ich im Radio spreche, während des Vortrags, wenn mir irgendein Klang wiederholt oder der Rhythmus gestört schien.“12 Adorno hat das Vorzulesende demnach spontan variiert, wenn der ästhetische Sinn dies zu verlangen schien. Die Sensibilität des Musikers hat auch die akustische Gestalt seiner Texte bestimmt.

Die Mehrzahl der Rundfunkbeiträge galt Themen der Musik.13 Adorno war gegenüber neuen Sendeformen aufgeschlossen und nutzte die Möglichkeiten dieses Mediums, Wort und Musik zu kombinieren. Mit Bezug auf einen Vortrag über Toscanini schrieb er 1958 in einem Brief: „Mir wollte es so scheinen, als hätte ich, ohne es selbst ganz zu wissen, beim Toscanini einen neuen Typus von Musikkritik entdeckt; nämlich einen, der nicht beim bloßen Verdikt stehen bleibt, sondern die kritischen Aussagen unmittelbar durchs Phänomen belegt.“14 Kritik „durchs Phänomen belegen“, das sollte heißen: durch akustische Musikbeispiele. Akustische Zitate wurden für Adorno integrale Bestandteile dieser radiospezifischen Vortragsform.

Wenn man von dieser Sendeform, den Vorträgen mit Hörbeispielen, einmal absieht, dann kann man ohne viel Übertreibung sagen, dass es von Adorno keine eigentlichen Radiotexte gibt. Er hat kaum etwas ausschließlich für den Rundfunk verfasst. Die nach 1945 entwickelte Gattung „Radio-Essay“, in dem ein Autor speziell für Hörer und also auch einfacher schreibt, hat er nicht bedient. Wenn er schrieb, dann schrieb er – für Leser, nicht für Hörer. Nicht selten hat er diese damit überfordert. Viele im Auditorium konnten dem verzweigten Gedankengang kaum folgen. Kritiker beklagten, dass der Vortrag zu schwer gewesen sei und dass Adorno, ohne Rücksicht auf Verstehensmöglichkeiten und nur auf die behandelte Sache gerichtet, zu wenig Maß am Publikum genommen habe. Überhaupt wurde ihm immer wieder vorgeworfen, er habe eine Hauptregel der Rhetorik in den Wind geschlagen – nämlich die, situationsangemessen und hörerorientiert zu sprechen.

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Gleichwohl: Adorno wollte verstanden werden; und er ist den Hörern entgegengekommen, wenn er nicht einen dichten Text vorlas, sondern aus dem Stegreif sprach. 1964 schrieb Adorno dazu in einem Brief, er habe „wiederholt – so zuletzt bei meinem frei improvisierten Wagner-Vortrag in Berlin – die Erfahrung gemacht, daß meine Dinge, wie man so sagt, besser ‚herüberkommen‘, wenn ich nicht nach einem Manuskript lese, das nun einmal, wie ich schon so bin, unvermeidlich dicht und gepanzert würde“.15 Freilich ist er nie ganz unpräpariert vor das Publikum getreten. Beim Improvisieren pflegte er sich auf Stichworte zu stützen – in der Regel nur auf ein paar knappe und dürre Notizen. Diese Spickzettel hat er sich oft erst kurz vorher gemacht. Im Vergleich der Stichworte mit dem, was er extemporierte, lässt sich die spontane Gedankenbildung gut nachvollziehen: das Offene und Wendungsreiche der Ausführungen; das nicht absehbare Ereignis der Formulierung; das Denken in Bewegung; das Werden freier, unangestrengt wirkender Rede.

Oft kann man die Meinung hören, Adornos Sprache sei immer hochgestochen, voll trockener Terminologie und abstrakter Begrifflichkeit. Dabei wird etwas Charakteristisches seiner Rede übersehen: der Einschlag bildhafter Wendungen, saftiger Redensarten und geflügelter Worte. Adorno liebte es, Umgangssprachliches und idiomatische Wendungen einzuflechten. „Ein Fanfaren-Trara, daß einem angst und bange wird“ – das sagte er einmal im Gespräch mit dem Musikwissenschaftler Rudolf Stephan.16 Man kann in improvisierten Vorträgen und Gesprächen zahlreiche Beispiele dieser Art finden: viele Redewendungen, die Anschaulichkeit und kräftige Farbe geben, oft auch Sprichwörter. Sein erklärtes Lieblingssprichwort kommt immer wieder vor: „Bange machen gilt nicht“.

Adorno war in seinen letzten 20 Lebensjahren in 114 Rundfunkgesprächen oder Interviews zu hören. Wenn die Gelegenheit sich bot, hat er sich mit Freunden vor das Mikrophon gesetzt. So gibt es Gespräche mit Ernst Bloch, Max Horkheimer, Daniel-Henry Kahnweiler, Rudolf Kolisch, Fritz Lang und Lotte Tobisch. Viele dieser freundschaftlichen Unterhaltungen hat Adorno selbst angeregt – obwohl Einmütigkeit zu erwarten, ja zu befürchten war. Andere Partner im Rundfunk-Studio waren Boris Blacher, Elias Canetti, Hans-Georg Gadamer, Karl Kerényi, Lotte Lenya, Erika Mann, Herbert Marcuse, Hans Mayer oder Marcel Reich-Ranicki. Nicht selten gehörten seine Gesprächspartner der jüngeren Generation an: zum Beispiel Pierre Boulez, Bazon Brock, Hans Magnus Enzensberger, Joachim Kaiser, Heinz-Klaus Metzger oder Karlheinz Stockhausen. Gegenüber diesen Junior-Partnern war Adorno natürlich ein mikrophongewohnter alter Hase – und damit im Vorteil, würde man denken. Es ist aber keineswegs so, dass er alle diese Gespräche dominierte.

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Einige Gespräche aus den 1950er-Jahren wirken etwas inszeniert und vorprogrammiert. Man merkt, dass sie einem Flussbett von Vereinbarungen und Vorformulierungen folgen. Später ging Adorno dazu über, auf Absprachen im Vorfeld möglichst zu verzichten. Je offener und experimenteller, desto besser. So schrieb er 1965, nachdem er mit dem Journalisten Peter von Haselberg im Studio gewesen war, den er seit langem kannte: „Das Gespräch war ganz spontan, wir hatten uns buchstäblich nur eine halbe Stunde vorher, ganz lose, unterhalten. Immer wieder mache ich die Erfahrung, daß solche Gespräche um so besser gelingen, je weniger man sie vorbereitet; sonst verlieren sie gerade das, was ein Gespräch zu einem macht.“17 In manchen Gesprächen wurde sogar nur das Thema vereinbart, nichts aber über den Verlauf.

Adorno war ein höflicher Gesprächspartner. Ausdrücke der Höflichkeit waren ein beständiges Element seines Sprechens. „Vielleicht darf ich doch“ – das war eine typische Gesprächsformel. Weitere Beispiele: „Vielleicht würden Sie die Güte haben“, „Ich möchte aber doch noch, wenn Sie es erlauben“, oder „Darauf würde ich etwas ganz Einfaches sagen“. Er hatte eine ganze Reihe solcher höflicher Versatzstücke parat, einen Formelvorrat, der im Gespräch jederzeit zu aktivieren war. Die vorgeprägten Wendungen ermöglichten Geläufigkeit und die Sicherheit fließender Rede. Sie bedeuteten Zeitgewinn für das Denken und Formulieren. Und es drückte sich darin nicht nur Höflichkeit aus, sondern auch Distanz und Reflexivität.

„Umstrittene Sachen“ – so hieß eine Sendereihe des WDR, die auch Diskussionen mit Adorno brachte. Gefragt waren Kontroverses, spannende Konfrontationen und temperamentvolle Kontrahenten. Dass Adorno eloquent war, bei aller Höflichkeit Fraktur redete und nicht auswich, das machte ihn für Veranstalter, Rundfunk-Redakteure und Programmgestalter interessant. Seine Streitbarkeit war bekannt, und manche scheinen Furcht gehabt zu haben, sich mit ihm einzulassen. Einmal wollte Adorno sich im Radio mit Gottfried Benn über das Thema „Reine oder engagierte Kunst“ austauschen. Benn sagte aber ab und schrieb Adorno, dieser sei gefährlich und ein ihm dialektisch weit überlegener Partner.18 Adorno selbst hat solche Berührungsängste offenbar gar nicht gekannt. „Bange machen gilt nicht.“ Auch wo kaum mit einem wohlwollenden Hörerkreis zu rechnen war, scheute er das Podium nicht – zum Beispiel 1957 in der Evangelischen Akademie Loccum, wo Bischof Stählin unter Protest den Saal verließ.19 Solche Eklats schien Adorno nicht ohne Stolz zu erwähnen.

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Unverbindliche Konversation war von ihm nicht zu erwarten. Differenzen suchte er zum Austrag zu bringen, nicht zu verwischen. Aber gerade dafür schien es ihm notwendig, im Gespräch zunächst auch die Übereinstimmung zu bezeichnen. Er ging gern von einem gemeinsamen Nenner aus, um dann desto entschiedener auf Auseinandersetzung zu dringen. Mitten in einem Gespräch mit Arnold Gehlen sagte er: „Ich glaube, gerade weil die Zeit schon etwas fortgeschritten ist, sind wir es doch eigentlich unseren Zuhörern, schon damit sie in der Arena auch auf ihre Kosten kommen, schuldig, nun also endlich einmal an den Fleischbrocken uns heranzumachen; das heißt, jetzt wollen wir uns zanken.“20 Adorno sagte das, weil er den Angelpunkt der Kontroverse mit Gehlen noch gar nicht berührt sah und befürchtete, dieser Punkt werde nicht mehr zur Sprache kommen. Die Rundfunk-Auftritte mit Gehlen liefern gute Beispiele für Adornos souveräne Offenheit und Diskussionslust. Gehlen war so etwas wie sein Intimfeind. Die beiden haben vier Mal im Rundfunk miteinander diskutiert. Es sind Gespräche mit gebleckten Zähnen – man ist bereit zu beißen, aber man lacht auch mal zusammen. An einer Stelle vergleichen sie sich mit zwei großen Doggen, die an einem Knochen zerren. Man merkt, dass Adorno Spaß an diesen Streitgesprächen hatte.

In dem Gespräch „Öffentlichkeit – was ist das eigentlich?“ mit Arnold Gehlen, gesendet im Südwestfunk am 18. März 1964, reflektierte Adorno auf Eitelkeit und „narzisstischen Lustgewinn“ des Intellektuellen als öffentlicher Figur. Durch seine Vorträge und Gespräche hatte er in den 1960er-Jahren einen großen Bekanntheitsgrad erlangt.
(2:19 Minuten; Quelle: Theodor W. Adorno, Kultur und Verwaltung. Vorträge und Gespräche, 6 CDs, München 2008 [CD 4])

Seine Gespräche mit Gehlen wurden im Spätprogramm des Südwestfunks gebracht. Überhaupt war Adorno viel in den Abend- und Nachtstudios der Sender zu hören. Aber schon Anfang der 1950er-Jahre hatte er sich dagegen gewandt, anspruchsvolle Wortbeiträge in die späten Randzeiten des Rundfunks abzuschieben. Er wollte kein Mitternachtsghetto. Im März 1952 schrieb Adorno an den Nordwestdeutschen Rundfunk, nachdem er für diesen Sender seine „Anweisungen zum Hören neuer Musik“ eingesprochen hatte: „Mir hat diese Arbeit besondere Freude gemacht und ich glaube, daß sie wirklich etwas dazu beiträgt, Menschen das Hören neuer Musik zu erleichtern. Ich wäre Ihnen darum dankbar, wenn die Sendung so placiert werden könnte, daß sie einen möglichst großen Hörerkreis erreichen kann.“21 Tatsächlich gab es nicht nur zu später Stunde Sendungen mit Adorno. Sein großer Vortrag über Beethovens „Missa solemnis“ zum Beispiel kam um 20.15 Uhr, zur prime time.22 Adorno wollte wirken – und das nicht nur in einem Reservatbereich. Zudem wollte er wissen, wie er wirkte. Im Nachlass ist die Pressedokumentation erhalten, die er anlegen ließ: 17 prallgefüllte Ordner, in denen sich auch viele Zeitungsberichte über seine Vorträge und Diskussionen finden – eine unschätzbare Sammlung zeitgeschichtlicher Rezeptionsdokumente.

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Mit zunehmender Prominenz verbanden sich für Adorno auch Gefahren einer öffentlichen Figur. Man wollte kritische Virtuosenleistungen erleben. Man erwartete – so heißt es einmal im Tagebuch – „unablässig adornistische Weisheiten von mir“.23 Adorno hatte zunehmend Anlass, sich gegen Rollenzumutungen zu sperren. Er wollte nicht immer den grimmigen Spielverderber, den Miesmacher vom Dienst, die negative Type geben. Als Intellektueller sah er sich herausgefordert, fixe Hörererwartungen und Projektionen seiner öffentlichen Rolle zu durchbrechen.

Natürlich ist es schwer, sich ein Bild vom disparaten Publikum seiner Radiohörer und von deren Erwartungen zu machen. Umso mehr war Adorno an ihren Reaktionen interessiert. Im Nachlass sind viele Hörerbriefe erhalten, verstreut über die gesamte Korrespondenz. Und man sieht auch, dass er die meisten beantwortet hat. Die Zuschriften sind sehr verschieden: Neben solchen von Adorno-Fans finden sich auch böswillige Briefe, in denen er wütend beschimpft wurde, manchmal mit antisemitischem Unterton.

Kritische Theorie als öffentliche Rede darzustellen wäre Desiderat einer historischen Betrachtungsweise, die den Akzent aufs Geschehene und Gesprochene, nicht aufs Geschriebene legt. Statt der Hauptwerke und literarischen Großformen käme die vielfältige Rede- und Dialogpraxis der Akteure in den Blick, eine breit gestreute Tätigkeit, die kleine Münze mündlicher Aktivitäten. So würde die akustische Dimension der Frankfurter Schule erkennbar, die sich nicht in ein paar Radiosendungen erschöpft.

Anmerkungen: 

1 Vgl. aber zu Adornos Rundfunktätigkeit: Clemens Albrecht, Die Massenmedien und die Frankfurter Schule, in: ders. u.a., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a.M. 1999, S. 203-246; Monika Boll, Nachtprogramm. Intellektuelle Gründungsdebatten in der frühen Bundesrepublik, Münster 2004; Klaus Reichert, Adorno und das Radio, in: Sinn und Form 62 (2010), S. 454-465.

2 Das Theodor W. Adorno Archiv, eine Einrichtung der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, befindet sich im Institut für Sozialforschung, Frankfurt am Main. Die Bestände des Adorno Archivs sind (in Reproduktionen) einsehbar in der Akademie der Künste, Berlin.

3 Vgl. Gerd Kadelbach, Persönliche Begegnungen mit Theodor W. Adorno im Frankfurter Funkhaus, in: Friedhelm Zubke (Hg.), Politische Pädagogik. Beiträge zur Humanisierung der Gesellschaft, Weinheim 1990, S. 49-56, hier S. 54.

4 Hannes Reinhardt (NDR) an Adorno, 13.10.1959, Theodor W. Adorno Archiv (im Folgenden abgekürzt: TWAA), Frankfurt a.M., ohne Signatur.

5 Hessischer Rundfunk, 18.4.1950.

6 Conrad Lay, „Viele Beiträge waren ursprünglich Rundfunkarbeiten“. Über das wechselseitige Verhältnis von Frankfurter Schule und Rundfunk, in: Rainer Erd u.a. (Hg.), Kritische Theorie und Kultur, Frankfurt a.M. 1989, S. 173-188, hier S. 179.

7 Adorno an Albrecht Prüfer, 27.9.1957, TWAA, Ei 034/6.

8 Vgl. Theodor W. Adorno Archiv (Hg.), Adorno. Eine Bildmonographie, Frankfurt a.M. 2003, S. 264.

9 Ernst Křenek, Im Atem der Zeit. Erinnerungen an die Moderne, Hamburg 1998, S. 454.

10 Marie Luise Kaschnitz, Tagebücher aus den Jahren 1936–1966, hg. von Christian Büttrich, Marianne Büttrich und Iris Schnebel-Kaschnitz, Bd. 1, Frankfurt a.M. 2000, S. 602.

11 Erstsendung im Süddeutschen Rundfunk, 25.5. und 1.6.1956.

12 Adorno an Helmut Lamprecht (Radio Bremen), 9.3.1962, TWAA, ohne Signatur.

13 Dies vernachlässigen Albrecht u.a., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik (Anm. 1).

14 Adorno an Rolf Liebermann (NDR), 16.1.1958, TWAA, ohne Signatur.

15 Adorno an Hans Otte (Radio Bremen), 29.1.1964, TWAA, ohne Signatur.

16 Zur Gesellschaftlichkeit der Musik; Erstsendung: Süddeutscher Rundfunk, 29.4.1963.

17 Adorno an Samuel Bächli (NDR), 7.10.1965, TWAA, ohne Signatur.

18 Gottfried Benn an Adorno, 30.11.1955, TWAA, Br 94/2.

19 Vgl. TWAA, Ei 266/2.

20 Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen, Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen? Ein Streitgespräch [1965], in: Friedemann Grenz, Adornos Philosophie in Grundbegriffen. Auflösung einiger Deutungsprobleme, Frankfurt a.M. 1974, S. 224-251, hier S. 242.

21 Adorno an Herbert Hübner, 3.3.1952, TWAA, ohne Signatur.

22 Verfremdetes Hauptwerk; Erstsendung: NDR, 16.12.1957.

23 Theodor W. Adorno Archiv, Adorno (Anm. 8), S. 270.

Zum Weiterlesen:
Hans-Joachim Hahn
Kritik und Idealisierung.
Theodor W. Adornos Verhältnis zur deutschen Sprache
,
in: Zeithistorische Forschungen/
Studies in Contemporary History 20 (2023), S. 297-312.

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