Ein europäisches Fanal der Geschichtswissenschaft?

Der Tagungsband zum Mainzer Europa-Kongress von 1955

Anmerkungen

Martin Göhring (Hg.), Europa - Erbe und Aufgabe. Internationaler Gelehrtenkongreß Mainz 1955, Wiesbaden: Franz Steiner 1956 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 13, Abteilung Universalgeschichte).

Der Mainzer Europa-Kongress im März 1955 war ein publizistisch stark beachtetes Ereignis, zudem dasjenige, mit dem das knapp fünf Jahre zuvor ins Leben getretene Institut für Europäische Geschichte erstmals bewusst den Lichtkegel der Öffentlichkeit suchte. Die Tagung wurde von mehr als 300 Wissenschaftlern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus 16 Staaten besucht, sprengte die räumlichen Kapazitäten des Instituts bei weitem und musste deswegen an den prominentesten Platz der Rheinstadt verlagert werden, nämlich in das Kurfürstliche Schloss. Schon im Folgejahr, 1956, konnte der Direktor der ausrichtenden Institutsabteilung, Martin Göhring, die gedruckte Dokumentation dieses Kongresses vorlegen. Sie trug denselben Titel wie die Tagung selbst: „Europa - Erbe und Aufgabe“.

Greift man nach einem knappen halben Jahrhundert erneut zu dieser Publikation, so fällt als erstes das gänzliche Fehlen ostmitteleuropäisch-südosteuropäischer Teilnehmer auf. Sieht man von dem einen oder anderen Exilwissenschaftler aus dem fraglichen Raum ab, war der Mainzer Kongress eine stark westeuropäisch akzentuierte Veranstaltung - wobei bedacht werden muss, dass Göhring als Frankreich-Experte in diese Großregion hinein über die besten Kontakte verfügte. Ohnehin waren in den mittleren 1950er-Jahren Wissenschaftskontakte in den kommunistisch beherrschten Raum so gut wie undenkbar. Aber das Unter-sich-Bleiben hatte auch eine inhaltliche Seite. Für den heutigen Leser ist der ermüdend häufige Rekurs auf den Abendland-Begriff frappierend; die Gleichsetzung von „Abendland“ und „Europa“ bildete geradezu die stillschweigende Grundlage der Veranstaltung.

Nun ist die ideologiekritische Aufarbeitung des Abendland-Begriffs in den letzten Jahren zu einer Art Modethema geworden, und trotz einzelner Interpretationsunterschiede haben sich einige gesicherte Befunde ergeben, was diesen Begriff kennzeichnete und seine Attraktivität ausmachte: die Vorstellung einer „Wiederverchristlichung“ aller vom Christentum abgefallenen Gesellschaften, die Überwindung der konfessionellen Spaltung, vor allem aber der Kampf gegen das „westliche“ Werteverständnis und die politische Moderne. Wie sich Konzepte dieser Art in der Zwischenkriegszeit bildeten und vom Nationalsozialismus fast bruchlos übernommen wurden, ist inzwischen zur Genüge herausgearbeitet worden.1 Für unseren Zusammenhang ist indes wichtiger, dass sie in der deutschen Fundamentalkrise unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg keineswegs abbrachen. Vielmehr fand der Topos vom christlichen Abendland nun seine größte Verbreitung, ablesbar unter anderem an der Begründung des Aachener Karlspreises von 1949, der für Verdienste um die „abendländische Einigung in politischer, wirtschaftlicher und geistiger Beziehung“ verliehen werden sollte. „Abendland“ wurde zum Leitwort eines dezidierten Antibolschewismus katholischer Prägung.

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Obwohl die Forschungen zur Ideengeschichte der frühen Bundesrepublik in Gang gekommen sind,2 gibt es für die unterschiedlichen Ansätze - hier Modernisierungsparadigma, dort Restaurationsthese, hier Westernization-Konzept, dort Prosperitätsmodell - noch keine schlüssige Synthese. Zu den vielen Forschungsdesideraten zählen auch die Netzwerke, die neue Einrichtungen knüpften oder die alte unter neuem Namen zu reaktivieren suchten. Was das 1950 in Mainz gegründete Institut für Europäische Geschichte betrifft, aus dessen Geschichte nur die Entstehungsphase einigermaßen befriedigend aufgearbeitet ist,3 so wäre etwa eine Untersuchung seiner Vortragsangebote und frühen Publikationen erfolgversprechend.4 Unter den Referenten, die auf Einladung der Abteilung für Universalgeschichte in den ersten Jahren des Instituts sprachen - also noch vor dem Europa-Kongress -, finden sich Wissenschaftler mit einer leicht „angebräunten“ Vergangenheit (Wilhelm Schüssler, Willy Andreas), aber auch solche, die vor dem NS-Regime ins (westliche) Ausland emigriert waren (Arnold Bergstraesser, Hans Rothfels). Den Willen, eine politische Balance zu halten und das Institut zugleich von dem ihm lange anhängenden Geruch zu befreien, eine „französische“ oder „alliierte“ Einrichtung zu sein, wird man Göhring überhaupt nicht absprechen dürfen;5 ebenso unverkennbar ist allerdings, dass seine Europa-Vorstellung noch deutlich in der Zwischenkriegszeit und den damals entwickelten Abendland-Interpretamenten wurzelte.

Der Kongress vom März 1955, um es zu wiederholen, war ein wissenschaftliches und politisches Großereignis. Er fand auch eine entsprechende Medienresonanz, nicht zuletzt wegen der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten sowie hochrangiger Bundes- und Landespolitiker. Das Erscheinen der Dokumentation war ebenfalls ein Ereignis - zumal in der besonderen Situation des Jahres 1956, im direkten Umfeld der Verhandlungen zur Gründung der EWG, aber auch der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands. In der 1. Sitzung - die Dokumentation verhielt sich spiegelbildlich - referierten der Soziologe Alexander Rüstow und der belgische Historiker Léopold Génicot über Grundlagen der europäischen Einheit, in der 2. der englische Historiker Christopher Dawson und der französische Historiker Charles Morazé über Christentum und Kultur als konstitutive Elemente des Europäertums, in der 3. der Schweizer Physiker Wolfgang Pauli und der Ökonom Ferdinand Friedensburg über Wissenschaft, Wirtschaft und Technik als Formkräfte Europas. Die 4. Sitzung wurde von dem Rechtsphilosophen Franz Wieacker und dem Bundesverfassungsrichter Gerhard Leibholz mit Beiträgen zum europäischen Rechtsbewusstsein und zum demokratischen Denken bestritten, die 5. von Göhring selbst und dem niederländischen Historiker Locher mit Vorträgen zu den europäischen Revolutionen und der Spannung von Nationalstaat und europäischer Ordnung, die 6. von dem Schweizer Historiker Valentin Gitermann und dem ebenfalls aus Zürich angereisten Philosophen Hans Barth über das Thema „Individuum und Kollektiv“ bzw. über die Erziehung zum europäischen Denken. In der 7. Sitzung sprachen unter beziehungsgeschichtlichen Fragestellungen Jacques Droz über französische Historiker, die sich der deutschen Geschichte zu nähern versuchten, und der Schweizer Historiker Max Silberschmidt über die Spannung „Europa - Amerika - Abendland“. Der Kongress, in dessen Ablauf eine Festveranstaltung integriert war, auf der sich der Soziologe und Politikwissenschaftler Bergstraesser zu „Europa als geistige[r] und politische[r] Wirklichkeit“ äußerte, wurde mit einer „Schluss-Sitzung“ beendet, in der noch einmal 15 Teilnehmer das Wort ergriffen. Im Anhang der Dokumentation wurden zwei Beiträge des Deutschamerikaners Hajo Holborn und des belgischen Europahistorikers Hendrik Brugmans abgedruckt, die an dem Symposium nicht hatten teilnehmen können.

Liest man die Referate und die (mitgeschnittenen) Diskussionsmeldungen neu, so gewinnt man den Eindruck, dass nicht alle Referenten zur unbestritten ersten Garde zählten und die Schweiz deutlich überrepräsentiert war. Zudem bestimmte eine Prämisse den Kongress, die Göhring in der Einleitung zu der Dokumentation deutlich ansprach: Die Formierung Europas sei ein geistiger Prozess gewesen, der dazu gedient habe, die „Seele des Abendlandes“ zu suchen, der aber in dem Moment abgebrochen sei, als Europa sich von seinen Bindungen an Religion und Moral zu lösen begann und sich einem ungebremsten Fortschrittsglauben hingab. Diese Krise sei heute noch nicht abgeschlossen, sei aber zumindest als solche erkannt worden. Im Übrigen sei unter „Abendland“ nicht nur das geographische Europa zu verstehen: Europa sei immer schon ein „geistig-kultureller Begriff mit kaum absteckbarer Spannweite“ gewesen und manifestiere sich überall dort, „wo die von ihm geprägten Normen des Denkens und Handelns, wo seine geistige Welt als verbindlich anerkannt wird, wo kirchliche Denk- und Lebensform, interkonfessionelle Kulturgesinnung und Humanität klassischer Art zusammenwirken und zusammenklingen, kurz, wo wahres Menschentum oberstes Ziel ist“ (S. XIX).

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Ob dieser weltweite „Auftrag“ Europas 1955 noch in die politische Landschaft passte, mag auf sich gestellt bleiben. Eine prophetische Gabe, dass das europäische Zeitalter an sein Ende gelangt war oder sich diesem zumindest näherte, kann man den Teilnehmern jedenfalls nicht attestieren. Aber vielleicht sah man in einer Zeit, als die ersten europäischen Formierungsversuche mit dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) kollabiert waren und die Bedrohung aus dem Osten als existenziell eingestuft wurde, nur die Möglichkeit, mit Hilfe des Abendlandbegriffs ein (fernes) politisches Europa geistig vorzubereiten. Denn allein darum ging es: um geistige Aufrüstung in einem katholischen Sinn, nicht um das, was in der Vergangenheit schon vorgedacht und politisch begonnen worden war. Coudenhove-Kalergi, den Begründer der Paneuropa-Bewegung, findet man nur in einem einzigen Diskussionsbeitrag des Kongressbandes erwähnt, Stresemann nach Ausweis des Registers überhaupt nicht! Das Anliegen des Initiators und der Referenten war offenbar nicht die wissenschaftliche Begleitung des (zähen) Europäisierungsprozesses, sondern die Einschwörung auf einen Abendland-Mythos, der schlechthin zum Ziel der Weltgeschichte stilisiert wurde. Von diesem Ansatz hat sich die Geschichtswissenschaft jedoch rasch verabschiedet. Europa wurde, nachdem es im Gefolge der Römischen Verträge 1957 wenigstens in embryonaler Form erstmals ins realpolitische Leben getreten war, auch historiographisch schnell „vernüchtert“.

Es mag eine zufällige Koinzidenz gewesen sein, dass zeitgleich zum Mainzer Europa-Kongress in Augsburg der Lechfeldschlacht gedacht wurde, also eines Ereignisses, das die dem alten Denken verhafteten Organisatoren zu einer der ersten Sternstunden des Abendland-Denkens zu stilisieren suchten.6 Aber im Rückblick wird es klarer als damals: Beide Veranstaltungen waren eine Art Schwanengesang der „Abendländler“. Die europäischen Synthesen, die fast zeitgleich - etwa in England - auf den Markt kamen, waren bereits viel pragmatischer orientiert.7


 

Anmerkungen:

1 Vgl. Dagmar Pöpping, Abendland. Christliche Akademiker und die Utopie der Antimoderne 1900-1945, Berlin 2002.

2 Unter anderem durch Axel Schildt, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre, München 1999.

3 Winfried Schulze/Corine Defrance, Die Gründung des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Mainz 1992. Zum Kontext vgl. auch Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989.

4 Die Daten sind leicht zugänglich über die Dokumentation: Institut für Europäische Geschichte Mainz 1950-2000, Mainz 2000.

5 Zu Göhring, der als ehemaliger Straßburger Dozent ohne vorangegangene glanzvolle Karriere in sein Mainzer Amt gekommen war und sich ein „standing“ im Fach sicher erst mühsam aufbauen musste, vgl. die Nachrufe von Heinz-Otto Sieburg (Historische Zeitschrift 208 [1969], S. 517-519) und Ernst Schulin (Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 22 [1971], S. 65-77).

6 Vgl. Matthias Pape, Lechfeldschlacht und NATO-Beitritt. Das Augsburger „Ulrichsjahr“ 1955 als Ausdruck der christlich-abendländischen Europaidee in der Ära Adenauer, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 94 (2001), S. 269-308.

7 Vgl. etwa Denis Hay, Europe. The Emergence of an Idea, Edinburgh 1957.


 

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