1. Die Desintegration Jugoslawiens
2. Ethnische Radikalisierung und Gewalteskalation
3. „Ethnische Säuberungen“, Vertreibung und Vernichtung
4. Fazit
Der 1990/91 einsetzende Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien führte zum ersten militärischen Konflikt seit Ende des Zweiten Weltkrieges auf europäischem Boden. Gezielte Angriffe auf Zivilisten und „ethnische Säuberungen“ großen Umfangs erschütterten die Weltöffentlichkeit und machten „Bosnien“ zur Metapher des Scheiterns der internationalen Staatengemeinschaft. Gleichzeitig schien dieses Ereignis eine historische Zäsur zu markieren: Anstelle des klassischen Staatenkrieges, der die internationalen Beziehungen nach 1945 prägte und auch die Szenarien des Kalten Krieges dominierte, trat mit Ende des Ost-West-Konflikts ein vermeintlich neuartiges Muster ethnisch-religiös motivierter innerstaatlicher Gewalt in den Vordergrund.1 Im ehemaligen Jugoslawien wurde der Archetyp eines qualitativ veränderten Musters bewaffneter Auseinandersetzungen wahrgenommen, der sich aufgrund seiner Ziele und Motive, vor allem aber hinsichtlich der Kriegsführung und -ökonomie von früheren bewaffneten Konflikten unterschied.2
Etliche bis dahin wenig beachtete Phänomene rückten nun in den Fokus des wissenschaftlichen Interesses der Kriegsforschung:
• die Zunahme innerstaatlicher anstelle zwischenstaatlicher Konflikte;
• die Privatisierung von Gewalt seitens nicht-staatlicher Akteure (durch Staatszerfall ermöglicht und durch sozialen Wandel infolge der Globalisierung begünstigt);
• die Ökonomisierung des Krieges durch „ethnische Unternehmer“ und transnationale kriminelle Netzwerke;
• die sich auflösende Trennung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren, Zivilisten und Kombattanten;
• die Dominanz von ethnischen und religiösen Motiven anstelle ideologischer Konfrontation;
• Flüchtlingskatastrophen großen Ausmaßes;
• gezielte Angriffe auf Zivilisten als Objekt der Kriegsführung („ethnische Säuberungen“, gravierende Menschenrechtsverletzungen).
Da die als „informell“ etikettierten Konflikte auch in anderen Weltregionen zuzunehmen schienen - etwa in Burundi, Sierra Leone, Somalia, Liberia, Kongo, Angola, Tschetschenien und Afghanistan -, wurde vom Ende des traditionellen Staatenkrieges ausgegangen3 oder sogar die „Rückkehr hinter die Anfänge der Verstaatlichung des Kriegswesens“ der Frühen Neuzeit postuliert, vor allem im Vergleich zum Dreißigjährigen Krieg mit seiner typischen Gemengelage aus Werten und Interessen, staatlichen, parastaatlichen und privaten Akteuren.4
Das Konzept des „neuen Krieges“ ist allerdings kontrovers geblieben. Die Differenzierung zwischen alten und aktuellen Konfliktformen wurde als unhistorisch kritisiert, und die angeblichen typologischen Gemeinsamkeiten der Gegenwartskriege wurden in Frage gestellt. Zudem ließ sich die angenommene Zunahme von Bürgerkriegen im Verhältnis zu klassischen Staatenkriegen nicht stichhaltig belegen, und es war auch nicht nachzuweisen, dass sich Formen und Dimensionen der „neuen“ Konflikte von den herkömmlichen substanziell unterschieden - weder auf dem Balkan noch in der post-kolonialen Welt in Afrika (Angola, Mosambik, Kongo, Sudan, Äthiopien, Nigeria/Biafra, Ruanda, Burundi), Asien (Indien, Pakistan, Bangladesch/Sri Lanka, Vietnam, Indonesien, Kambodscha, Laos) und dem Mittleren Osten.5
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In diesem Beitrag wird die These vertreten, dass die als „neuartig“ wahrgenommenen Charakteristika des Jugoslawienkrieges aus der Vermischung interner und zwischenstaatlicher Konfliktdimensionen resultierten, was mit der spezifischen Situation des Staatszerfalls erklärt werden muss. Im Folgenden werden Ursachen des gewaltsamen Zerfalls Jugoslawiens beschrieben (1.) sowie die wesentlichen Konfliktlinien und Ereignisverläufe dargestellt (2.). Schließlich wird den Bedingungen und Motiven der im Zuge der „ethnischen Säuberungen“ geschehenen schweren Menschenrechtsverletzungen nachgegangen (3.).
Jugoslawien 1990
1. Die Desintegration Jugoslawiens
Der Auflösung Jugoslawiens 1990/91 gingen langfristige innenpolitische und sozial-ökonomische Desintegrationsprozesse voraus, die in der Staatskonstruktion strukturell angelegt waren, infolge der weltpolitischen Veränderungen der 1980er-Jahre jedoch erheblich an Schärfe und Dynamik gewannen. Das spannungsreiche und nie abschließend geklärte Verhältnis zwischen Nationalismus und Föderalismus im südslawischen Vielvölkerstaat kann als Hauptquelle einer Vielzahl komplexer Konfliktkonstellationen gewertet werden.6
Der Staat der Serben, Kroaten und Slowenen (seit 1929 Jugoslawien genannt) war 1918 als Ergebnis des Zusammenbruchs der osmanischen und habsburgischen Fremdherrschaft aus extrem disparaten historischen Regionen zusammengefügt worden. Aufgrund seiner im europäischen Kontext beispiellosen ethnisch-religiösen Vielfalt, der divergierenden historisch-politischen Traditionen und Strukturen sowie gravierender sozial-ökonomischer Unterschiede hat er Zeit seines Bestehens an mangelnder innerer Kohäsion und vielschichtigen Verteilungskonflikten gelitten.7
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Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten das jugoslawische Wirtschaftswunder, die aus dem Partisanenmythos geborene kommunistische Ideologie der „Brüderlichkeit und Einigkeit“ (bratstvo i jedinstvo) sowie das hohe internationale Ansehen Titos die tiefgreifenden ethno-politischen und sozial-ökonomischen Strukturprobleme übertüncht, jedoch nie ganz überwinden können. Die soziale Distanz zwischen mehr als 20 Völkern und Volksgruppen, gepaart mit einer deutlich spürbaren ungleichen Verteilung von Lebens- und Partizipationschancen und einem steilen Wohlstandsgefälle, das den Staat von Nordwest nach Südost durchzog, programmierte Verteilungskonflikte und nationalistische Unterströmungen, die die Legitimität des ausgefeilten Modells ethnischer Repräsentation und Machtteilung in der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien permanent in Frage stellten.8 In der politischen und sozialen Diskriminierung der Albaner im Kosovo, die sich 1981 in gewaltsamen Unruhen entlud, manifestierte sich die Unfähigkeit des jugoslawischen Staatswesens, die nationale Frage dauerhaft und einvernehmlich zu lösen.9
Starke desintegrative Kräfte erwuchsen aus dem Wandel der weltpolitischen Lage seit dem Ende des Ost-West-Konflikts. Mit dem Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa stürzten die tragenden Säulen des über ethnische Grenzen hinweg identitätsstiftenden jugoslawischen Staatsverständnisses ein: Völkerfreundschaft, Arbeiterselbstverwaltung und Blockfreiheit - Prinzipien, die den Jugoslawen zwar keine unbegrenzten, verglichen mit den kommunistisch regierten osteuropäischen Staaten aber beispiellose Rechte und Freiheiten beschert hatten. Mit dem Ende des Kalten Krieges wurde das bis dahin international hoch angesehene jugoslawische Modell des „Dritten Weges“ zwischen den Blöcken obsolet. Vor dem Hintergrund einer tiefgreifenden Krise von Staat und Gesellschaft wurden für viele Menschen Sprache, Nation und Religion die wichtigsten Bezugspunkte.10
In den 1980er-Jahren hatten sich zudem die in der Heterogenität Jugoslawiens strukturell angelegten Verteilungskämpfe zwischen reicheren und ärmeren Landesteilen verschärft, als sich das Wachstum verlangsamte und eine schwere Wirtschaftskrise heraufzog. Zwischen 1980 und 1986 stieg das Bruttoinlandsprodukt nur noch um 0,6 Prozent im Jahr; die Realeinkommen lagen 1985 bereits um 27 Prozent niedriger als 1979. Der sozial-ökonomische Niedergang stellte die Jugoslawen auf eine harte Belastungsprobe: Immer weniger Menschen waren bereit, ihren Wohlstand zu teilen, und die wachsenden sozialen Ängste machten die Menschen anfällig für den neuen Nationalismus. Schon zu Beginn der 1980er-Jahre erhielten die immer vorhandenen desintegrativen Strömungen im jugoslawischen Staat starken Auftrieb. Unüberbrückbare konstitutionelle und politische Konflikte zwischen den sechs Teilrepubliken (Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro, Mazedonien) begannen die Bundesgewalten zu paralysieren. Der Ruf nach tiefgreifenden Reformen des politischen Systems erschallte in Slowenien und Kroatien immer lauter. Seit Titos Tod (1980) gab es keine anerkannte Autorität mehr, die den zentrifugalen Kräften hätte Einhalt bieten können.
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Über den Streit um innere Reformen im wirtschaftlichen und politischen System wurde die jugoslawische Regierung Ende des Jahrzehnts handlungsunfähig. Im Januar/Februar 1990 verließen die Vertreter Sloweniens den „Bund der Kommunisten Jugoslawiens“, die jugoslawische Einheitspartei. Rasch begannen die bundesstaatlichen Institutionen zu erodieren, immer mehr Macht wurde auf Republiksebene verlagert, der Föderalstaat zerfiel. Mit Einführung des Mehrparteiensystems in den Teilrepubliken etablierten sich neue Volksparteien, die sich als Interessenvertretung - meist ausschließlich - einer einzigen ethnischen Gruppe gerierten. Die Konkurrenz um die politische Macht wurde so in ethno-politische Rivalität transformiert.11 In Kroatien kam bei den ersten Mehrparteienwahlen die ausgesprochen national argumentierende Kroatische Demokratische Gemeinschaft (HDZ) an die Macht. In Bosnien-Herzegowina eroberten drei ebenfalls exklusiv national ausgerichtete Parteien die Mehrheit im Parlament: die bosniakische SDA, die kroatische HDZ-BiH und die serbische SDS. In Serbien stieg Slobodan Milošević 1987 an die Spitze der Partei auf, indem er die Mobilisierung nationaler Gefühle - vor allem im Kosovo - zur eigenen Machtanmaßung und -stabilisierung instrumentalisierte.12 1989/90 hob das serbische Parlament die Autonomie der nach Eigenstaatlichkeit strebenden Provinz Kosovo auf - ein folgenschwerer Schritt, der die Legitimität Belgrads vollends untergrub. In der serbischen Südprovinz errichtete die albanische Bevölkerungsmehrheit daraufhin einen Schattenstaat; der Weg in den bewaffneten Konflikt war vorgezeichnet.
Der in allen Landesteilen um sich greifende neue Nationalismus resultierte in einer extremen Politisierung ethnischer Gegensätze, paralysierte die gesamtstaatlichen Institutionen und führte zu einer fast vollständigen Segregation der multiethnischen Gesellschaft. Am 25. Juni 1991 erklärten sich Slowenien und Kroatien für unabhängig; internationale Vermittlungsversuche, die Auflösung Jugoslawiens zu verhindern, scheiterten. Als einzige bundesstaatliche Institution blieb 1991 die jugoslawische Volksarmee erhalten. Die Grundstimmung beim Zerfall Jugoslawiens war durch Unsicherheit und negative Erwartungen geprägt, durch die der Krieg zur self-fulfilling prophecy wurde. Eine wachsende Zahl national orientierter Intellektueller, Akademiker und Medien rekurrierte auf die Geschichte des Zweiten Weltkrieges, um für die Unterstützung ethno-politischer Ziele zu werben.13 Beispielsweise wurden lange Serien über vergangene Gräueltaten publiziert und Parallelen zur Gegenwart gezogen. Die in Fernsehen und Hörfunk ausgetragenen Propagandaschlachten dürften nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, Feindbilder zu transportieren, kollektive Angstgefühle zu steigern und moralische Barrieren einzureißen.14
2. Ethnische Radikalisierung und Gewalteskalation
Der Zerfall der bundesstaatlichen Ordnung bildete den Auftakt zu den erschütterndsten Ereignissen der europäischen Nachkriegsgeschichte. Unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung Kroatiens und Sloweniens brachen erste bewaffnete Konflikte zwischen der dortigen Territorialverteidigung und der jugoslawischen Volksarmee aus. Nach und nach erfasste der Krieg alle Teilrepubliken. Kern der Auseinandersetzung war der Streit um das Erbe Jugoslawiens: Welche Nachfolgestaaten sollten an seine Stelle treten? Wie sollte die territoriale Ordnung gestaltet werden, und welche Qualität hatten die bisherigen Republiksgrenzen? Welche Rechte sollten die ehemaligen Staatsnationen und Minderheiten Jugoslawiens in den Nachfolgestaaten verfassungsgemäß erhalten?
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Da die politischen Grenzen nirgendwo auf dem Balkan mit den ethnischen, sprachlichen und kulturellen Gegebenheiten voll übereinstimmen, aktualisierte der Zerfall Jugoslawiens die großen nationalen und territorialen Fragen, die die politische Geschichte der südslawischen Länder seit dem 19. Jahrhundert geprägt hatten und die erst durch die Versailler Nachkriegsordnung eine völkerrechtlich gültige Antwort gefunden hatten.15 Die in der Habsburgermonarchie und im Osmanischen Reich virulente „südslawische Frage“ war 1918 durch die Gründung des gemeinsamen Staates der Serben, Kroaten und Slowenen beantwortet worden - zuungunsten des alternativen Projektes exklusiver Nationalstaaten. Sowohl im zentralistisch regierten Jugoslawien der Zwischenkriegszeit als auch der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien nach 1945 standen Konflikte um die verfassungspolitische Ordnung im Raum.16
Für den Fortbestand eines gemeinsamen jugoslawischen Staates sprach die großflächige und eng miteinander verzahnte siedlungsgeographische Verteilung der südslawischen Völker. Jedweder Zuschnitt ethnisch definierter Nationalstaaten hätte heterogene Staatsgebilde kreiert bzw. bedeutende Siedlungsgebiete der einzelnen Ethnien ausgeklammert. Beispielsweise lebten außerhalb der zehn Millionen Einwohner zählenden Teilrepublik Serbien in den 1990er-Jahren weitere zwei Millionen Serben in Kroatien und Bosnien-Herzegowina. Für viele Serben hat es daher immer nur zwei alternative Staatsprojekte gegeben: entweder ein gemeinsamer jugoslawischer Staat, in dem verschiedene südslawische Völker zusammenlebten, oder ein exklusiver (groß)serbischer Nationalstaat, der die von Serben besiedelten Territorien in anderen historischen Landesteilen umfasste. Durch die Gründung Jugoslawiens waren nach dem Ersten und erneut nach dem Zweiten Weltkrieg die wichtigsten Siedlungsgebiete der Serben politisch vereinigt worden.
National orientierte kroatische Serben riefen nach der Unabhängigkeitserklärung Zagrebs deshalb ein autonomes Gebiet und später eine unabhängige Serbenrepublik in der Krajina aus. Offiziell hieß es, dass das serbische Volk in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina weiterhin zu Jugoslawien gehören wolle, zusammen mit den Serben in Serbien und Montenegro. Die Serben haben den jugoslawischen Krieg folglich nie als Aggressionskrieg definiert, sondern als Kampf um ihren Verbleib in einem gemeinsamen Staat.17
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Die rasche Gewalteskalation im ehemaligen Jugoslawien traf die Staatengemeinschaft unvorbereitet. Denn das Ende des Ost-West-Konflikts hatte die geostrategische Bedeutung Südosteuropas und damit auch das Interesse des Westens an dieser Region gegenüber der Zeit des Kalten Krieges deutlich reduziert. Der sich Mitte 1991 zusammenbrauende Krieg im ehemaligen Jugoslawien stellte keine klassische militärische Sicherheitsbedrohung dar und stand deshalb nicht sehr weit oben auf der internationalen Agenda. Die Europäische Politische Zusammenarbeit war mit scheinbar dringlicheren Aufgaben beschäftigt, wie etwa der Vorbereitung von Maastricht, der Golf-Krise und den Folgen der Auflösung der Sowjetunion.18 Zudem war bei Ausbruch der Jugoslawienkrise das Instrumentarium internationaler Friedenssicherung (von präventiver Diplomatie über Krisenmanagement bis zum Peacekeeping) erst schwach entwickelt. Schließlich stellten die Unabhängigkeitserklärung der Teilrepubliken und der daraufhin ausbrechende Krieg die Staatengemeinschaft vor Deutungsprobleme von weitreichender völkerrechtlicher Bedeutung: Wie sollte das international anerkannte Selbstbestimmungsrecht der Völker interpretiert werden? Rechtfertigte dieses die Revision der innerjugoslawischen Republiksgrenzen? Handelte es sich um einen inneren oder einen zwischenstaatlichen Konflikt?
Auf deutschen Druck beschlossen die europäischen Außenminister, die abtrünnigen Teilrepubliken gemäß ihrem eigenen Wunsch bis 15. Januar 1992 als unabhängige und souveräne Staaten anzuerkennen, sofern sie die Menschen- und Minderheitenrechte garantierten, die bestehenden Grenzen respektierten und demokratische Prinzipien einführten. Bonn war im Gegensatz zu zahlreichen anderen internationalen Akteuren zu der Auffassung gelangt, dass der Bundesstaat Jugoslawien faktisch in seine Bestandteile zerfallen sei, weshalb Slowenien und Kroatien das Selbstbestimmungsrecht nicht verweigert werden dürfe.19 Zu diesem Zeitpunkt hatten serbische bewaffnete Verbände bereits rund ein Drittel Kroatiens in die „Serbische Republik Krajina“ integriert; Hunderttausende Nichtserben waren vertrieben worden. Im Januar 1992 kam es zum Waffenstillstand, und die UNO rückte mit Friedenstruppen in die von Serben kontrollierten Gebiete ein. Im Frühjahr und Sommer 1995 vertrieb die kroatische Armee in einer militärischen Blitzaktion jedoch mehr als 300.000 Serben aus Kroatien, worauf der serbische Para-Staat zusammenbrach.
Anders als von den deutschen Diplomaten erhofft, führte die Internationalisierung der Jugoslawienkrise nicht zur Befriedung. In Bosnien-Herzegowina, wo sich Bosniaken (Muslime), Serben und Kroaten traditionell die Macht geteilt hatten, brachen unmittelbar nach der internationalen Anerkennung (6. April 1992) heftige Kämpfe aus.20 Innerhalb der Republik wiederholten sich die Prozesse, die zuvor die Implosion des jugoslawischen Bundesstaates bewirkt hatten; die neue Republik zerfiel in ethnisch definierte Parteien, Institutionen und bewaffnete Verbände: Die bosnischen Serben riefen die Unabhängigkeit der „Serbischen Republik Bosnien-Herzegowina“ aus, die Kroaten erklärten das autonome Gebiet „Herceg Bosna“ zum Staat. Nur aufseiten der Muslime, die ja außerhalb Bosniens keine Mutternation besaßen, war unumstritten, dass die Republik in ihren bestehenden Grenzen als Staat erhalten bleiben müsse. Uneinigkeit herrschte allerdings darüber, ob ein kleines Jugoslawien, ein muslimisch dominierter Nationalstaat oder eine islamische Republik angestrebt werden sollte.
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Im Frühjahr und Sommer 1992 eroberten serbische bewaffnete Verbände binnen weniger Monate rund 70 Prozent des bosnischen Territoriums; die nichtserbische Bevölkerung wurde aus der Serbischen Republik vertrieben. Anfänglich kämpften bosniakische und kroatische Streitkräfte gemeinsam gegen die von der Jugoslawischen Volksarmee unterstützten Serben. Nach Proklamation des Kroaten-Staates Herceg Bosna zerfiel jedoch die Militärallianz; Anfang 1993 brach der so genannte „Zweite Krieg“ zwischen den ehemaligen Verbündeten aus, der erst Mitte 1994 durch internationale Vermittlung beigelegt wurde.
In Bosnien-Herzegowina standen sich wie in einem klassischen Bürgerkrieg bewaffnete Verbände und paramilitärische Gruppen der dort beheimateten Völkerschaften gegenüber. Obwohl Belgrad und Zagreb der Republik Bosnien-Herzegowina nie offiziell den Krieg erklärt hatten, leisteten sie ihren Konnationalen massive politische, finanzielle und militärische Unterstützung, weshalb sich auch Elemente eines internationalen bewaffneten Konfliktes erkennen lassen - zumal nach der völkerrechtlichen Anerkennung der jugoslawischen Teilrepubliken als unabhängige Staaten. Faktisch handelte es sich um eine Mischform aus Bürger- und Staatenkrieg.
Neben den regulären Streitkräften der Konfliktparteien kämpften zahlreiche paramilitärische und andere bewaffnete Gruppen, was die Grenze zwischen Kombattanten und Zivilisten verwischte. Dies erklärt sich unter anderem aus der militärpolitischen Geschichte Jugoslawiens, wo nach der sowjetischen Invasion in die Tschechoslowakei 1968 die Doktrin der „Allgemeinen Volksverteidigung“ entwickelt wurde, die wie im Partisanenkampf eine breite Einbeziehung von Zivilisten in die Landesverteidigung vorsah. Jeder männliche Staatsbürger war ausgebildeter Soldat, die Republiken waren mit dezentralen Waffenlagern überzogen, in vielen Haushalten war Selbstschutz eine Selbstverständlichkeit.
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Bereits in der Frühphase des Krieges kam es zu einer Multiplizierung der paramilitärischen Akteure. Die Experten der UNO erfassten 1994 mindestens 83 irreguläre Verbände.21 Aber nur eine Minderheit der War-Lords agierte unabhängig von den regulären Armeen der Kriegsparteien; die Mehrzahl unterhielt direkte Verbindungen in die Militärstäbe ihrer Verbündeten oder unterstand sogar direkt der jeweiligen Armeeführung.22
Die Unübersichtlichkeit der Akteure hat die politische Ökonomie des Krieges in den Blick der Forschung gerückt und die These inspiriert, dass wirtschaftliche Interessen und Gier (greed), nicht Missstände (grievance), zentrale Konfliktmotive darstellten.23 In der Tat gingen kriegerische Gewalt und organisierte Kriminalität häufig ineinander über, zumal vom akuten Machtverfall des Staates nicht nur die klassischen militärischen Akteure profitierten, sondern auch eine neue Schicht „ethnischer Unternehmer“, vordem marginalisierte Personen, die ihre Macht aus dem Zugang zu kriegsrelevanten Ressourcen schöpften und insbesondere auf lokaler Ebene zentrale Führungspositionen übernahmen.24 Häufig in mafiöse und andere kriminelle Aktivitäten verwickelt, verfügten diese Gewaltunternehmer über Netzwerke, die ihnen den Zugriff auf Geld und Waffen ermöglichten. Nach wenigen Kriegsmonaten kontrollierten sie einen erheblichen Teil des Landes, wobei die „Gewaltmärkte“ als sozialer Aufstiegskanal und reiche Einkommensquelle fungierten.25 Aber auch hier gilt, dass sich nur wenige ethnische Unternehmer völlig von den Kriegszielen der staatlichen Hauptakteure distanzierten, wie zum Beispiel der Tycoon Fikret Abdić, der in der bosnischen Kleinstadt Velika Kladuša ein autonomes Gebiet ausrief und durch Waffengeschäfte mit verschiedenen Kriegsparteien reich wurde.
Erst dreieinhalb Jahre nach seinem Beginn konnte der Bosnien-Krieg durch Intervention der NATO mit dem Abkommen von Dayton (21. November 1995) beendet werden; die Hauptprotagonisten verpflichteten sich auf eine neue regionale Friedensordnung.26 Aber wenn die Staatengemeinschaft davon ausging, der jugoslawische Sukzessionskrieg sei hiermit beigelegt worden, wurde sie bald eines Schlechteren belehrt. Der gefährlichste Krisenherd, Kosovo, blieb bei den Verhandlungen für eine neue Friedensordnung ausgeklammert. Dabei hatten sich zu Beginn der 1990er-Jahre auch in der rechtlich zu Serbien gehörenden autonomen Provinz, die zu 90 Prozent von ethnischen Albanern besiedelt war, Unabhängigkeitswünsche artikuliert.27 Nachdem das serbische Parlament 1989/90 die Autonomie Kosovos stark beschnitten hatte, boykottierten die Kosovaren alle jugoslawischen Institutionen. Sie errichteten einen albanischen Parallelstaat und stimmten im September 1991 bei einem Referendum für den „souveränen und unabhängigen Staat Kosovo“.
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Vor dem Hintergrund einer gravierenden Missachtung der Menschenrechte und einer sich verschärfenden sozialökonomischen Krise trat 1996 die Untergrundorganisation „Kosovo-Befreiungsarmee“ (UCK) in Erscheinung, die im bewaffneten Kampf die Unabhängigkeit der Provinz durchsetzen wollte. Belgrad ging seit 1997 mit Sonderpolizei und Armee massiv gegen die Rebellen vor; der seit Jahren schwelende Konflikt eskalierte im März 1998 zum Krieg. Nach dem Scheitern internationaler Vermittlungsbemühungen im französischen Rambouillet begann die NATO am 24. März 1999 einen Luftkrieg gegen militärische Einrichtungen, Infrastruktur und Industrieanlagen in der Bundesrepublik Jugoslawien. Gleichzeitig entwickelte sich eine der größten Flüchtlingsbewegungen der europäischen Nachkriegsgeschichte: Rund 800.000 Menschen flohen oder wurden aus dem Kosovo vertrieben. Erst drei Monate später, am 3. Juni 1999, lenkte Belgrad ein und stimmte dem Vorschlag der Staatengemeinschaft zu, Kosovo in ein internationales Protektorat zu verwandeln. Der endgültige völkerrechtliche Status blieb ungeklärt.28
3. „Ethnische Säuberungen“, Vertreibung und Vernichtung
Der jugoslawische Sukzessionskrieg gilt vor allem aufgrund der gravierenden Menschenrechtsverletzungen als paradigmatisch für den angenommenen Gestaltwandel des „neuen Krieges“. Rund 200.000 Menschen wurden getötet, Städte und Kulturdenkmäler systematisch zerstört. Obwohl die Zahl der Opfer in anderen Bürgerkriegen weit höher lag als auf dem Balkan, gruben sich die dort entstandenen Bilder von Gefangenenlagern, Flüchtlingstrecks und Massengräbern besonders tief in das öffentliche Bewusstsein ein.29 Es war der bosnische Krieg, der in den frühen 1990er-Jahren den Euphemismus „ethnische Säuberungen“ prägte, eine wörtliche Übersetzung aus den slawischen Sprachen (etničko čišćenje).30 Als „ethnische Säuberungen“ definierte die Expertenkommission der UNO eine „vorsätzliche Politik, die von einer ethnischen oder religiösen Gruppe verfolgt wird, um die Zivilbevölkerung einer anderen ethnischen oder religiösen Gruppe durch gewaltsame und terroristische Mittel aus bestimmten geographischen Gebieten zu entfernen“.31
Die „ethnischen Säuberungen“ im Zuge des Zerfalls Jugoslawiens stehen im Kontext eines säkularen Prozesses massenhafter Bevölkerungsverschiebungen seit Beginn des 19. Jahrhunderts, die mit der Gründung der christlichen Nationalstaaten aus der Erbmasse des multi-ethnischen und multi-religiösen Osmanischen Reiches einhergingen. Beginnend mit den serbischen Aufständen 1804 und 1815 sowie dem griechischen Befreiungskrieg 1821 bis 1829 sind bis heute schätzungsweise zehn bis zwölf Millionen Menschen gewaltsam aus ihren angestammten Siedlungsgebieten auf dem Balkan verdrängt worden.32 In den jugoslawischen Nachfolgekriegen waren von 1991 bis heute fast vier Millionen Menschen betroffen.
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Die Vorstellung, dass Völker mit bestimmten Territorien identifizierbar seien bzw. die Angehörigen derselben ethnischen Gemeinschaft in möglichst homogenen Nationalstaaten zusammengefasst werden müssten, basiert auf einem Verständnis der Nation als Kultur- und Abstammungsgemeinschaft.33 In Südosteuropa fehlte aufgrund der jahrhundertelangen Fremdherrschaft die historische Grundlage für ein überethnisches politisches Nationskonzept, das auf staatlichen Traditionen, Werten und Institutionen statt auf Sprache und Religion beruht.34 Die Idee vom ethnisch homogenen Nationalstaat wurde seit dem frühen 19. Jahrhundert immer dann geschichtsmächtig, wenn der Zerfall von Großreichen und Vielvölkerstaaten politische Ordnungen und Grenzen zur Disposition stellte.35
Im Zuge der ethnischen Homogenisierung sollten Bevölkerungsgruppen entfernt werden, die das Projekt ethnisch homogener Nationalstaaten allein durch ihre Anwesenheit konterkarierten; ihre natürlichen Lebensgrundlagen sollten zerstört werden. Verbreitet waren symbolische Akte der Grausamkeit, bei denen bestimmte kulturell spezifische und aus der Geschichte bekannte Muster der Verstümmelung und Tötung angewandt wurden.36 Alle Hinterlassenschaften sollten verschwinden, darunter besonders kulturelle und religiöse Bauwerke, die ethnische Identität verkörpern, aber auch traditionelle Kultur- und Kommunikationsräume wie die historische Innenstadt Sarajewos. Serbische bewaffnete Verbände haben in Bosnien-Herzegowina ohne jede militärische Notwendigkeit systematisch islamisches und katholisches Kulturerbe vernichtet oder schwer beschädigt. Im Kosovo brannten albanische Extremisten nach 1999 serbisch-orthodoxe Kirchen und Klöster nieder.
Die Unfähigkeit der Staatengemeinschaft, die schweren Menschenrechtsverletzungen aufzuhalten, wirkte bei der politischen Klasse als Weckruf. Nach und nach wurde der Krieg im ehemaligen Jugoslawien zum Katalysator neuer friedenspolitischer Instrumentarien. Die Europäische Union entwickelte und testete auf dem Balkan ihre Gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik; die Vereinten Nationen transformierten ihr traditionelles Peacekeeping in neue, auf langfristigen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Wandel ausgerichtete Nation-building-Missionen.37
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Auch auf die deutsche Politik hat die Jugoslawien-Krise eine katalytische Wirkung gehabt, die zur Überwindung außen- und sicherheitspolitischer Restriktionen führte.38 Durch die gravierenden Menschenrechtsverletzungen auf dem Balkan, vor allem das Massaker von Srebrenica im Sommer 1995, verfestigte sich der Entschluss, Deutschland in die Lage zu versetzen, voll und gleichberechtigt an friedensschaffenden und -sichernden Militäreinsätzen der NATO „out of area“ teilzunehmen. Der Jugoslawienkrieg veranlasste die Abkehr vom „deutschen Sonderweg“ einschließlich der Rehabilitierung militärischer Gewalt als außenpolitischem Instrument. Deutschland wuchs durch die Beteiligung der Bundeswehr an den Einsätzen der Allianz in Bosnien 1995 und im Kosovo 1999 zum gleichberechtigten Partner auf dem Gebiet der internationalen Friedenssicherung heran.
Nicht zuletzt gaben die gravierenden Menschenrechtsverletzungen in Ex-Jugoslawien den Ausschlag für die Ausformung der internationalen Strafgerichtsbarkeit. Im Mai 1993 beschloss die UNO, in Den Haag einen Strafgerichtshof zur Ahndung der Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien zu schaffen, die erste internationale Strafinstanz seit den Nürnberger Prozessen. Durch die Recherchen dieses Internationalen Strafgerichtshofes ist heute nachgewiesen, dass politische und militärische Akteure „ethnische Säuberungen“ vorsätzlich und planmäßig durchführten. Hierauf deuten nicht nur der regionale Zusammenhang, sondern auch typische Gewaltmuster hin. Und fast immer waren militärische Verbände und paramilitärische Gruppen an den Vertreibungs- und Vernichtungsaktionen beteiligt.39 Die gewaltsame „Entmischung“ ethnisch heterogener Räume geschah also weder spontan noch war sie Resultat ethnisch-kultureller Inkompatibilitäten.
Ob und inwieweit die gravierenden Menschenrechtsverletzungen im ehemaligen Jugoslawien in genozidale Politik einmündeten, ist in der Forschung umstritten. Denn der Nachweis der Vernichtungsabsicht fällt in Kriegs- oder Bürgerkriegssituationen nicht leicht. So ist auch für das zerfallende Jugoslawien behauptet worden, dass der „Bevölkerungstransfer“ primär eine Begleiterscheinung verspäteter Nationsbildungsprozesse gewesen sei - ohne die Intention des Genozids.40 Mit Helen Fein lassen sich jedoch auch in Kriegssituationen Kriterien zur Entdeckung genozidaler Ereignisse identifizieren: Finden kontinuierlich Angriffe auf Mitglieder der Opfergruppe statt, um diese physisch zu vernichten? Handeln die Täter kollektiv, in organisierter Form oder auf Befehl einer übergeordneten Autorität? Werden die Opfer aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer identifizierbaren Gruppe ausgewählt? Sind die Opfer wehrlos oder haben sich ergeben? Lässt sich neben der Vertreibungs- auch eine Tötungsabsicht erkennen?41
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Während der „ethnischen Säuberungen“ im ehemaligen Jugoslawien waren die Übergänge von Deportation, Vertreibung und Genozid fließend.42 Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien unterscheidet drei Straftatbestände: Kriegsverbrechen an Kombattanten, Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegenüber Zivilisten sowie Völkermord. Im letzten Fall muss der Vorsatz nachgewiesen sein, „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“.43 Nicht alle im Kontext der „ethnischen Säuberungen“ begangenen Verbrechen gelten deshalb als Genozid.
Das Jugoslawien-Tribunal hat gegen die Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadžić und Ratko Mladić, wegen der „ethnischen Säuberungen“ von 1992 und 1993 in Bosnien-Herzegowina Völkermordanklage erhoben. Der Vorwurf lautet, sie hätten die teilweise Zerstörung der Bosniaken als Gruppe vorsätzlich geplant, vorbereitet und angeordnet. Besonders betroffen waren die Gebiete um Kljuć, Kotor Varoš, Prijedor, Sanski Most und die UNO-Schutzzone Srebrenica, die serbische Truppen im Juli 1995 überrannten und dabei Tausende Bosniaken ermordeten.44 Die meisten anderen Anklagen, darunter auch die gegen den früheren serbischen Präsidenten Slobodan Milošević und vier jugoslawische Generäle wegen der Vertreibung von rund 800.000 Albanern aus Kosovo im Frühjahr 1999, lauten dagegen auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verstöße gegen das in den Genfer Konventionen niedergelegte Kriegsvölkerrecht.45 Die Anklagebehörde des Jugoslawientribunals folgert, dass es nicht Absicht gewesen sei, die Bosniaken als Gruppe vollständig und flächendeckend auszulöschen. Jedoch artete die Verfolgung in bestimmten regionalen Kontexten auch in Genozid aus. So seien die Deportationen und Massenexekutionen im Umfeld der Eroberung Srebrenicas unzweifelhaft in genozidaler Absicht geplant, angeordnet und durchgeführt worden.46
Der jugoslawische Sukzessionskrieg kann weder hinsichtlich Ursachen und Motiven noch in Bezug auf seine Gestaltmerkmale als „neuartig“ bezeichnet werden. Er steht im Kontext eines säkularen Nations- und Staatsbildungsprozesses, der im 19. Jahrhundert mit dem Zusammenbruch der Fremdherrschaft über den Balkan begann und der in periodischer Folge zu bewaffneten Konflikten und „ethnischen Säuberungen“ führte, zuletzt im Kontext des Zerfalls der multiethnischen Bundesrepublik Jugoslawien.
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Entsprechend finden auch Motive, Instrumente und Ausdrucksformen des jugoslawischen Sukzessionskrieges historische Parallelen: Bereits während der Balkankriege 1912/13 und im Zweiten Weltkrieg waren gezielte und massenhafte Angriffe auf Zivilisten, ethnische Vertreibungen, das Neben- und Gegeneinander regulärer Armeen und privatisierter Gewalt sowie die Vermischung von Kombattanten und Zivilisten gang und gäbe. Es mag die hohe Medialisierung dieses ersten bewaffneten Konflikts auf europäischem Boden nach 1945 gewesen sein, die die Merkmale „informeller“ Kriegsführung stärker in das Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit rückte. Analysten, Öffentlichkeit und politische Klasse traf die Eskalation der Gewalt im ehemaligen Jugoslawien unvorbereitet. Nicht die Gestalt des Krieges an sich war jedoch neu, sondern die Art, wie dieser von außen wahrgenommen und später interpretiert wurde.
Der geschärfte Blick für die globalen Phänomene von Staatszerfall und „neuen Kriegen“ wirft gleichwohl weiterreichende analytische Fragen hinsichtlich der Entwicklung des internationalen Systems auf.47 Markiert die Desintegration von Staaten als globales Phänomen womöglich den Beginn einer historischen Epoche, in der moderne Staaten nicht mehr das vorherrschende politische Ordnungsmodell darstellen? Oder handelt es sich dabei um eine transitorische, durch Interventionen zu behebende Anomalie im modernen internationalen System, sodass der Staat die universelle Form der politischen Verfasstheit bliebe? Die Debatte um die „neuen Kriege“ hat zweifellos dazu beigetragen, fruchtbare Fragestellungen zu formulieren und den Blick für Strukturmerkmale und Dynamiken innerer Gewaltkonflikte zu schärfen, vor allem in Hinblick auf ihre sozialen und ökonomischen Triebkräfte. Eine hinreichende Erklärung für die unerwartet heftigen Gewaltausbrüche im ehemaligen Jugoslawien und anderen Weltgegenden liefert sie jedoch nicht.
1 Vgl. Donald M. Snow, Uncivil Wars: International Security and the New Internal Conflicts, Boulder 1996.
2 Vgl. Martin van Creveld, Die Zukunft des Krieges, München 1998; Mary Kaldor, New and Old Wars. Organized Violence in a Global Era, Stanford 1999; Christopher Daase, Kleine Kriege - große Wirkung. Wie unkonventionelle Kriegführung die internationale Politik verändert, Baden-Baden 1999; Mark Duffield, Global Governance and the New Wars: The Merging of Development and Security, London 2001; Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek bei Hamburg 2002; Monika Heupel/Bernhard Zangl, Die empirische Realität des „neuen Krieges“, Institut für Interkulturelle und Internationale Studien, Arbeitspapier Nr. 27, Bremen 2003; Jeremy Black, War and the new disorder in the 21st century, New York 2004; Jonathan Fox, Religion, civilization, and civil war. 1945 through the new millennium, Lanham 2004.
3 Kaldor, New and Old wars (Anm. 2), S. 16.
4 Münkler, Die neuen Kriege (Anm. 2), S. 9f.
5 Zusammenfassend: Edward Newman, The ‚New Wars’ Debate: A Historical Perspective Is Needed, in: Security Dialogue 35 (2004), S. 173-189, hier S. 179ff.; Martin Kahl/Ulrich Teusch, Sind die „neuen Kriege“ wirklich neu?, in: Leviathan 32 (2004), S. 382-401; Sven Chojnacki, Wandel der Kriegsformen? Ein kritischer Literaturbericht, in: ebd., S. 402-424.
6 Vgl. hierzu u.a. Holm Sundhaussen, Experiment Jugoslawien. Von der Staatsgründung bis zum Staatszerfall, Mannheim 1993; Lenard Cohen, Broken Bonds: The Disintegration of Yugoslavia, Boulder 1993.
7 Seit 1991/92 nehmen die Publikationen zu Ex-Jugoslawien exponentiell zu - im Folgenden lediglich eine knappe Auswahl: Misha Glenny, The Fall of Yugoslavia. The Third Balkan War, London 1992; James Gow, Legitimacy and the Military: The Yugoslav Crisis, London 1992; Mark Almond, Europe’s Backyard War. The War in the Balkans, London 1994; Susan L. Woodward, Balkan Tragedy. Chaos and Dissolution after the Cold War, Washington D.C. 1995; Christopher Bennett, Yugoslavia’s Bloody Collapse. Causes, Course and Consequences, New York 1997; Laura Silber/Alan Little, Yugoslavia. Death of a Nation, London 1997; Viktor Meier, Wie Jugoslawien verspielt wurde, 3. durchgesehene u. aktualisierte Aufl. München 1999; Dunja Melčić (Hg.), Der Jugoslawien-Krieg. Handbuch zu Vorgeschichte, Verlauf und Konsequenzen, Opladen 1999; Sabrina P. Ramet, Balkan Babel. The Disintegration of Yugoslavia from the Death of Tito to the Fall of Milošević, 4. Aufl. Boulder 2002; Dejan Jović, Jugoslavija. Država koja je odumrla [Jugoslawien - der abgestorbene Staat], Zagreb 2003.
8 Vgl. ausführlich Marie-Janine Calic, Krieg und Frieden in Bosnien-Hercegovina, Frankfurt a.M. 1996, S. 42ff.
9 Aus einer umfangreichen Literatur vgl. Julie A. Mertus, Kosovo. How Myths and Truths started a War, Berkeley 1999, S. 17ff.; Noel Malcolm, Kosovo. A Short History, London 1998, S. 334ff.
10 Vgl. Woodward, Balkan tragedy (Anm. 7), S. 82ff.
11 Vgl. Vladimir Goati, The Political Life of Bosnia and Herzegovina, in: Josep Palau/Raha Kumar (Hg.), Ex-Yugoslavia: From War to Peace, Valencia 1993, S. 227-238.
12 Vgl. Robert Thomas, Serbia und Milosevic. Politics in the 1990s, London 1999; Tim Judah, The Serbs: History, Myth and the Destruction of Yugoslavia, New Haven 2000; Lenard J. Cohen, Serpent in the Bosom: The Rise and Fall of Slobodan Milosevic, Boulder 2002.
13 Vgl. Norman M. Naimark/Holly Case, Yugoslavia and its Historians. Understanding the Balkan Wars of the 1990s, Stanford 2003; Robert M. Hayden, Recounting the Dead. The Rediscovery and Redefinition of Wartime Massacres in Late- and Post-Communist Yugoslavia, in: Rubie S. Watson (Hg.), Memory, History, and Opposition under State Socialism, Santa Fe 1994, S. 167-184.
14 Vgl. Mark Thompson, Forging of war. The media in Serbia, Croatia and Bosnia and Herzegovina, Luton 1999; James Gow/Richard Paterson/Alison Preston, Bosnia by Television, London 1996; Mira Beham, Kriegstrommeln. Medien, Krieg und Politik, München 1996; Dušan Reljić, Killing Screens. Medien in Zeiten von Konflikten, Düsseldorf 1998.
15 Vgl. Magarditsch Hatschikjan, Die „großen Fragen“ in Südosteuropa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 51 (2001) H. 13-14, S. 17-26.
16 Vgl. Stevan K. Pavlovitch, The Improbable Survivor: Yugoslavia and its Problems, 1918-1988, London 1988; Ivo Banac, The National Question in Yugoslavia: Origins, History, Politics, London 1984; Denison I. Rusinow, The Yugoslav Experiment 1948-1974, Berkeley 1977.
17 So etwa dokumentiert in der Entscheidung der Versammlung des Serbischen Volkes in Bosnien-Herzegowina, gez. Momčilo Krajišnik, Nr. 36-02/91, 21.11.1991.
18 Vgl. Hansjörg Eiff, Zehn Jahre deutsches Konfliktmanagement im früheren Jugoslawien - Erfahrungen und Einsichten, in: Rafael Biermann (Hg.), Deutsche Konfliktbewältigung auf dem Balkan. Erfahrungen und Lehren aus dem Einsatz, Baden-Baden 2002, S. 153-172.
19 Vgl. Michael Libal, Limits of Persuasion. Germany and the Yugoslav Crisis, 1991-1992, Westport 1997.
20 Vgl. Xavier Bougarel, Bosnie. Anatomie d’un conflit, Paris 1996.
21 Final Report of the Commission of Experts established pursuant to Security Council Resolution 780 (1992), S/1994/674, 27.5.1994, Annex IIIA: Special Forces, S. 11.
22 Vgl. ausführlich Calic, Krieg und Frieden (Anm. 8), S. 102ff.
23 Vgl. Paul Collier/Anke Hoeffner, Greed and Grievance in Civil War, World Bank Paper, Oktober 2001; Mats Berdal/David M. Malone (Hg.), Greed and Grievance: Economic Agendas in Civil Wars, Boulder 2000; Paul Collier, Economic Causes of Civil Conflict and their Implications for Policy, World Bank Paper, 2000; Dietrich Jung (Hg.), Shadow Globalization, Ethnic Conflicts and New Wars: A Political Economy of Intra-State War, London 2003; François Jean/Jean-Christophe Rufin, Économie des guerres civiles, Paris 1996; David Keen, The Economic Functions of Violence in Civil Wars, International Institute for Strategic Studies, Adelphi Paper 320, London 1998; Werner Ruf (Hg.), Politische Ökonomie der Gewalt. Staatszerfall und die Privatisierung von Gewalt und Krieg, Opladen 2003; Michael Ehrke, Zur politischen Ökonomie post-nationalstaatlicher Konflikte, in: Internationale Politik und Gesellschaft 3/2002, S. 135-163.
24 Vgl. Xavier Bougarel, L’économie du conflit bosniaque: entre prédation et production, in: Jean/ Rufin, Économie (Anm. 23), S. 233-268; Michael Ehrke, Bosnien: Zur politischen Ökonomie erzwungenen Friedens, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn 2003.
25 Vgl. Espen Barth Eide, ‚Conflict Entrepreneurship’: On the ‚Art’ of Waging Civil War, in: Anthony McDermott (Hg.), Humanitarian Force, Oslo 1997, S. 41-69; Georg Elwert, Gewaltmärkte. Beobachtungen zur Zweckrationalität von Gewalt, in: Trutz vonTrotha (Hg.), Soziologie der Gewalt, Opladen 1997, S. 86-101.
26 Zur Vorgeschichte vgl. Daniel Eisermann, Der lange Weg nach Dayton. Die westliche Politik und der Krieg im ehemaligen Jugoslawien 1991 bis 1995, Baden-Baden 2000; Carsten Giersch, Konfliktregulierung in Jugoslawien 1991-1995. Die Rolle von OSZE, EU, UNO und NATO, Baden-Baden 1998; James Gow, Triumph of the Lack of Will. International Diplomacy and the Yugoslav War, New York 1997. Zur Kritik der Post-Dayton-Ordnung vgl. Sumantra Bose, Bosnia after Dayton: Nationalist Partition and International Intervention, London 2002; David Chandler, Bosnia: Faking Democracy After Dayton, London 1999; Wolfgang Petritsch, Bosnien und Herzegowina 5 Jahre nach Dayton. Hat der Friede noch eine Chance?, 2., bearb. Aufl. Klagenfurt 2001.
27 Vgl. Stefan Troebst, Chronologie einer gescheiterten Prävention. Vom Konflikt zum Krieg im Kosovo, 1989-1999, in: Osteuropa 49 (1999), S. 777-795.
28 Vgl. Marie-Janine Calic, Kosovo 2004, in: Südosteuropa 52 (2003), S. 341-354.
29 In Angola, Äthiopien, Mosambik, Ruanda, Somalia, Sudan und Uganda lagen die Opferzahlen jeweils zwischen 500.000 und 1.000.000. Vgl. Errol A. Henderson/J. David Singer, Civil War in the Post-Colonial World, 1946-1992, in: Journal of Peace Research 37 (2000), S. 275-299.
30 Vgl. Drazen Petrovic, Ethnic Cleansing - An Attempt at Methodology, in: European Journal of International Law 5 (1994) H. 3, S. 1-19.
31 Final Report (Anm. 21), S. 33.
32 Vgl. Holm Sundhaussen, Bevölkerungsverschiebungen in Südosteuropa seit der Nationalstaatswerdung (19./20. Jahrhundert), in: Comparativ 6 (1996) H. 1, S. 25-40.
33 Vgl. Andrew Bell-Fialkoff, A Brief History of Ethnic Cleansing, in: Foreign Affairs 72 (1993) H. 3, S. 110-121; ders., Ethnic Cleansing, New York 1996.
34 Vgl. Holm Sundhaussen, Nation und Nationalstaat auf dem Balkan. Konzepte und Konsequenzen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Jürgen Elvert (Hg.), Der Balkan. Eine europäische Krisenregion in Geschichte und Gegenwart, Stuttgart 1997, S. 77-90; ders., Staatsbildung und ethnisch-nationale Gegensätze in Südosteuropa, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 53 (2003) H. 10-11, S. 3-9; Philipp Ther, A Century of Forced Migration: The Origins and Consequences of „Ethnic Cleansing“, in: ders./Ana Siljak (Hg.), Redrawing Nations. Ethnic Cleansing in East-Central Europe, 1944-1948, Lanham 2001, S. 43-72.
35 Vgl. demnächst Marie-Janine Calic, Die ethnischen Säuberungen im ehemaligen Jugoslawien, in: Ulf Brunnbauer (Hg.), „Ethnische Säuberungen“ im Europa des 20. Jahrhunderts [in Vorbereitung].
36 Vgl. Cathie Carmichael, Ethnic Cleansing in the Balkans. Nationalism and the Destruction of Tradition, London 2002; Carnegie Endowment for International Peace, Report of the International Commission to Inquire into the Causes and Conduct of the Balkan Wars, Aylesbury Bucks 1914 (Neuauflage unter dem Titel: The Other Balkan Wars, Washington 1993); Wolfgang Höpken, Gewalt auf dem Balkan - Erklärungsversuche zwischen „Struktur“ und „Kultur“, in: ders./Michael Riekenberg (Hg.), Politische und ethnische Gewalt in Südosteuropa und Lateinamerika, Köln 2001, S. 53-95.
37 Richard Caplan, A New Trusteeship? The International Administration of War-torn Territories, International Institute for Strategic Studies, Adelphi Paper 341, London 2002; James D. Fearon/David D. Laitin, Neotrusteeship and the Problem of Weak States, in: International Security 28 (2004) H. 4, S. 5-43; Simon Chesterman, You, the People. The United Nations, Transitional Administration, and State-Building. Project on Transitional Administrations. Final Report, November 2003, online unter URL: https://www.ipinst.org/wp-content/uploads/publications/you_the_people2.pdf; Amitai Etzioni, A self-restrained approach to nation-building by foreign powers, in: International Affairs 80 (2004), S. 1-17.
38 Franz-Josef Meiers, Germany. The Reluctant Power, in: Survival 37 (1995) H. 3, S. 82-103; Nina Philippis, Bundeswehr-Auslandseinsätze als außen- und sicherheitspolitisches Problem des geeinten Deutschland, Berlin 1997; dies., Civilian Power and war. The German debate about out-of-area operations 1990-1999, in: Sebastian Harnisch/Hanns W. Maull (Hg.), Alliance Politics, Kosovo and NATO’s War, New York 2001, S. 131-143; Michael Schwab-Trapp, Kriegsdiskurse. Die politische Kultur des Krieges im Wandel 1991-1999, Opladen 2002; Hanns W. Maull, Germany in the Yugoslav crisis, in: Survival 37 (1995/96) H. 4, S. 99-132.
39 Final Report (Anm. 21), Annex IV: The Policy of Ethnic Cleansing.
40 Vgl. Robert M. Hayden, Schindler’s Fate: Genocide, Ethnic Cleansing, and Population Transfer, in: Slavic Review 55 (1996), S. 728-748.
41 Vgl. Helen Fein, Genocide: A Sociological Perspective, in: Current Sociology 38 (1990) H. 1, S. 1-126, hier S. 47.
42 Vgl. Norman M. Naimark, Flammender Hass. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert, München 2004, S. 10ff.
43 Vgl. The International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia (http://www.un.org/icty).
44 Vgl. The International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia. The Prosecutor of the Tribunal against Ratko Mladic, Case No. IT-95-5/18-I (The Hague 10 October 2002), online unter URL: http://www.icty.org/x/cases/mladic/ind/en/mla-ai021010e.pdf.
45 Vgl. The International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia. The Prosecutor of the Tribunal against Slobodan Milosevic et al., Case No. IT-99-37-I (The Hague 29 June 2001), online unter URL: http://news.findlaw.com/cnn/docs/icty/milosevicamind62901.pdf.
46 Vgl. die Aufarbeitung der Ereignisse durch: Report of the Secretary-General pursuant to General Assembly Resolution 53/35. The fall of Srebrenica. 15 November 1999, online unter URL: http://www.un.org/en/ga/search/view_doc.asp?symbol=A/54/549.
47 Dieter Reinhardt, Staatszerfall, Neue Kriege und Bedrohungspotenziale, in: Internationale Politik und Gesellschaft 3/2004, S. 164-176.