Franz Leopold Neumanns »Behemoth«

Ein vergessener Klassiker der NS-Forschung

Anmerkungen

Franz Neumann, Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism, 2nd, revised ed. New York u.a.: Oxford University Press 1944; dt. Übers.: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944, hg. u. mit einem Nachwort versehen von Gert Schäfer, Köln/Frankfurt a.M.: Europäische Verlagsanstalt 1977; Tb.-Ausg.: Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1984. Die im folgenden Text enthaltenen Zitate beziehen sich auf die deutsche Erstausgabe.

Buchcover Franz Leopold Neumann Behemoth

Der erstmals 1942 und 1944 in stark erweiterter Form erschienene „Behemoth“ Franz Leopold Neumanns bildete einen Höhepunkt der NS-Interpretation exilierter deutscher Wissenschaftler. Neumann, Jahrgang 1900, hatte in Frankfurt am Main bei Hugo Sinzheimer studiert, war 1928 nach Berlin gekommen, hatte dort eine Anwaltspraxis eröffnet und an der Deutschen Hochschule für Politik gelehrt.1 Er stand dem linken Flügel der SPD nahe, war ein unnachgiebiger Kritiker des Nationalsozialismus und wurde gleich nach dem 30. Januar 1933 verhaftet. Wenige Wochen später gelang ihm die Flucht nach Großbritannien, wo er an der London School of Economics ein (Zweit-)Studium der Politischen Wissenschaften aufnahm. 1936 übersiedelte Neumann in die USA und trat in Max Horkheimers Institute of Social Research ein, das nach New York verlegte Frankfurter Institut für Sozialforschung.2

Anfang 1940 begann Neumann mit der Niederschrift des ersten Teils des „Behemoth“, den er Ende 1941 abschloss. Seit Anfang 1943 war er für das amerikanische Office of Strategic Services tätig (eine Koordinierungsbehörde für verschiedene US-Geheimdienste) und verfasste Expertisen für die amerikanische Deutschlandpolitik nach dem Ende des Krieges.3 In diesem Zusammenhang entstand der „Anhang“ des „Behemoth“, der in die zweite Auflage des Buches aufgenommen wurde. Darin schilderte Neumann die institutionelle Entwicklung des NS-Staates bis Mitte 1944, um die amerikanischen Nachkriegsplanungen für Deutschland (die vom jeweiligen Status quo des NS-Regimes ausgingen) beeinflussen zu können.

Man hat bisweilen vermutet, Neumanns „Behemoth“ sei ein Resultat der theoretischen Diskurse der deutschen Emigrantenszene in den USA der frühen 1940er-Jahre gewesen. Neuerdings hat Jürgen Bast jedoch gezeigt, dass der „Behemoth“ in erster Linie ein Produkt von Neumanns Auseinandersetzung mit Ursachen, Verlauf und Folgen des Zusammenbruchs der Weimarer Republik war.4 Neumann richtete sein Augenmerk auf die Struktur der kapitalistischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, in der er eine notwendige Vorbedingung für die Entstehung des Nationalsozialismus sah, sowie auf die Zusam-menhänge, die zum Kollaps der Weimarer Republik und zur Etablierung des „Dritten Reiches“ führten. Das NS-Regime deutete er als einen zur „Herrschaft der Gesetzlosigkeit“ mutierenden „Unstaat“, in dem Staat und NSDAP um die Durchsetzung ihres Totalitätsanspruchs kämpften (S. 16 [Zitate], S. 75ff., S. 90-93). Aus diesem Gegensatz zwischen „totalitärem Staat“ (Leviathan) und „totalitärer Bewegung“ (Behemoth) habe sich während des Zweiten Weltkriegs eine neue Gesellschaftsform gebildet, in der die herrschenden Gruppen die Bevölkerung „ohne die Vermittlung durch den wenigstens rationalen, bisher als Staat bekannten Zwangsapparat“ direkt kontrollierten (S. 505-530, S. 543 [Zitat]). Dies sei durch die Anwendung von Propaganda und Gewalt geschehen.5

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Welches waren jene „herrschenden Gruppen“ im NS-Staat, von denen Neumann im „Behemoth“ sprach? Ein zentraler Bestandteil seiner Theorie vom „Dritten Reich“ als einem „Unstaat“ war die Annahme, dass die einheitliche Staatsgewalt seit 1933 mehr und mehr zerfallen sei. Mit Ministerialbürokratie, NSDAP, Wehrmacht und Wirtschaft hätten sich vier neue, die Bevölkerung unmittelbar beherrschende Machtinstanzen herauskristallisiert (S. 541-550).6 Neumann ging davon aus, dass diese Herrschaftsträger in sich souverän waren und dass der Prozess der politischen Willensbildung im „Dritten Reich“ auf ungeregelten Absprachen zwischen ihren verschiedenen Protagonisten basierte. Demnach handelten die Vertreter von Ministerialbürokratie, NSDAP, Wehrmacht und Wirtschaft die notwendigen politischen Maßnahmen stets neu unter- und miteinander aus. Das dynamischste Element dieses „totalitären Pluralismus“7 habe die NSDAP gebildet. Für Neumann war sie eine riesige Bürokratie, deren Funktion es gewesen sei, die personelle Erneuerung der „herrschenden Klasse“ zu koordinieren (S. 107-113, S. 434-440, S. 461ff.). Zu diesem Zweck habe sie sich immer weiter von der staatlichen Verwaltung emanzipiert und versucht, den öffentlichen Dienst mit ihren Parteigängern zu durchsetzen. Damit sei auch der Versuch einhergegangen, die Beamten im Sinne der NS-Ideologie zu indoktrinieren (S. 90-104, S. 430-434, S. 440-444). 1944 war Neumann zutiefst davon überzeugt, dass die NSDAP zur bestimmenden politischen Kraft des NS-Staates avanciert sei (S. 562-572).

Neumanns Interpretation ist von der NS-Forschung bis heute kaum rezipiert worden.8 Nur der britische Sozialhistoriker Timothy W. Mason hat immer wieder darauf Bezug genommen.9 Diese Vernachlässigung Neumanns ist kaum zu verstehen, war sein methodischer Ansatz doch in mancherlei Hinsicht wegweisend. Er versuchte, die Analyse der horizontalen Struktur des „Dritten Reiches“, d.h. der Herrschaftsbeziehungen zwischen Staat, NSDAP, Wehrmacht und Wirtschaft, mit einer Untersuchung der vertikalen Herrschaftsebene zu verbinden - also des Verhältnisses zwischen NS-Regime und Bevölkerung. Neumann interessierten sowohl die Machtverhältnisse an der Regimespitze als auch dessen Herrschaftsausübung selbst. Damit eröffnete er eine Perspektive, mit der sich sowohl Strukturen als auch Funktionen der Herrschaftsträger des „Dritten Reiches“ gleichgewichtig analysieren ließen.

Es ist allerdings zu betonen, dass Neumann selbst den Wirtschaftsapparat in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen gestellt hat. Er ging dabei von der Annahme aus, dass sich der NS-Staat zu einer „totalitären Monopolwirtschaft“ entwickelt habe, in der die Selbstverwaltung der Wirtschaft nicht angetastet worden sei (zum Folgenden S. 269-422).10 Im Gegenteil: Die Ministerialbürokratie habe die ökonomische Selbstverwaltung zusätzlich gestärkt, indem sie die Bildung von Monopolen in der Wirtschaft durch gesetzliche Eingriffe begünstigt habe. Den totalitären Charakter dieser Monopolwirtschaft sah Neumann als Folge der Entrechtung der Arbeiter, die nach 1933 eingesetzt hatte. Diese seien der „unmittelbaren Knechtschaft“ der Großwirtschaft ausgeliefert worden.11 Die Fokussierung auf die „totalitäre Monopolwirtschaft“ und auf die Produktionsverhältnisse hat dazu geführt, dass Neumann andere Gesellschaftsbereiche vernachlässigte - beispielsweise Familie, Religion, Erziehung, Wissenschaft und Massenmedien. Wenig Aufmerksamkeit hat er der Rolle von Polizei und Justiz im „Dritten Reich“ geschenkt. Neumann beschrieb nur die institutionellen Strukturen des Polizeiapparates sowie dessen enge organisatorische Verzahnung mit Heinrich Himmlers Schutzstaffel der NSDAP (S. 97ff., S. 572-581). Eine kritische Auseinandersetzung mit dem „Behemoth“ muss, dies sollte aus den vorstehenden Bemerkungen klar geworden sein, an dem darin vertretenen Primat der Ökonomie einsetzen.

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Dennoch ist der „Behemoth“ für die NS-Forschung auch heute noch wertvoll - fast 60 Jahre nach seiner Niederschrift. Mit Neumanns methodischem Zugriff lässt sich sogar ein ganzes Forschungsprogramm verbinden. Dies betrifft vor allen Dingen die Untersuchung der Umweltbeziehungen der verschiedenen Herrschaftsträger. Bisherige Darstellungen etwa zur NS-Wirtschaft, zur NSDAP oder zur Wehrmacht haben meist nur die Binnenper-spektiven der Betriebe, Organisationen oder Institutionen berücksichtigt. Der dynamische Strukturwandel des NS-Staates im Zweiten Weltkrieg erklärt sich aber, wie Neumann konstatierte, zu einem guten Teil aus den Beziehungen dieser Herrschaftsträger nach außen.

Die zweite Frage, die sich nach der Lektüre geradezu aufdrängt, betrifft die Mechanismen der sozialen Kontrolle im NS-Staat. Es war nicht nur der weitverzweigte Polizeiapparat, der dafür zuständig war. Vielmehr spielten NSDAP, Wehrmacht und Wirtschaft bei dieser Sozialdisziplinierung eine wesentliche Rolle. Peter Hüttenberger hat schon 1976 in einem kaum rezipierten Aufsatz, in dem er Neumanns „Behemoth“ konzeptualisierte, auf die Bedeutung dieses Aspektes hingewiesen und Anregungen für weitere Forschungen gegeben.12 Folgt man Hüttenberger, so ist der dynamischen Entwicklung des „Dritten Reiches“ nur durch eine multiperspektivische Analyse beizukommen, bei der die Herrschaftsbeziehungen auf der oberen Ebene mit der Frage nach der „Durchherrschung“ der deutschen Gesellschaft durch das NS-Regime gekoppelt werden müssen. Dieses Forschungsprogramm ist, wie auch Franz Leopold Neumanns „Behemoth“, immer noch aktuell.

Anmerkungen: 

1 Zur Person vgl. Alfons Söllner, Franz L. Neumann. Skizzen zu einer intellektuellen und politischen Biographie, in: Franz L. Neumann, Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930-1954, hg. von Alfons Söllner, Frankfurt a.M. 1978, S. 7-56.

2 Zu Neumanns dortiger Rolle vgl. Martin Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950, Frankfurt a.M. 1976, S. 175-208.

3 Vgl. Petra Marquardt-Bigman, Amerikanische Geheimdienstanalysen über Deutschland 1942-1949, München 1995, S. 67-80. Die neue Literatur zu diesem Thema analysiert Stefanie Middendorf, „Verstoßenes Wissen“. Emigranten als Deutschlandexperten im „Office of Strategic Services“ und im amerikanischen Außenministerium 1943-1955, in: Neue Politische Literatur 46 (2001), S. 23-52.

4 Jürgen Bast, Totalitärer Pluralismus. Zu Franz L. Neumanns Analyse der politischen und rechtlichen Struktur der NS-Herrschaft, Tübingen 1999, S. 1-25.

5 Vgl. ebd., S. 274-287. Zur Rolle von Propaganda und Gewalt im NS-Staat siehe Neumanns Fragment „Notizen zur Theorie der Diktatur“ aus dem Jahre 1954, in: ders., Demokratischer und autoritärer Staat. Studien zur politischen Theorie, hg. von Herbert Marcuse, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1986, S. 224-244.

6 Vgl. auch Bast, Totalitärer Pluralismus (Anm. 4), S. 1-7, S. 287-303.

7 Diesen Begriff hat Neumann selbst nicht benutzt. Er ist allerdings, wie Bast anhand von Neumanns Pluralismustheorie nachweist (Totalitärer Pluralismus [Anm. 4], S. 28-122), eine passende Dechiffrierung für den „Behemoth“, also jenes Ungeheuers aus der jüdischen Eschatologie, das kurz vor dem Ende der Welt eine Schreckensherrschaft über Land und Wüste errichtete.

8 Vgl. dagegen Ian Kershaw, Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, vollständig überarb. u. erw. Neuausg., Reinbek 1999, S. 120.

9 Timothy W. Mason, Arbeiterklasse und Volksgemeinschaft. Dokumente und Materialien zur deutschen Arbeiterpolitik 1936-1939, Opladen 1975, S. XIX, S. XXI, sowie ders., The Primacy of Politics. Politics and Economics in National Socialist Germany, in: ders., Nazism, Fascism and the Working Class, ed. by Jane Caplan, Cambridge 1995, S. 53-76, hier S. 53.

10 Vgl. auch die Interpretation bei Bast, Totalitärer Pluralismus (Anm. 4), S. 238-256.

11 Siehe dazu das Kapitel „Die beherrschten Klassen“ (S. 464-530), in dem sich zeigt, dass Neumanns NS-Interpretation auf einem reformsozialistischen Klassenbegriff basierte.

12 Peter Hüttenberger, Nationalsozialistische Polykratie, in: Geschichte und Gesellschaft 2 (1976), S. 417-442, hier S. 423. Hüttenbergers Ansatz ist, sowie ich sehe, bisher nur an einer Stelle ernsthaft rezipiert worden: bei Martin Moll, „Führer-Erlasse“ 1939-1945. Edition sämtlicher überlieferter, nicht im Reichsgesetzblatt abgedruckter, von Hitler während des Zweiten Weltkrieges schriftlich erteilter Direktiven aus den Bereichen Staat, Partei, Wirtschaft, Besatzungspolitik und Militär-verwaltung, Stuttgart 1997, S. 9-60, hier S. 24f.

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