1-2/2007: Offenes Heft

Aufsätze | Articles

Der Beitrag verfolgt die Karriere eines Bildes der amerikanischen Fotografin Dorothea Lange, das im März 1936 als Presseaufnahme in Umlauf kam und in der Folge unter dem Titel „Migrant Mother“ zu einer Ikone der Großen Depression in den USA wurde. Das Foto wird hier erstmals im Zusammenhang der gesamten Serie von sieben Aufnahmen analysiert, der es entnommen ist. Ausgehend vom politisch-sozialen Kontext des New Deal leistet der Autor eine ikonographische Analyse; er arbeitet die semantischen Überschreibungen und Adaptionen des Bildes im Verlauf seiner Rezeptionsgeschichte heraus und ordnet das Foto schließlich vier verschiedenen Diskursen zu, die die Semantik der „Migrant Mother“ maßgeblich bestimmt haben. Die historische Bedeutung von Dokumentarfotografie erweist sich dabei im Wesentlichen als eine Funktion der sozialen und diskursiven Praxis ihrer Verwendung.
 ∗       ∗       ∗
This article analyses Dorothea Lange’s famous photograph ‘Migrant Mother’, which was first published in March 1936, in relation to its social and iconographic contexts. The photograph has become not only a pictorial symbol of America’s Great Depression but also an ‘all inclusive icon’ representing different narratives. This is the first time in which this picture has been interpreted on the basis of its original sequence of seven exposures. The author begins by looking at the political and social contexts of New Deal propaganda as a framework for an iconographic interpretation of the picture. He then shows that four different discourses have been used to construct the ‘meaning’ of this image over time. In light of this argument, the historical meaning of documentary photography proves to be a function of its social/political utility and of the discourses in which it is embedded.

Die Zeit der weitreichenden antikommunistischen Repression in den USA zwischen 1947 und 1954, verkürzt als McCarthyism bekannt, ist bis heute ein bedeutsamer Bezugspunkt - sowohl in politischen Debatten wie innerhalb der Historiographie. Während ein erster Abschnitt des Beitrags einen Überblick zum McCarthyism gibt und dabei den Stellenwert von Denunziationen diskutiert, widmet sich ein zweiter Teil am Beispiel des Theater- und Filmregisseurs Elia Kazan konkret der Frage, wie Denunziationen in zeitgenössischen Debatten als liberale, staatsbürgerliche Akte gedeutet und gerechtfertigt wurden. Unter Bezugnahme auf Michel Foucaults Theorie der Gouvernementalität wird erkennbar, dass die zur patriotischen Tat umgedeutete Denunziation für den antikommunistischen Liberalismus nach 1945 die Funktion einer maßgeblichen Selbsttechnologie besaß.
 ∗       ∗       ∗
The period of far-reaching anti-communism in the United States of America between 1947 and 1954, somewhat misleadingly known as McCarthyism, remains in the focus of both current political debates and historical scholarship. The first part of this article recounts the history of McCarthyism and emphasises how certain kinds of denuncia-tion, informing the authorities about the political past of former friends and comrades, ensured its implementation. The second part focuses on the film director Elia Kazan and demonstrates how vindications of self-confessed informers served to present ‘betrayals’ as truly liberal and patriotic acts. Applying Michel Foucault’s theory of ‘governmentality’, the article argues that the reinterpretation of denunciation as an expression of patriotism served as an important ‘technology of the self’ for postwar liberal anti-communism.

Die rasch wachsende Zahl von Urlaubsreisen war in der frühen Bundesrepublik eng mit dem Durchbruch der Pauschalreise zum Massenkonsumgut verbunden. Die ökonomische Transaktionskostentheorie hilft, die Ursachen dieses Prozesses zu verstehen. In den 1960er-Jahren entwickelte sich die Pauschalreise zum Motor des Massentourismus, weil sie besonders die Organisation einer Auslandsreise stark vereinfachte. Dennoch blieben traditionelle schichtenspezifische Unterschiede im Reiseverhalten bis in die 1970er-Jahre bestehen. Wie bereits in der Vorkriegszeit waren die neuen Mittelschichten die Träger eines modernen, konsumorientierten Freizeitverhaltens, das in der bundesdeutschen Wohlstandsgesellschaft der 1960er-Jahre seine soziokulturelle Vorbildwirkung entfalten konnte und allmählich zur selbstverständlichen Praxis wurde. Der Aufsatz analysiert die Geschäftsmodelle der großen Reiseveranstalter, liefert statistische Angaben zur wachsenden Popularität von Pauschalreisen und verdeutlicht die Sehnsucht der Bundesbürger nach dem sonnigen Süden.
 ∗       ∗       ∗
In the early Federal Republic of Germany, the growing number of vacation trips went hand in hand with the breakthrough of the package tour. The economic theory of transaction costs helps to explain this process. In the 1960s, the package tour considerably simplified vacations abroad and became the driving force of mass tourism. Despite this, traditional social differences in travel patterns persisted until the 1970s. As in the pre-war era, the new middle classes were the vanguard of modern consumerist leisure. This new consumerist pattern determined role models in the affluent society of the 1960s and gradually established norms of social behaviour. This article analyses the business strategies of the big travel companies, provides statistical data about the growing popularity of the package tour and explains the German longing for the Mediterranean.

Das HB-Männchen „Bruno“ war eine der erfolgreichsten Werbefiguren der Wirtschaftswunderzeit, dessen Popularität noch diejenige des Bundeskanzlers übertraf. Werbefachleuten gilt „Bruno“ als „Musterbeispiel für effiziente Markenführung“. Der Aufsatz geht der Entstehungsgeschichte dieser Werbefigur und der mit ihr verbundenen Werbestrategie nach. Gefragt wird nach den Bedingungen und dem Erfolgsrezept dieser Figur sowie nach den Gründen ihres späteren Niedergangs. Damit leistet der Aufsatz einen Beitrag zur Werbe-, Konsum- und Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik.
 ∗       ∗       ∗
‘HB-Männchen Bruno’ was one of the most successful advertising characters at the time of the German economic boom, or Wirtschaftswunder, in the 1950s and early 1960s. His popularity even exceeded that of the federal chancellor. It is widely accepted among advertising experts that ‘Bruno’ may be considered as a ‘classic example of efficient brand guidance’. This article traces the history of the origins of this advertising character and its underlying advertising strategy. Furthermore the article aims to reveal the formula underpinning the success of this figure as well as the conditions of its decline. The essay thus contributes towards the history of advertising, consumption and mentalities in the Federal Republic of Germany.

Das „New Age“ wird üblicherweise als Ergebnis oder Ereignis der Privatisierung und Pluralisierung der Religion nach „1968“ begriffen. Der vorliegende Beitrag betrachtet diese Zuordnung als erweiterungsbedürftig und unterzieht einige der zentralen Deutungsmuster innerhalb des „New Age“ einer diskursgeschichtlichen Relektüre. Auf diese Weise geraten drei Transformationsprozesse in den Blick, die das „New Age“ in den 1970er- und 1980er-Jahren als „Neue Religion“ in das Zentrum des gesellschaftlichen Wandels rückten: Somatisierungs-, Orientalisierungs- und Kybernetisierungsprozesse. In einem weitgehend unbekannten Ausmaß wurde insbesondere die Sorge um den „eigenen“ Körper zum Referenzpunkt religiöser Kommunikation. Entgegen der Säkularisierungsthese verlor die Religion in diesem Kontext keineswegs an gesellschaftlicher Relevanz.
 ∗       ∗       ∗
The ‘New Age’ is usually understood as the result of the privatisation and pluralisation of religion after 1968. This article exposes the shortcomings of this understanding and proposes a rereading of interpretations of the ‘New Age’ by applying discourse analysis to them. The author identifies three processes of transformation which suggest that the ‘New Age’ as a ‘New Religion’ was a motor of social change in the 1970s and 1980s, defined by processes of somatisation, orientalisation and cybernetisation. Care for one’s ‘own’ body became a key point of reference for religious communication, to an extent which remains largely unknown. Contrary to the secularisation thesis, religion by no means lost its social relevance in this context.

Der Aufsatz untersucht die weltweite Popularisierung des bevölkerungspolitischen Diskurses und leistet damit einen Beitrag zur kritischen Historisierung gegenwärtiger Deutungsmuster. Wie und warum entwickelte sich ein zunächst nur von wenigen Experten als Problem wahrgenommenes Phänomen zu einem globalen Diskurs über die Gegenwart und Zukunft der Menschheit? Im Kontext von Kaltem Krieg und Dekolonisierung rückte das Bevölkerungswachstum in der „Dritten Welt“ in den Mittelpunkt demographischer Überlegungen. Amerikanische Stiftungen, überzeugt von der humanitären und sicherheitspolitischen Relevanz des Bevölkerungswachstums, setzten sich massiv für eine globale biopolitische Steuerung ein. Seit Beginn der 1960er-Jahre beeinflussten die Stiftungen und die „epistemische Gemeinschaft“ der Bevölkerungsexperten dann auch maßgeblich das Handeln der US-Regierung. Schließlich schwenkten die Vereinten Nationen um 1970 ebenfalls auf eine neo-malthusianische Politik ein. Damit entwickelte sich die Steuerung des Bevölkerungswachstums zu einem zentralen, weithin unstrittigen, aber doch interessengeleiteten Aspekt von Weltinnenpolitik.
 ∗       ∗       ∗
This article analyses the global proliferation of demographic discourse and contributes to a critical historicisation of current world views. Why and how did a phenomenon, which was initially regarded as a problem only by a few experts, turn into a global discussion about the present state and future of mankind? In the context of the Cold War and decolonisation, population growth in the Third World became the focal point of demographic deliberations. Convinced of the humanitarian relevance of population growth and its influence on security, American foundations strongly supported global biopolitical control. From the early 1960s, foundations and the ‘epistemic community’ of demographers decisively influenced governmental policies of the United States. By 1970, the United Nations also subscribed to neo-Malthusian policies. The control of population growth thus became a central aspect of global governance which, though not a subject for controversy, was driven by different interests.

Debatte | Debate

  • Irmgard Zündorf

    Zwischen Event und Aufklärung. Zeitgeschichte ausstellen

    Vorwort

  • Hans-Ulrich Thamer

    Sonderfall Zeitgeschichte?

    Die Geschichte des 20. Jahrhunderts in historischen Ausstellungen und Museen

  • Burkhard Asmuss

    „Chronistenpflicht“ und „Sammlerglück“

    Die Sammlung „Zeitgeschichtliche Dokumente“ am Deutschen Historischen Museum

  • Kristiane Janeke

    „Nicht gelehrter sollen die Besucher eine Ausstellung verlassen, sondern gewitzter“

    Historiker zwischen Theorie und Praxis

  • Detlef Hoffmann

    Zeitgeschichte aus Spuren ermitteln

    Ein Plädoyer für ein Denken vom Objekt aus

  • Katrin Pieper

    Zeitgeschichte von und in Jüdischen Museen

    Kontexte – Funktionen – Möglichkeiten

Quellen | Sources

  • Jan Erik Schulte

    Nationalsozialismus und europäische Migrationsgeschichte

    Das Archiv des Internationalen Suchdienstes in Arolsen

  • Andreas Kunz

    NS-Gewaltverbrechen, Täter und Strafverfolgung

    Die Unterlagen der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg

Besprechungen | Reviews

Ausstellungen

  • Susanne König

    Bilder vom Menschen – Geschichte und Gegenwart

    Die Dauerausstellung des Deutschen Hygiene-Museums in Dresden

Neu gelesen

  • Werner Bührer

    Der Traum vom „Wohlstand für alle“

    Wie aktuell ist Ludwig Erhards Programmschrift?

  • Claudia Prinz

    Vor und nach Paxton

    Der Paradigmenwechsel in der Deutung des Vichy-Regimes

  • Stephan Scheiper

    Traditionen des Terrors

    Eine frühe britische Studie zur Roten Armee Fraktion (RAF)

zu Rezensionen bei »H-Soz-Kult/Zeitgeschichte«