Kraftwerk, „Computerwelt“,
Text und Musik: Karl Bartos, Emil Schult, Ralf Hütter, Florian Schneider (1981).
„There is no reason for any individual to have a computer in his home.“ Diese Einschätzung Kenneth H. Olsens, seinerzeit Präsident der Digital Equipment Corporation (lange eine der führenden amerikanischen Computerfirmen), stammt aus dem Jahr 1977. Die gesellschaftliche Vorstellung von Computern war damals eng mit Großrechnern verknüpft, die lediglich durch Spezialisten bedient werden konnten. Dieses Paradigma stellten Spielekonsolen wie „Pong“ von Atari allerdings bereits 1975 in Frage. Andere Branchengrößen wie IBM hatten weiterhin Bedenken, ob die Leistung der Großrechner auf einem Schreibtisch Platz finden könne. Unternehmen wie Commodore oder Apple bewiesen ab 1977, dass dies möglich war, indem sie kompakte, sofort nach dem Kauf verwendbare Rechner auf den Markt brachten und sich somit an die Spitze der Computerhersteller katapultierten. Sie setzten damit eine Entwicklung in Gang, die sich zu Beginn der 1980er-Jahre beschleunigte: IBM definierte mit dem „IBM PC 5150“ ab 1981 einen Standard im Bereich der Heimcomputer. Sony und Philips brachten die Digitalisierung im Audiobereich voran und legten die technischen Spezifikationen für die Compact Disc fest.1
Im Jahr 1979 beschäftigte der Gedanke der Digitalisierung auch vier Düsseldorfer Musiker, die sich besonders ab Mitte der 1970er-Jahre in eine thematische und musikalische Vorreiterposition gebracht hatten. Die Gruppe „Kraftwerk“, die 1970 aus der zwei Jahre zuvor gegründeten Gruppe „Organisation“ hervorgegangen war, hatte zu Beginn der 1970er-Jahre Alben veröffentlicht, die mit konventioneller Instrumentierung wie Schlagzeug, Violine und Flöte eingespielt waren. Den Durchbruch erreichte die Gruppe 1974 jedoch mit dem Album „Autobahn“. Die Klangerzeugung erfolgte nun vollständig synthetisch, Melodien wurden nur noch spärlich eingesetzt, und ein emotionslos wirkender Gesang wurde stilprägend.2 Davon ausgehend, entwickelten sich auf Computertechnologie fußende Instrumente bis zum Ende des Jahrzehnts zu „Kraftwerks“ bevorzugten musikalischen Mitteln. Die Interaktion zwischen Menschen und Maschinen wurde zu einem zentralen, auch inhaltlichen Element.3
Waren die Alben „Autobahn“ (1974) und „Radio-Aktivität“ (1975) noch primär mit deutschen Themen besetzt, erweiterte die Gruppe ihren Blick mit „Trans-Europa-Express“ (1977). In „Die Mensch-Maschine“ (1978) verwies „Kraftwerk“ erstmals auf globale Themen wie Raumfahrt und Großstädte, aber auch auf ökologisch motivierte Kritik am Fortschrittsglauben und Technikpositivismus.4 Stilistisch prägten die Alben „Trans-Europa-Express“ und „Die Mensch-Maschine“ das Genre des Electropop. In Kombination mit den sinkenden Preisen für Synthesizer entstanden daraufhin vor allem in Großbritannien zahlreiche Gruppen, die unter dem Begriff „New Romantic“ subsumiert wurden – beispielsweise „Depeche Mode“, „Soft Cell“ oder „Human League“.5
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Die sich abzeichnende Computerisierung des Alltags durch die Miniaturisierung der Mikrochip-Technologie brachte „Kraftwerk“ auf die Idee, das eigene Studio zu verkleinern. Dies hatte in erster Linie praktische Gründe: Vor Konzerten gestaltete sich der Aufbau der im Studio verwendeten Geräte allzu kompliziert. So waren die Alben „Trans-Europa-Express“ und „Die Mensch-Maschine“ nicht von Touren begleitet.6 Die Gruppe entwickelte daraufhin ein in der Studio- und in der Konzertumgebung gleichermaßen einsetzbares System. Die sperrige Elektronik wurde in Containern hinter der Gruppe untergebracht, während die vier Musiker auf der Bühne hinter einer Konsole mit Keyboard in Erscheinung traten, die per Kabel mit der Elektronik verbunden war.7 Parallel zum Umbau des vom Sänger und Keyboarder Ralf Hütter als „elektronisches Wohnzimmer“8 bezeichneten KlingKlang-Studios entstand zwischen 1978 und 1981 das Album „Computerwelt“. Nach der physischen Automation durch Roboter sah „Kraftwerk“ die Programmierung der Gedanken innerhalb der Gesellschaft durch die beginnende Computerisierung des Alltags als logische Konsequenz.9
Die positiven wie negativen Begleiterscheinungen griff „Kraftwerk“ bereits im Titelstück auf, welches zugleich das Album eröffnet: Textzeilen wie „Interpol und Deutsche Bank, FBI und Scotland Yard, Flensburg und das BKA haben unsere Daten da“, gefolgt von „Nummern, Zahlen, Handel, Leute“ reflektierten die Gefahr des Missbrauchs computergestützter Akten der Polizeibehörden und der Etablierung eines „Überwachungsstaats“ durch die Computerisierung. Der Nutzen elektronisch gespeicherter Akten war während der Produktion des Albums durch die innenpolitische Krise um Horst Herold als Präsident des Bundeskriminalamts im Jahr 1979 in Frage gestellt worden.10 Herold sah sich mit den Schwächen des von ihm etablierten – und anfangs überaus erfolgreich praktizierten – Systems der Rasterfahndung konfrontiert. Bei der Entführung Hanns Martin Schleyers durch die Rote Armee Fraktion (1977) waren wichtige Hinweise nicht in das System eingetragen worden. Im Zuge dieser Krise wuchs in der Öffentlichkeit das Misstrauen gegenüber den Datensammlungen der Behörden und Nachrichtendienste; es entstand ein Bewusstsein für die Notwendigkeit des Datenschutzes.
Im weiteren Verlauf des Stücks „Computerwelt“ tritt jedoch das Potenzial zur kreativen Nutzung der Computerisierung an die Stelle der Dystopie eines „Überwachungsstaats“: „Automat und Telespiel leiten heut’ die Zukunft ein, Computer für den Kleinbetrieb, Computer für das Eigenheim“ und „Reisen, Zeit, Medizin, Unterhaltung“ zeigten den Hörern Alternativen in anderen Einsatzbereichen auf. Dieser Tenor des spielerischen Umgangs mit der neuen Technologie dominiert den Rest des Albums. Deutlich wird dies bereits im zweiten Stück mit dem Titel „Taschenrechner“, bei dem die Gruppe ebensolche Geräte von Casio zur Klangerzeugung verwendete. Einen globalen Anspruch untermauerte „Kraftwerk“, indem die Musiker das Stück für die deutschen, englischen und französischen Versionen der LP in der jeweiligen Landessprache aufnahmen und es als B-Seite zur Single unter dem Namen „Dentaku“ in Japan veröffentlichten.11
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Der Song „Computerliebe“ rückt das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine in ein romantisches Licht. Ralf Hütters Wunsch nach einem Rendezvous, den er sich per Bildschirmtext erfüllen möchte, nahm die heutige Kontaktanbahnung über entsprechende Portale vorweg. Die nahtlos ineinander übergehenden Stücke „Heimcomputer“ und „It’s more fun to compute“ (dessen Text einzig aus dem Songtitel bestand) schließen das Album ab. Sie brachten „Kraftwerks“ Vision eines durch und durch computerisierten Alltags ohne Umschweife auf den Punkt.
Die Meinungen der Musikpresse waren gespalten: Überschwängliche Kritiken wie im „Musikexpress“ bezeichneten das Album „Computerwelt“ als „sensationell gut“. Die Zeitschrift „Melody Maker“ befand, dass trotz zahlreicher Epigonen im Synthie-Pop niemand die spannungsreiche und klassische Reinheit der Musik von „Kraftwerk“ erreicht habe.12 Kritische Rezensionen wie im „Spiegel“ bemängelten hingegen eine Naivität „Kraftwerks“ gegenüber der „Technologie von 1984“ – durch die „simplen Synthesizer-Stückchen“ und den „Roboter-Tinnef“ der vorangegangenen Jahre sei der Gruppe die Skepsis gegenüber neuen Technologien abhanden gekommen. Das Album erwecke den Eindruck einer Ansammlung „einfache[r] Blubber- und Piep-Rhythmen“ sowie „bierernst-akustische[r] Illustrationen ihrer Computerwelt“.13 Andere Kritiker sahen eine „Anbiederung an träge Konsumgewohnheiten“ sowie fehlende musikalische Reibungspunkte, die den Ansatz für eine kritische Auseinandersetzung mit der „Computerwelt“ hätten bieten können.14
Dem (auch internationalen) Erfolg des Albums tat dies keinen Abbruch. In den deutschen LP-Charts stieg es bis auf Platz 715 und in England auf Platz 15.16 Mit ihrem verkleinerten KlingKlang-Studio unternahm „Kraftwerk“ ab Mitte 1981 eine erste, überaus erfolgreiche Welttournee, die die Gruppe unter anderem nach Osteuropa, Australien und Japan führte. Beim Bühnenaufbau verzichtete die Gruppe auf bombastische Elemente, wie man sie von anderen Rockbands wie „Pink Floyd“ kannte, und hielt sich zwischen ihren Konsolen im Hintergrund. Diese Zurückhaltung und die Tatsache, dass die Idee eines mobilen Studios Wirklichkeit geworden war, ließen die Frage aufkommen, ob eine Studioband live oder eine Liveband im Studio spiele. Das Publikum honorierte diesen Doppelcharakter bei den Konzerten: Es blieb nicht in einer passiven Zuschauerrolle, sondern bewegte sich gern zu den überaus tanzbaren Rhythmen. Zwar wahrte „Kraftwerk“ zunächst eine für die Gruppe typische Distanz, durchbrach diese jedoch bei der Zugabe, als sich die Musiker zu den Klängen von „Taschenrechner“ an den Bühnenrand begaben und Leute in den ersten Reihen Knöpfe auf den Geräten drücken ließen.17
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Auf die Entwicklung neuer Musikstile und deren Produktion hatte die in „Computerwelt“ und der anschließenden Tour vorgelebte Beziehung zwischen Mensch und Technik nachhaltige Auswirkungen. En passant wurde „Kraftwerk“ zum Vorreiter neuer Technologien im Homerecording-Bereich: Firmen wie Roland begannen, Drum-Maschinen und Synthesizer zu produzieren und zu erschwinglichen Preisen zu verkaufen, was die Produktion von Musik in der eigenen Wohnung ermöglichte und die von „Kraftwerk“ praktizierte Miniaturisierung des Studios fortführte.18 Die Gruppe befand sich vor allem in den USA im Zentrum einer sich neu formierenden Musikszene. Dort programmierten junge, zumeist afroamerikanische Musiker die Stücke aus „Computerwelt“ nach und schufen damit ab Mitte der 1980er-Jahre das musikalische Fundament dessen, was sich im folgenden Jahrzehnt besonders in Deutschland zu einer prägenden Jugendkultur entwickelte: Techno.19
Kraftwerk live, MTV Europe Music Awards, Edinburgh 2003
(Foto: Peter Boettcher, mit frdl. Genehmigung von EMI Music Germany)
Kraftwerk live, Royal Festival Hall, London 2004
(Foto: Peter Boettcher, mit frdl. Genehmigung von EMI Music Germany)
Mit der Live-Darbietung und dem Thema „Computerwelt“ nahm „Kraftwerk“ weitreichende gesellschaftliche Veränderungen vorweg.20 Heute, gut 30 Jahre nach Veröffentlichung des Albums, dominieren Computer die Arbeitswelt, die kreative Produktion, die Freizeit und für manche Menschen auch die soziale Interaktion. Finanztransaktionen, Organisation und Kommunikation finden über miteinander vernetzte Computer im globalen Raum statt. Insbesondere die nach der Veröffentlichung von „Computerwelt“ geborenen Altersgruppen nutzen diese Technologien mit größter Selbstverständlichkeit.21 Die Adressaten des von „Kraftwerk“ zumindest indirekt angesprochenen Datenschutzes sind längst nicht mehr nur die staatlichen Organe, sondern auch die im Internet agierenden Firmen und die Nutzer selbst. Zudem bewirkt die fortgeschrittene Miniaturisierung der Computertechnologie eine gestiegene Mobilität, die es theoretisch jedem ermöglicht, an jedem Ort der Welt produktiv und kreativ tätig zu sein. Deutlich wird dies an den musikalischen Nachfolgern „Kraftwerks“, die portable Rechner wie Laptops oder Tablet-PCs als Standard bei der Produktion und Live-Aufführung einsetzen. Das im letzten Stück von „Computerwelt“ mantra-artig wiederholte „It’s more fun to compute“ hat in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen die Oberhand gewonnen (weit über das „Eigenheim“ hinaus) – und zugleich neue Abhängigkeiten produziert. Ein mitunter zwanghaftes permanentes Mitteilungsbedürfnis bzw. die Verlagerung sozialer Interaktion auf virtuelle Netzwerke mag die Frage aufwerfen, wann „too much fun to compute“ erreicht ist und inwiefern sich möglicherweise gegenläufige Trends bilden.
Kraftwerk live, Autostadt Wolfsburg 2009
(Foto: Peter Boettcher, mit frdl. Genehmigung von EMI Music Germany)
Derweil erlebt die Gruppe „Kraftwerk“, von deren anfänglicher Besetzung lediglich Ralf Hütter noch dabei ist, eine kulturelle Würdigung: Das Münchener Lenbachhaus widmete dem akustischen und visuellen Gesamtkunstwerk der Band im Herbst 2011 eine Ausstellung mit drei Konzerten, die von einer 3D-Videoinstallation begleitet wurden. Der Einfluss „Kraftwerks“ auf heutige Klangwelten und Images zeigt sich auch daran, dass das New Yorker MoMA der Gruppe im April 2012 die Plattform dafür bot, an acht einzelnen Abenden unter Verwendung der 3D-Videotechnologie jedes ihrer Alben in chronologischer Reihenfolge live aufzuführen – von „Autobahn“ (1974) bis „Tour de France“ (2003). Spätestens jetzt gehört „Kraftwerk“ also zum kulturellen Kanon des digitalen Zeitalters.
1 Zu diesen generellen Trends vgl. etwa Kerstin und Jörg Allner, Computer Classics, Düsseldorf 2003.
2 Henning Dedekind, Krautrock, Höfen 2008, S. 278.
3 Vgl. das Interview von Ralf Hütter mit BBC Radio 1, Mai 1981, online unter URL: http://www.electriccafe.info/forum/index.php/topic/25-19810500-interview-uk-bbc-radio-i-manchester/ (Text), http://endlesskraftwerk.tumblr.com/post/33853770001/ralf-h%C3%BCtter-interviewed-by-tommy-vance-on-bbc (Audio).
4 Ulf Poschardt, DJ-Culture, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 230.
5 Pascal Bussy, Kraftwerk. Mensch, Maschine und Musik, Berlin 2005, S. 110.
6 David Pattie, Kraftwerk: Playing the Machines, in: Sean Albiez/David Pattie (Hg.), Kraftwerk. Music non-stop, New York 2011, S. 119-135, hier S. 129.
7 Wolfgang Flür, Kraftwerk. Ich war ein Roboter, St. Andrä-Wördern 1999, S. 179f.
8 Zit. nach ebd., S. 183.
9 Vgl. das Interview von Ralf Hütter mit dem „New Musical Express“, Juni 1981, online unter URL: http://kraftwerklove.tumblr.com/post/40619222070/new-musical-express-ralf-h%C3%BCtter-june-1981.
10 Vgl. als Zeitdokument Jochen Bölsche, Der Weg in den Überwachungsstaat, Reinbek bei Hamburg 1979.
11 Bussy, Kraftwerk (Anm. 5), S. 115f.
12 Vgl. Günter Ehnert/Detlef Kinsler, Rock in Deutschland, Norderstedt 1998 (CD-ROM).
13 Blubber von der Datenbank, in: Spiegel, 8.6.1981, S. 192-195.
14 Xao Seffcheque, Rezension zu Kraftwerk – Computerwelt, in: Sounds Nr. 6/1981, S. 61f.
15 Vgl. Ehnert/Kinsler, Rock in Deutschland (Anm. 12).
16 Vgl. http://chartarchive.org/r/39605.
17 Bussy, Kraftwerk (Anm. 5), S. 119ff. Als Videomitschnitt eines Live-Auftritts vom Dezember 1981 in Utrecht siehe http://www.youtube.com/watch?v=zZt64_XOflk.
18 Bussy, Kraftwerk (Anm. 5), S. 124f.
19 Laurent Garnier, Elektroschock, Höfen 2005, S. 135ff.
20 Pattie, Kraftwerk (Anm. 6), S. 130f.
21 Siehe dazu den Beitrag von Peter Haber in diesem Heft.