1. Flucht und Vertreibung in der politisch-historischen Diskussion
2. Der systematische Ort von Flucht und Vertreibung in der Migrationsgeschichte
3. Fazit
1. Flucht und Vertreibung in der politisch-historischen Diskussion
Die Geschichte von Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den ehemals deutschen Ostgebieten sowie aus Ostmittel- und Osteuropa ist seit den 1990er-Jahren wieder zu einem bedeutenden Thema der breiteren Öffentlichkeit geworden. Dies zeigen verschiedene Publikationen,1 Fernsehfilme2 und nicht zuletzt die Debatte um ein „Zentrum gegen Vertreibungen“.3 Die Hinwendung der Öffentlichkeit zu diesem Thema war von einem Perspektivwechsel in der Geschichtswissenschaft begleitet. Auch hier fand und findet das Thema ein verstärktes Interesse, das sich in zahlreichen Tagungen und oftmals vergleichenden fachwissenschaftlichen Publikationen niederschlägt.4
Flucht und Vertreibungen waren ein bestimmendes Kennzeichen der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert. Sie betrafen nicht allein Deutschland und die Deutschen in den Jahren von 1944/45 bis 1949, sondern haben eine weiter zurückreichende Vorgeschichte. Diese handelt von den Nationalstaatsgründungen des 19./20. Jahrhunderts und den Nationalitätenkonflikten in ethnisch gemischten Regionen und Staaten. Sie umfasst die politischen, sozialen und territorialen Auswirkungen von Kriegen, die geführt wurden, um einen eigenen, meist ethnisch „reinen“ Staat zu erreichen, sowie die Folgen eines übersteigerten und ethnisch aufgeladenen Nationalismus.
In der westdeutschen Geschichtswissenschaft gab es zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Ende der Nachkriegszeit 1989/90 deutliche Zyklen der Aufmerksamkeit und der politisch-ideologischen Ausrichtung, unter der sich die Forschungen zu Flucht und Vertreibung vollzogen. Im Wesentlichen kann man zwei Phasen unterscheiden: In der unmittelbaren Nachkriegszeit der 1950er- und frühen 1960er-Jahre herrschte ein Forschungsboom, der nicht zuletzt durch staatlich unterstützte und finanzierte Forschungsaufträge, aber auch durch ein politisch kongeniales Klima getragen wurde. Ergebnis dieses Booms war unter anderem die achtbändige „Dokumentation der Vertreibung“, die bis 1961 veröffentlicht wurde.5 In der Phase der Entspannungspolitik nahm das wissenschaftliche und öffentliche Interesse dagegen deutlich ab. Erst das Aufbrechen ethnischer Konflikte in Ostmittel- und Osteuropa, vor allem das gewaltsame Ende Jugoslawiens in den 1990er-Jahren, brachte das Vertreibungsthema in Deutschland erneut in die Öffentlichkeit und führte zu einem verstärkten oder neuen Interesse der Geschichtswissenschaft.
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Die Geschichtsschreibung über Flucht und Vertreibung hatte im 20. Jahrhundert oftmals einen offiziösen, teils auch einen ideologisch eingefärbten Charakter.6 Dies lässt sich nur erklären, wenn man nicht allein die Kontinuitäten dieser Forschungen berücksichtigt, sondern auch die Etablierung und Professionalisierung dieser Spezialdisziplin, insbesondere in Westdeutschland nach 1945. Inwieweit Kontinuitäten und Brüche zwischen der völkischen Deutschtumsforschung der Zwischenkriegszeit, der radikalnationalistischen und rassistischen Forschung (bzw. Politik) der NS-Zeit sowie der westdeutschen Minderheits- und Vertriebenenforschung bzw. auch der allgemeinen Historiographie der Nachkriegszeit bestanden, ist von der Forschung erst in Ansätzen geklärt worden.7 Neben den längerfristigen Einflüssen stehen aber gleichfalls die Kontingenzen der Vertreibungsgeschichte und ihres Echos bzw. ihrer Fortführung auf der Tagesordnung zukünftiger Forschung. Die lange Zeit ethnozentrische Ausrichtung der historischen Erforschung deutscher Minderheiten und ihrer Zwangsmigration ist ohne die Einbeziehung und Kontextualisierung von früheren Forschungen und deren Genese nicht zu verstehen.
Wirft man einen Blick auf die Etablierung und Konsolidierung der westdeutschen Vertriebenenforschung, so ist darüber hinaus die Frage nach dem funktionalen Zusammenhang dieser Forschungen wie auch nach deren langfristigen Folgen für die Integration der rund acht Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen in Westdeutschland von herausgehobenem Interesse. Die Vertriebenenforschung konstituierte sich weitgehend unter dem Dach staatlich alimentierter, den Interessengruppen nahestehender Institutionen. Dies hatte zwei Auswirkungen und Ziele: Einerseits diente es unmittelbar (möglichen, aber nicht realisierten) politisch-juristischen Zwecken, nämlich der Dokumentation personeller und eigentumsrechtlicher Verluste und Schäden von Deutschen. In diesem Zusammenhang ist das schon erwähnte Großforschungsprojekt „Dokumentation der Vertreibung“ zu sehen. Bei möglichen Friedensverhandlungen Deutschlands mit den Siegermächten - eine Option, die durch den Kalten Krieg verhindert wurde - hätten die Ergebnisse des Forschungsprojektes dokumentarischen Wert besessen und die Grundlage von Forderungen nach Wiedergutmachung, Schadensersatzleistungen und territorialen Konzessionen gebildet.
Zweitens hatte die Einbindung der Vertriebenenforschung in spezielle, staatlich geförderte Einrichtungen auch den Zweck oder zumindest die (intendierte) Folge, die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen durch Anerkennung zu fördern. Indem der zunächst entwurzelten Bevölkerung ein Sprachrohr verliehen wurde, erkannte man das Leid dieser Gruppe politisch, rhetorisch und symbolisch an, was eine integrative Funktion hatte. Vertriebene und ihre Nachkommen standen trotz anfänglicher sozialer und kultureller Konflikte mit der einheimischen Bevölkerung eben nicht am Rande der bundesdeutschen Gesellschaft, sondern eigneten sich diese als ihre eigene an. Die in den Ohren vieler Zeitgenossen oft revisionistisch anmutenden Forderungen und Verlautbarungen der Vertriebenen und ihrer Sprecher bzw. ihrer institutionellen Sprachrohre hatten somit eine überaus paradoxe Wirkung: Die Möglichkeit der Artikulation von Forderungen und Interessen innerhalb anerkannter Institutionen bedeutete die Repräsentation in der bundesdeutschen Öffentlichkeit und damit eine zunehmende Einbindung in die Aufnahmegesellschaft. Die ausgebliebene Radikalisierung der Gruppe und die langfristig gescheiterte politische Mobilisierung in eigenen Vertriebenenparteien sind unter anderem auf diese Tatsache zurückzuführen. Die Anerkennung als Opfer des Zweiten Weltkriegs, so strittig sie unter der Lupe einer kritischen Historiographie im Einzelnen auch sein mag, hat aus integrationspolitischem Blickwinkel eine positive, konfliktmindernde Rolle gespielt.8
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2. Der systematische Ort von Flucht und Vertreibung in der Migrationsgeschichte
Erika Steinbach, die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, äußerte im Zusammenhang der Diskussion um ein Migrationsmuseum, dass Vertreibung eine „schwere Menschenrechtsverletzung“ sei, Migration hingegen „etwas sehr Freiwilliges“.9 Damit ist das Spannungsfeld, in dem sich die Geschichte und Repräsentation von Flucht und Vertreibung zum Teil bis heute bewegt, deutlich auf den Punkt gebracht. Migrationsgeschichte beschränkt sich nach verbreiteter Sicht auf den Bereich der (zeitgeschichtlichen) Arbeitsmigration, während es sich bei Flucht und Vertreibung um qualitativ andere Themen handele, die nicht unter dem Rubrum der Migration untersucht werden könnten. Steinbachs Position bedarf jedoch selbst der historischen Einordnung. Sie ist nur unter zwei Voraussetzungen zu verstehen: erstens unter der oben aufgezeigten Bedingung, dass die Geschichtswissenschaft das Thema Flucht und Vertreibung zwischen den 1960er- und frühen 1990er-Jahren vernachlässigt und damit den Interessengruppen überlassen hat, zweitens unter der Voraussetzung des gegenwärtig andauernden Streites über ein in Berlin anzusiedelndes „Zentrum gegen Vertreibungen“. Dieses vom Bund der Vertriebenen und der im September 2000 eigens dafür gegründeten Stiftung verfolgte Vorhaben zog einerseits seit dem Frühjahr 2002 heftige Kritik aus der Politik und der Geschichtswissenschaft10 auf sich, andererseits führen die Befürworter eines solchen Zentrums einen Abwehrkampf um die Deutungshoheit der Geschichte von Flucht und Vertreibung. Einen Vergleich dieser Geschichte mit anderen migrationsgeschichtlichen Ereignissen und Perioden, wie er in der Geschichtswissenschaft seit den 1990er-Jahren partiell betrieben wird,11 galt es aus dieser Sicht abzuwehren, um die Interessen der eigenen Gruppe nach wie vor öffentlich und politisch eigenständig vertreten zu können. Ob sich diese Abgrenzung des Themas Flucht und Vertreibung inhaltlich aufrechterhalten lässt, ist mindestens strittig. Im Folgenden sollen einige Gründe und Argumente dargelegt werden, warum es sich bei der Geschichte von Flucht und Vertreibung um einen Teil der Migrationsgeschichte handelt - allerdings um einen besonderen Bereich, nämlich jenen der Zwangsmigration.
Das erste Argument ist terminologischer Natur. Im deutschen Sprachraum setzten sich nach 1945 die Begriffe „Flüchtlinge“ und „Vertriebene“, nicht das Fremdwort „Migranten“ oder „Zwangsmigranten“ durch. Erst im Zuge der gesellschaftlichen Debatte um die Rolle von Einwanderern und deren Integration in die deutsche Gesellschaft - in der Regel standen hier Arbeitsmigranten bzw. „Gastarbeiter“ im Mittelpunkt - wurden die Begriffe „Migration“ und „Migrant“ eingeführt und schließlich auch hoffähig.12 Die Etablierung des Begriffs Migration stellte aber die notwendige Voraussetzung für die Rubrizierung von Flucht und Vertreibung als Zwangsmigration dar.
Ein zweites terminologisches, aber auch gesellschaftliches Hindernis stellte die Verengung der Debatte über Migration auf Fragen von Integration dar. Das Leitmotiv der Eingliederung führte zur Reduktion des komplexen Vorgangs Einwanderung auf die integrationspolitischen Fragen und Folgen. Im Bereich der Integrationsfragen und der Integrationspolitik liegt aber auch ein wesentliches Argument für die historische Vergleichbarkeit von Flucht und Vertreibung mit sonstigen Migrationsbewegungen und anderen Bereichen der Migrationsgeschichte. Denn seit dem Ende der Flucht und Vertreibung im Jahr 1949 war es nicht zuletzt die lange Jahre anhaltende Debatte über die Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen in die bundesdeutsche Gesellschaft, die diese Gesellschaft als herausragendes Problem beschäftigte. Vergleicht man die Problemlagen und Diskurse von ehedem mit den Debatten über die Integration anderer Einwanderer späterer Dekaden, so ist die Parallelität und Strukturanalogie der sozialen Probleme und ihrer diskursiven Deutung frappierend: Auseinandersetzungen über Wohnungsnot, Kriminalität und Delinquenz, die Vorstellung der sozialen Desintegration der Flüchtlinge und Vertriebenen, Überfremdungsängste der aufnehmenden Gesellschaft bis hin zu massiven xenophoben Reaktionen gehörten allesamt zum Repertoire der zeitgenössischen Abwehrreaktionen und erinnern stark an die heutigen Debatten über die Ausgestaltung der deutschen Einwanderungsgesellschaft. Vergegenwärtigt man sich diese zeitgeschichtlichen Zusammenhänge, so spricht aus terminologischen Gründen und aus Gründen diskursiver Parallelen vieles dafür, die Geschichte von Flucht und Vertreibung in die allgemeine Migrationsgeschichte zu integrieren.
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Eine andere Parallele oder besser Kontinuität ist aber noch gewichtiger. Die Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen wurde in der Bundesrepublik zwischen 1949 und 1952 gesetzlich geregelt. Dies geschah durch das Lastenausgleichsgesetz von 1949 und das Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz von 1952. Das letztere Gesetz ermöglichte in Übereinstimmung mit der Definition des deutschen Volkes in Artikel 116 des Grundgesetzes eine der bedeutendsten Migrationsströme der Nachkriegszeit, nämlich die Zuwanderung von Aussiedlern aus Ostmittel- und Osteuropa sowie aus Zentralasien. Aussiedler bilden mit mehr als 4,3 Millionen Personen (seit 1950) heute eine der größten Zuwanderergruppen in der Bundesrepublik. Diese Epigonen der Flüchtlinge und Vertriebenen der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden im offiziellen politischen Diskurs lange Zeit nicht als Migranten gesehen und behandelt. Die ideologisch begründete Weigerung, diese Gruppe als Einwanderer zu betrachten, stand also in der Kontinuität der Weigerung, über Flucht und Vertreibung als Migration zu sprechen. Eine terminologische und gesellschaftliche Neu-Positionierung wurde allerdings in jüngster Zeit mit der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes und der Subsumierung der Aussiedlerzuwanderung und -integrationen unter dieses Gesetz vorgenommen; damit wurde die de-jure-Anerkennung eines de-facto-Zustandes nachgeholt. Diese politische und terminologische Volte hat wiederum Implikationen für den historischen Blick auf Flüchtlinge und Vertriebene. Reiht man Aussiedler in die Gruppe der Zuwanderer ein, so müssen die Flüchtlinge und Vertriebenen der Nachkriegszeit konsequenterweise ebenfalls zur Gruppe der Einwanderer zählen, da sie ja rechtlich lange Zeit unter der gleichen oder einer ähnlichen Gesetzeslage betrachtet wurden. Dass es sich bei einem großen Teil der Flüchtlinge und Vertriebenen um deutsche Staatsangehörige handelte, die zuvor in den deutschen Provinzen des Reichs beheimatet waren, schwächt dieses Argument nur insofern, als es sich dann nicht um grenzüberschreitende internationale Migration handelte, sondern um Binnenmigration innerhalb eines sich im Zerfall befindenden Staates.
Die Argumente für eine Einreihung der Geschichte von Flucht und Vertreibung in die allgemeine Migrationsgeschichte gehen aber noch darüber hinaus. Es können hierfür auch mentalitätsgeschichtliche Gründe ins Feld geführt werden, etwa die Heimatvorstellungen und der Rückkehrmythos in der Gruppe der Flüchtlinge und Vertriebenen. Im Erwartungshorizont der 1950er- und 1960er-Jahre - bis zum Abschluss der Ostverträge durch die Regierung Brandt/Scheel - lag für viele Flüchtlinge und Vertriebene die Rückkehr in die angestammte Heimat, auch wenn man sich sozial und ökonomisch in der Nachkriegsordnung und ihrer neuen Gesellschaft einrichtete. Dieser Rückkehrmythos, der sich nur in den seltensten Fällen realisierte, zeigt augenfällige Parallelen zu einer anderen Gruppe von Migranten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Auch zahlreiche „Gastarbeiter“ wurden seit 1955 unter der Prämisse angeworben, dass es sich um einen temporären, auf wenige Jahre begrenzten Arbeitsaufenthalt in der Bundesrepublik handele. In der Folge kam es jedoch zur Konsolidierung größerer Migrationsminderheiten aus den Anwerbeländern, insbesondere aus Italien, Spanien, der Türkei und zu einem geringeren Grad aus Jugoslawien. Diese Einwanderer perpetuierten ebenfalls einen Rückkehrmythos, oft auch eine nostalgisch verklärte Sicht des Heimat-landes. Die im unmittelbaren Erwartungshorizont verankerte Hoffnung auf Rückkehr realisierte sich wiederum meist nicht, zumindest dann nicht, wenn man eine Familie in Deutschland gegründet hatte und die Generation der Kinder, dann auch der Enkelkinder in der Bundesrepublik aufwuchs und sich in der westdeutschen Gesellschaft verortete. Die Bundesrepublik wurde also sowohl für Flüchtlinge und Vertriebene als auch für Arbeitsmigranten zur neuen, oft noch fremden Heimat.13
Die Fremdheitserfahrungen hatten bei beiden Gruppen, Zwangsmigranten und Arbeitsmigranten, ebenfalls oftmals ähnliche Ursachen, die mit unmittelbaren sozialen und ökonomischen Integrationsproblemen zu tun hatten. Die Hindernisse und Hürden, die beide Gruppen zu überwinden hatten, um Akzeptanz und volle Anerkennung in der Aufnahmegesellschaft zu erzielen, waren nicht gering.14 Allerdings galt dies für Flüchtlinge und Vertriebene in einem geringeren Maß als für andere Migranten in Westdeutschland. Ihre Fremdheitserfahrungen waren meist auf die Angehörigen der ersten Generation begrenzt und setzen sich nicht über Generationen fort, wie es bei vielen Nachfahren der „Gastarbeiter“-Bevölkerung bis heute der Fall ist.
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Diese partiell ähnliche, partiell unterschiedliche Rolle von Identitäts- und Zugehörigkeitskonstruktionen bei Flüchtlingen und Vertriebenen einerseits, bei Arbeitsmigranten andererseits hatte teils funktionale Gründe, teils hatte sie mit anderen Politiken der Integration und anderen Integrationsoptionen, aber auch mit unterschiedlichen Zuwanderungsmöglichkeiten zu tun. Integration und die Ausbildung von Zugehörigkeit (oder auch von Fremdheit) unterlagen also einer spezifischen Pfadabhängigkeit. So waren die Zugangstore zur Staatsangehörigkeit für Vertriebene/Flüchtlinge (und Aussiedler) einerseits und sonstige Migranten andererseits bis in die jüngste Vergangenheit sehr unterschiedlich: Der Zugang für die erstere Gruppe war relativ leicht, der Zugang für die letztere erheblich schwerer.15 Diese unterschiedlich ausgestalteten Möglichkeiten des Zugangs zu Integrationsvoraussetzungen und -maßnahmen hatten und haben bedeutende Auswirkungen auf die (politische) Mobilisierung der einzelnen Gruppen und damit auf den Zugang zu Ressourcen, die eine Repräsentation im öffentlichen Raum ermöglichen. Die schlichte Gegenüberstellung von Menschenrechtsverletzungen versus Migration greift somit zu kurz. Will man solche Fragen differenziert beantworten, so bedarf es einer Berücksichtigung der historischen Voraussetzungen und funktionalen Zusammenhänge, die die historische Repräsentation einer Gruppe ermöglichen.
Der Themenkomplex Flucht und Vertreibung ist in die Geschichte des 20. Jahrhunderts einzuordnen. Eine Historisierung des Themas (als Teil der Migrationsgeschichte) steht noch aus, obgleich es seit dem Ende des Kalten Kriegs bedeutende Ansätze zur Neu-Interpretation und zur Überwindung eingeschliffener ideologischer Sichtweisen gibt. Neben dem politischen Zusammenhang, in dem die Minderheiten- sowie die Flüchtlings- und Vertriebenenforschung der Nachkriegszeit ihren historischen Ort fanden, ist die funktionale Rolle der jüngeren deutschen Historiographie und insbesondere der Sozialgeschichte zentral,16 wenn es um die Deutung des Jahrhundertthemas Flucht und Vertreibung geht. Noch entzieht sich das Thema einer eindeutigen Zuordnung und Interpretation. Auch zukünftig wäre statt Eindeutigkeit eher eine multiperspektivische Interpretation zu wünschen, die konkurrierende Optionen für die historische Deutung offenlässt. Eine dieser Optionen ist die hier vertretene Zuordnung von Flucht und Vertreibung zur Migrationsgeschichte oder auch zur historischen Menschenrechtsbildung.
Für die enge Verknüpfung des Themas Flucht und Vertreibung mit der Migrationsgeschichte spricht des Weiteren das methodische und theoretische Rüstzeug, das die Migrationsgeschichte als Teil der Sozial- und Kulturgeschichte liefern kann. Diese Öffnung bietet die Chance, der Falle einer einseitig nationalen Betrachtung oder eines auf die Opferperspektive verengten Diskurses zu entgehen. Wie am Beispiel der deutschen Gesellschaft seit 1945 ganz besonders deutlich wird, hat die vorgeschlagene Verknüpfung zudem systematische Gründe. Die hauptsächlichen Herausforderungen zur Integration und zum sozialen Ausgleich wurden und werden durch drei Zuwanderergruppen gestellt: erstens durch die Gruppe der Flüchtlinge und Vertriebenen der unmittelbaren Nachkriegszeit; zweitens durch die „Gastarbeiter“, die zwischen 1955 und 1973 angeworben wurden; drittens durch die Aussiedler aus Ostmittel- und Osteuropa. Im Bereich der Konfliktlagen, der Integrationserfolge und -hemmnisse sowie der Strukturbedingungen von Inklusion und Exklusion sind hier durchaus ähnliche, wenn auch nicht gleiche historische Muster zu erkennen, die des Vergleichs und der gemeinsamen Analyse bedürfen, so unterschiedlich die Gruppen auch sein mögen.
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Als traumatische Erlebnisse eines Kollektivs oder einer ganzen Nation bleiben Flucht und Vertreibung allerdings schwierig zu erzählende und zu erinnernde Ereignisse. Festzuhalten ist auch, dass sich die Geschichte von Flucht und Vertreibung nicht im Akt der Migration erschöpft. Sie ist immer noch mehr, nämlich die Geschichte interethnischer Beziehungen in einem oft asymmetrischen Machtgefüge, die Geschichte von Kriegen, die Geschichte von Diskriminierung und Leid, die Geschichte von Verlust, Gewalt und Tod.
1 Siehe etwa Die Flucht: Spiegel-Serie über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, in: Spiegel, 25.3.-15.4.2002, bzw. Spiegel spezial Nr. 2/2002 (Die Flucht der Deutschen. Die Spiegel-Serie über die Vertreibung aus dem Osten). Vgl. dazu auch Stefan Aust/Stephan Burgdorff (Hg.), Die Flucht. Über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, München 2002, und Günter Grass, Im Krebsgang. Eine Novelle, Göttingen 2002.
2 Etwa „Die große Flucht. Das Schicksal der Vertriebenen“, fünfteilige ZDF-Sendereihe (Begleitband: Guido Knopp, Die große Flucht. Das Schicksal der Vertriebenen, München 2001); „Die Vertriebenen. Hitlers letzte Opfer“, dreiteilige ARD-Dokumentation, 2001 (Begleitband: K. Erik Franzen, Die Vertriebenen. Hitlers letzte Opfer. Mit einer Einführung von Hans Lemberg, Berlin 2001).
3 Siehe den Themenschwerpunkt von Zeitgeschichte-online: http://www.zeitgeschichte-online.de/md=Vertreibung-Inhalt
4 Vgl. z.B. Dierk Hoffmann/Marita Krauss/Michael Schwartz (Hg.), Vertriebene in Deutschland. Interdisziplinäre Ergebnisse und Forschungsperspektiven, München 2000; Rainer Münz/Rainer Ohliger (Hg.), Diasporas and Ethnic Migrants. Germany, Israel and post-Soviet Successor States in Comparative Perspective, London 2003; Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003) H. 1: Flucht und Vertreibung in europäischer Perspektive, 53 (2005) H. 10: Nach der Vertreibung. Geschichte und Gegenwart einer kontroversen Erinnerung, jeweils hg. von Jürgen Danyel und Philipp Ther. In den 1980er-Jahren griff der von Wolfgang Benz herausgegebene Sammelband Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen, Frankfurt a.M. 1985, das Thema auf. Der Band wurde nach dem Ende des Kalten Kriegs im Jahr 1995 in überarbeiteter Fassung nochmals veröffentlicht.
5 Vgl. dazu Mathias Beer, Im Spannungsfeld von Politik und Zeitgeschichte. Das Großforschungsprojekt „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 46 (1998), S. 345-389; ders., Die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Hintergründe - Entstehung - Ergebnis - Wirkung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 50 (1999), S. 99-117.
6 Dies gilt noch ungleich mehr für die Geschichte der deutschen Minderheiten in Ostmittel- und Osteuropa bzw. im historischen Ostdeutschland, vereinfachend gesagt also für die Vorgeschichte von Flucht und Vertreibung. Vgl. dazu u.a. das nicht abgeschlossene „Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums“ aus der Zwischenkriegszeit und als Zeichen der Kontinuität bis in die Nachkriegszeit Friedrich Edding/Eugen Lemberg (Hg.), Die Vertriebenen in Westdeutschland. Ihre Eingliederung und ihr Einfluß auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Geistesleben, 3 Bde., Kiel 1959.
7 Peter Schöttler, Geschichtswissenschaft als Legitimationswissenschaft, Frankfurt a.M. 1997; Willi Oberkrome, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen 1993; ders., Historiker im „Dritten Reich“. Zum Stellenwert volkshistorischer Ansätze zwischen klassischer Politik- und Sozialgeschichte, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 50 (1999), S. 74-98; Michael Fahlbusch, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931-1945, Baden-Baden 1999; ders., „Wo der Deutsche ... ist, ist Deutschland!!“ Die Stiftung für Deutsche Volks- und Kulturbodenforschung in Leipzig 1920-1933, Bochum 1994; Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle (Hg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. 1999 (hervorgegangen aus dem mittlerweile legendären Podium gleichen Titels beim 42. Deutschen Historikertag im September 1998); Manfred Hettling (Hg.), Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit, Göttingen 2003.
8 Auf einer völlig anderen Ebene liegt die Frage, welche Funktion bei der Rekonstruktion nationaler Identität es gehabt hat, dass die Vertriebenen als „eigene Opfer“ in die westdeutsche Tätergesellschaft der Nachkriegszeit integriert worden sind. Vgl. dazu Rainer Münz/Rainer Ohliger, Auslandsdeutsche, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München 2001, S. 370-388.
9 „Kulturzeit“, ausgestrahlt auf 3sat am 17.12.2003. Die Frage an Steinbach lautete: „Die Museumsplaner können sich vorstellen, dass auch Flucht und Vertreibung ein Thema für ein Migrationsmuseum wäre. Ist es möglich, dass man sowohl das geplante Zentrum gegen Vertreibungen als auch das noch nicht existierende Museum für Migration unter einem gemeinsamen Dach realisiert? Die Vertriebenenverbände wehren sich gegen eine Vereinnahmung.“ Steinbachs Antwort: „Da bin ich skeptisch. Ich glaube, das sind zwei Themenkreise, die miteinander wenige Berührungspunkte haben. Vertreibung ist eine schwere Menschenrechtsverletzung, Migration ist in aller Regel etwas sehr Freiwilliges. Es ist aus wirtschaftlichen Gründen bedingt. Vertreibung erfolgt unter Gewalt, unter Druck, unter Bedrohung des Lebens. Und insofern sehe ich da wenig Berührungspunkte.“
10 Dieter Bingen/Wodzimierz Borodziej/Stefan Troebst (Hg.), Vertreibungen europäisch erinnern? Historische Erfahrungen - Vergangenheitspolitik - Zukunftskonzeptionen, Wiesbaden 2003.
11 Siehe zu einem solchen vergleichenden Ansatz Jan Motte/Rainer Ohliger/Anne von Oswald (Hg.), 50 Jahre Bundesrepublik - 50 Jahre Einwanderung. Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte, Frankfurt a.M. 1999.
12 Allerdings zeigte das zähe Ringen um das im Jahr 2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz, dass dieser terminologische Konsens nicht allzu tragfähig ist. Die begriffliche Neuschöpfung der „Zuwanderung“ scheint auch eine Folge der noch bestehenden Vorbehalte gegen den Begriff der Migration zu sein, der in Teilen der deutschen Gesellschaft offenbar mit negativen Assoziationen verbunden wird.
13 Aytaç Eryilmaz/Mathilde Jamin (Hg.), Fremde Heimat. Eine Geschichte der Einwanderung aus der Türkei, Essen 1998; Albrecht Lehmann, Im Fremden ungewollt zu Haus. Flüchtlinge und Vertriebene in Westdeutschland 1945-1990, München 1991.
14 Vgl. zum Mythos der schnellen Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen sowie zur Entzauberung dieses Mythos die Arbeiten von Paul Lüttinger, Der Mythos der schnellen Integration. Eine empirische Untersuchung zur Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland bis 1971, in: Zeitschrift für Soziologie 15 (1986), S. 20-36; ders., Integration der Vertriebenen. Eine empirische Analyse, Frankfurt a.M. 1989.
15 Bei dieser dichotomen Theorie über den Zugang zur deutschen Staatsangehörigkeit handelt es sich natürlich um eine idealtypische Zuspitzung, die in der Realität nicht unbedingt und zu jeder Zeit ihre Entsprechung fand. Für eine zugespitzte Fassung dieses Idealtypus siehe Rogers Brubaker, Staats-Bürger. Deutschland und Frankreich im historischen Vergleich, Hamburg 1994. Die realgeschichtliche Wende von der vorwiegend ethnokulturellen und damit exklusiven Ausgestaltung der deutschen Staatsangehörigkeit hin zu einer stärker inklusiven, politisch definierten Staatsangehörigkeit vollzog sich in einem ersten Schritt durch die Einführung eines neuen Ausländergesetzes im Jahr 1990, das die Einbürgerung von Ausländern ermöglichte und erleichterte. Ein zweiter entscheidender und großer Schritt war die Einführung eines neuen Staatsangehörigkeitsgesetzes im Jahr 2000.
16 Zur Debatte um den Erfolg und das Versagen der Geschichtswissenschaft bei der Erforschung der Geschichte von Flucht und Vertreibung siehe Rainer Ohliger, Osteuropaforschung als „Deutschtumsforschung“? Zwei Debatten von außen betrachtet, in: Osteuropa 50 (2000), S. 1048-1055; Michael Schwartz, Vertreibung und Vergangenheitspolitik: Ein Versuch über geteilte deutsche Nachkriegsidentitäten, in: Deutschland Archiv 30 (1997), S. 177-195; Alfred Theisen, Die Vertreibung der Deutschen - ein unbewältigtes Kapitel europäischer Zeitgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 45 (1995) H. 7-8, S. 20-33; Edgar Wolfrum, Zwischen Geschichtsschreibung und Geschichtspolitik: Forschungen zu Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Archiv für Sozialgeschichte 36 (1996), S. 500-522.