„Auf einer Weltkarte ist Europa kaum zu sehen“ - so lautet der erste Satz eines Essays zur europäischen Geschichte, den der französische Historiker Fernand Braudel in den 1980er-Jahren verfasste und der erst kurz nach seinem Tod veröffentlicht wurde. Braudel beschränkt sich nicht darauf, jene geographische Ausgangsposition des Kontinents weiter zu erläutern, die in den vergangenen Jahrhunderten den Schauplatz vielfältiger europäischer Geschichte bildete. Vielmehr zeigt er, wie sehr Europa beständig „über seine räumlichen Grenzen hinausgegriffen“ habe. Braudels Europa ist auch im ausgehenden 20. Jahrhundert noch fast überall, obwohl der Kontinent mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und im Zuge der Dekolonisation vermeintlich in seine alten Grenzen zurückverwiesen worden war.1
Braudels Überlegungen, so antiquiert oder gar eurozentrisch sie im beginnenden 21. Jahrhundert erscheinen mögen, bergen für die zeithistorische Forschung weiterhin ein provokatives Potenzial. Denn Braudels Charakterisierung Europas als kleinem Fleck auf der Weltkarte nahm bildlich gesehen die viel beachtete Forderung Dipesh Chakrabartys vorweg, dass es „Europa zu provinzialisieren“ gelte.2 Mit diesem programmatischen Appell ist ein in jüngster Zeit oft diskutierter Perspektivenwechsel verbunden, der die verbreitete Forderung nach einer Europäisierung der Zeitgeschichte in einen neuen Kontext rückt. Europäische Geschichte ist demnach untrennbar mit der Geschichte anderer Weltregionen und Kontinente verknüpft. Europaenthusiasten wie Europaskeptikern mag diese Blickerweiterung zusagen oder nicht. Auf jeden Fall verbietet es eine solche Perspektivierung, europäische Geschichte als schlichte Legitimationswissenschaft zu betreiben - ein Vorwurf, der neuerdings des Öfteren formuliert worden ist.3
Wie das Verhältnis von europäischer Geschichte, außereuropäischer Geschichte und Weltgeschichte historiographisch genauer bestimmt werden kann, diskutieren im Folgenden Andreas Eckert, Biray Kolluoglu-Kirli, Dominic Sachsenmaier und Hartmut Kaelble. Mit unterschiedlichen Schwerpunkten zeigen sie die Chancen, aber auch die Probleme im Umgang mit diesen neu entdeckten oder noch zu entdeckenden Verbindungen auf. Die hier veröffentlichten Beiträge sollen zu weiteren Debatten anregen: Wie kann eine europä-ische Geschichte des 20. Jahrhunderts geschrieben werden, die nicht auf das vermeintlich fixierbare kontinentale Europa beschränkt ist, sondern all jene Bezüge ernst nimmt, die Europäer mit Nicht-Europäern verbanden - sowohl außerhalb als auch innerhalb Europas? Ein Bindeglied der vier Stellungnahmen ist die Frage, was die europäische Zeitgeschichtsforschung lernen kann, wenn sie sich gegenüber anderen historiographischen Zugängen und geographischen Ausgangspunkten nicht abschließt. Weitere Diskussionsanstöße zu diesem Thema sind erwünscht und können nach redaktioneller Prüfung auf der Website unserer Zeitschrift veröffentlicht werden.
Rezensionen zum Thema bei „H-Soz-u-Kult“
Conrad, Sebastian; Randeria, Shalini (Hg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Campus 2002 [David Simo]
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-1-008
Fuchs, Eckhardt; Stuchtey, Benedikt (Hg.): Across Cultural Borders. Historiography in Global Perspective, Lanham: Rowman & Littlefield 2002 [Astrid Meier]
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-1-108
Loth, Wilfried; Osterhammel, Jürgen (Hg.): Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Aussichten, München: Oldenbourg 2000 [Guido Müller]
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=3668
Osterhammel, Jürgen: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaates. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001 [Thorsten Bathmann]
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/NG-2002-032
Osterhammel, Jürgen; Petersson, Niels P.: Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München: C.H. Beck 2003 [Mark Spoerer]
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-1-044
Raphael, Lutz: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorie, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München: C.H. Beck 2003 [Reinhard Mehring]
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-2-198
1 Fernand Braudel, Europa erobert den Erdkreis, in: ders. (Hg.), Europa. Bausteine seiner Geschichte, Frankfurt a.M. 1989, S. 7-39, hier S. 7, S. 8, S. 12.
2 Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000.
3 Vgl. etwa Michael Mitterauer, Die Entwicklung Europas - ein Sonderweg? Legitimationsideologien und die Diskussion der Wissenschaft, Wien 1999.