„Was machen Sie eigentlich noch außer Afrika?“, fragte mich vor einigen Jahren ein jeder Ironie unverdächtiger Professor für Neuere, also vor allem deutsche Geschichte. Denn noch immer gilt in der „Zunft“ deutscher Historiker zwar als breit ausgewiesen, wer seine Forschungsschwerpunkte etwa im Kaiserreich und in der DDR-Geschichte hat - die Beschäftigung mit fast 50 Ländern südlich der Sahara (oder analog etwa mit Lateinamerika) über mehrere Jahrhunderte hinweg wird in der Regel als exotisches Laster angesehen, dem allenfalls ergänzend zu frönen sei. Nun ist Provinzialismusschelte auf die Dauer für alle Beteiligten ermüdend; der Nachweis etwa, dass hierzulande ausgerechnet methodisch als besonders progressiv daherkommende Fachorgane sich als regional besonders introspektiv, nämlich germanozentrisch erwiesen haben, ist ohnehin längst - und sine ira et studio - geführt worden.1
Zwar fehlt es inzwischen nicht an programmatischen Aufrufen, eine Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaates zu etablieren. Die deutsche Nationalgeschichte macht dennoch weiterhin den quantitativ mit großem Abstand wichtigsten Bereich der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft aus, besonders auch der Zeitgeschichte.2 Daneben erlebt die europäische Geschichte hierzulande seit mehreren Jahren einen Boom, der sich nicht allein in zahllosen neuen Buchreihen, Monographien und Sammelbänden manifestiert,3 sondern auch in entsprechenden Stellenbeschreibungen. Professionelle Historiker bestimmen die Europa-Diskussion in der intellektuellen Öffentlichkeit. Dieser Befund ist an und für sich sehr erfreulich; dennoch soll hier etwas Wasser in den Wein allzu voreiliger Euphorie gegossen werden. Denn der alte nationalgeschichtliche Diskurs bzw. nationalgeschichtliche Logiken sind in den jüngeren Studien und Essays zu Europa kaum zu übersehen. Christian Geulen hat gar den Verdacht geäußert, „ob man in den letzten fünfzehn Jahren vielleicht deshalb so genau die Erfindung nationaler Traditionen in der Vergangenheit untersucht hat, um zu lernen, wie man - nun mit Blick auf Europa - so was macht“.4 Steht das Projekt Europa tatsächlich, wie immer wieder verkündet wird, für die Überwindung des Nationalen und nationaler Konflikte? Oder werden wir nicht gerade Zeugen, wie Nationalismus, oft gepaart mit Rassismus, auch in europäischen Kernländern eine neue Dynamik entfaltet? Kommt der Nationalstaat nun lediglich im europäischen Gewande daher?5
Das führt zur Frage, was „Europa“, was „europäisch“ eigentlich ist. Die, die es wissen müssen, sind sich weitgehend einig: Europa gibt es nicht. „Europa war immer und ist ein Konstrukt“, schreibt etwa Jürgen Kocka und fügt hinzu, dass Europa vor allem in unseren Köpfen liege: „In der Beschreibung Europas vermischten und vermischen sich fast immer Befunde mit Absichten, Bestandsaufnahmen mit Entwürfen. Auch deshalb wechseln sie je nach Standort und verändern sich mit der Zeit.“6 Was Europa jenseits seiner ungemeinen Diversität ausmacht, ist unklar. Ute Frevert hält fest, dass Europa sich in der Vergangenheit vor allem durch die Abgrenzung von anderen definierte: „Europäische Identifikationen bildeten sich - mal stärker, mal schwächer - in der Konfrontation mit Nicht-Europäern heraus.“7 Mit anderen Worten: Man fühlte sich als Europäer, weil man nicht Amerikaner, Asiate oder Afrikaner, weil man nicht Moslem, Hindu oder Buddhist war. Die vielfältigen Selbstkonstruktionen in Auseinandersetzung und Abgrenzung von den „Anderen“ sind ein bereits lange etabliertes Thema historischer Forschung, durchaus auch hierzulande. Jürgen Osterhammel hat in seinem großen Buch über die „Entzauberung Asiens“ die Ursprünge des europäischen Sonderbewusstseins freigelegt und nachgezeichnet, wie sich Europa auf der Projektionsfläche Asien als die Kultur universaler Ordnungsstiftung entwarf.8 Die von Großhistorikern dominierte jüngste Debatte über den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union hat noch einmal mit Nachdruck die Frage auf die Agenda gesetzt, wo die Grenze zwischen „Europa“ und „Nichteuropa“ verläuft.9 Welche Kriterien sind hier relevant? Und wer hat die Deutungsmacht?
2
Vor diesem Hintergrund ist nun auch darüber nachzudenken, wie eine Zeitgeschichtsforschung, die sich das Etikett „europäisch“ anheften möchte,10 mit den Geschichten in jenen Teilen der Welt in Dialog treten kann, die als „außereuropäisch“ bezeichnet werden. „Außereuropa“ gibt es natürlich ebenso wenig wie Europa. Die einen sehen Außereuropa als letztlich alternativlosen Hilfsbegriff, die anderen sehen diesen Terminus hingegen als Teil des Problems, weil die Vielfalt der Regionen und Kulturen dahinter gänzlich verschwindet, gleichsam eingefriedet wird. „Außereuropäische Geschichte“, schreibt Jürgen Osterhammel, „bündelt allzu Heterogenes: Zivilisationen, die wenig mehr gemeinsam haben, als irgendwann im Laufe der Neuzeit einmal Zielgebiete der europäischen Zivilisation gewesen zu sein. [...] ‚Außereuropäische Geschichte‘ ist eine eurozentrische Restkategorie, ein großer Sack, in dem das angeblich Fremde, Exotische, weniger Geschichtsmächtige verschwindet, eine modernisierte Variante der Rede von den ‚geschichtslosen Völkern‘, die sich das 19. Jahrhundert ausgedacht hatte.“11
So berechtigt diese Kritik ist, so würde ich dennoch für einen pragmatischen Umgang mit den Begriffen „europäisch“ und „außereuropäisch“ plädieren, solange man diese nicht als vorgängig bestehende Einheiten auffasst, sondern als „diskursive Abgrenzungen, die als Teil einer ‚geteilten Geschichte‘ entstanden und im alltäglichen und wissenschaftlichen Sprachgebrauch festgeschrieben wurden“.12 Wenn ich als Historiker, der sich vorwiegend mit der Geschichte Afrikas beschäftigt, einige Wünsche an den Dialog zwischen europäischer und außereuropäischer Geschichte herantragen dürfte, würde ich folgende Aspekte betonen:
• Philip D. Curtin, Autor grundlegender Werke zur afrikanischen Geschichte und zum Sklavenhandel sowie in den Vereinigten Staaten einer der Wegbereiter der Weltgeschichte, beklagte vor rund 20 Jahren in seiner damaligen Funktion als Vorsitzender der „American Historical Association“, dass die meisten Historiker einen der Grundwerte ihres Faches aus den Augen verloren hätten. Denn überall werde einer engen Spezialisierung gefrönt, anstatt Vielseitigkeit als zentrale Tugend der Geschichtswissenschaft zu pflegen. Historische Kompetenz erfordere die Balance zwischen detaillierten Kenntnissen über ein spezifisches Thema und einem weit gespannten Wissen über andere geschichtliche Felder. Doch werde der Blick über den Gartenzaun der eigenen regionalen Expertise nur allzu selten gewagt: USA-Historiker griffen nie zu einem Buch über Indien, Afrika-Spezialisten nähmen keine Notiz von neueren Arbeiten zur europäischen Geschichte.13 Dieser Text scheint mir nichts von seiner Aktualität verloren zu haben. Zeithistoriker Europas müssten demgemäß eine Haltung der Offenheit und Neugier gegenüber historischen Problemlagen im „Rest der Welt“ entwickeln, müssten stärker die Ergebnisse der Forschungen zu anderen Regionen dieser Welt zur Kenntnis und ernst nehmen, mithin Amerika, Afrika, Asien und Ozeanien in ihren Horizont integrieren.
3
• Ein solches Interesse könnte rasch jenen Effekt produzieren, der im Anschluss an Dipesh Chakrabarty auch hierzulande verstärkt mit dem Schlagwort der „Provinzialisierung Europas“ verbunden wird.14 Diese „Provinzialisierung“ bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Zeitgeschichte Euro-pas plötzlich irrelevant würde. Aber sie ermöglichte ein verstärktes Bewusstsein über den vielleicht nicht immer zentralen Platz Europas in der Weltgeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.15 Parallel könnte jener verbreiteten Tendenz entgegengewirkt werden, die Geschichte Europas (analog zur Nationalgeschichte) gleichsam aus sich selbst heraus zu erklären. Stattdessen wäre die konstitutive Rolle der Verflechtungen zwischen „Europa“ und der außereuropäischen Welt zu berücksichtigen.
• Die jüngst auch in Deutschland begonnenen Debatten zu Global- und Weltgeschichte haben die Sensibilität für diese Verflechtungen erhöht.16 Europa realisierte sich, so schreibt etwa Albert Wirz, „in der Welt, in der Auseinandersetzung mit anderen Gesellschaften jenseits der eigenen Grenzen. [...] die europäische Expansion nach Übersee [...] veränderte die Welt und mit ihr Europa.“17 Die enge Verflechtung von kolonialem Empire und nationaler Gesellschaft in Europa ist besonders intensiv für das Britische Weltreich untersucht worden.18 Für die Zeitgeschichte nach 1945 ergeben sich eine ganze Reihe von Themenfeldern, für die diese Verknüpfungen bereits thematisiert wurden oder noch untersucht werden könnten. Die Dekolonisation mit den daraus folgenden Migrationsbewegungen aus den ehemaligen Kolonien in die Metropolen darf in diesem Zusammenhang sicherlich besondere Aufmerksamkeit beanspruchen. Jüngere Studien zu afrikanischen Migranten in Frankreich betonen zum Beispiel die engen Netzwerke zwischen den beiden Kontinenten Afrika und Europa, die sich im Rahmen einer engen europäischen Perspektive nicht adäquat erfassen lassen.19 Dies gilt ebenso für die Geschichte afrikanischer Studenten in Europa, denen die Hochschulen in Edinburgh, London oder Paris einen Rahmen boten, in dem sie anti-kolonialen Aktivitäten nachgehen und europäische Öffentlichkeiten und Politiker auf die Situation in den Kolonien und den Rassismus in Europa aufmerksam machen konnten und gleichzeitig nationalistische Politik in ihren afrikanischen Heimatländern verfolgten.20
• Die Internationalisierung und der koloniale Export europäischer Sozialstaatlichkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wäre ebenfalls ein Gegenstand, für den ein Dialog zwischen europäischer und außereuropäischer Geschichte unabdingbar ist. An diesem Thema lassen sich wichtige Aspekte der Sozialgeschichte Europas in den „trentes glorieuses“ nach dem Zweiten Weltkrieg aufzeigen. Dazu zählen internationale Verknüpfungen, personalisiert etwa in der Rolle von Sozialexperten/-innen, das Spannungsfeld von nationaler Zentrierung und transnationalen Prozessen, die Systemkonkurrenz, die Frage der Sprachen des Wohlfahrtstaates und der Aufstieg des Konzeptes „Entwicklung“. Erst im Rahmen der Internationalisierung von Sozialpolitik und in den Debatten über die Erfahrungen in den Kolo-nien und Postkolonien entwickelte sich eine (immer wieder neu auszuhandelnde) Übereinkunft darüber, wie eine europäische Sozialstaatlichkeit auszusehen habe.21
4
Der Themenkatalog soll hier nicht weiter fortgeführt werden. Besonders wichtig scheint mir, dass die künftige europäische Zeitgeschichtsschreibung sich nicht auf eine historische Identitätsproduktion Europas beschränken darf, sondern, forschungspragmatisch gesprochen, auf spezifischere Themenbereiche fokussieren muss - wie etwa soziale Ordnungen, Arbeit, Migration. Derartige Zugänge dürften die Einbeziehung von Verflechtungen zwischen Europa und anderen Weltregionen erleichtern. Dazu bedarf es freilich nicht nur der Bereitschaft von Europa-Historikern/-innen zu Offenheit und Auseinandersetzung mit den Geschichten der „Anderen“, sondern ebenso der Bereitschaft von Spezialisten der außereuropäischen Regionen, an einem solchen Dialog teilzunehmen.
1 Vgl. Lutz Raphael, Nationalzentrierte Sozialgeschichte in programmatischer Absicht. Die Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft“ in den ersten 25 Jahren ihres Bestehens, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 5-37; auch Jürgen Osterhammel, Transnationale Gesellschaftsgeschichte: Erweiterung oder Alternative?, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 464-479, hier S. 465f. Inzwischen ist der Anteil der „nicht-deutschen“ und nicht zuletzt der „außereuropäischen“ Geschichte in „GG“ deutlich angestiegen.
2 Nehmen wir als Beispiel den Band von Martin Sabrow/Ralph Jessen/Klaus Große Kracht (Hg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, München 2003, wo lediglich ein letzter Abschnitt „Tabu und Kontroverse in europäischer Perspektive“ gewidmet ist, diese Perspektive aber in der Addition nationalgeschichtlicher Themen besteht.
3 Dazu sehr gut Jürgen Zimmerer, Hier wird gebaut. Wie der Buchmarkt dem europäischen Sinndefizit abhelfen will, in: Literaturen Nr. 7-8/2003, S. 46-51.
4 Christian Geulen, Zwischen Wahn und Wahrheit. Die entstellte Wiederkehr der Vergangenheit: Europa als Wille und Vorstellung kommt vom Prinzip der Nation nicht los - obwohl es sich als dessen Überwindung begreift, in: Frankfurter Rundschau, 18.12.2002.
5 Vgl. Etienne Balibar, Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen, Hamburg 2003.
6 Jürgen Kocka, Europa und die Anderen. Historische Perspektiven, in: Daniela Münkel/Jutta Schwarzkopf (Hg.), Geschichte als Experiment. Studien zu Politik, Kultur und Alltag im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2004, S. 259-265, hier S. 264.
7 Ute Frevert, Eurovisionen. Ansichten guter Europäer im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2003, S. 23.
8 Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998.
9 Siehe dazu auch den Diskussionsbeitrag von Biray Kolluoglu-Kirli in dieser Ausgabe.
10 Für einen gedankenreichen Aufriss eines solchen Projektes vgl. Jost Dülffer, Europäische Zeitgeschichte - Narrative und historiographische Perspektiven, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 1 (2004), S. 51-71.
11 Jürgen Osterhammel, Vorwort, in: ders., Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich, Göttingen 2001, S. 8.
12 Sebastian Conrad/Shalini Randeria, Geteilte Geschichten - Europa in einer postkolonialen Welt, in: dies. (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M. 2002, S. 9-49, hier S. 11.
13 Philip D. Curtin, Depth, Span, and Relevance, in: American Historical Review 89 (1984), S. 1-9.
14 Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton 2000.
15 Für die Historiographiegeschichte hat Lutz Raphael unlängst dieses Bewusstsein demonstriert. Vgl. seine Studie: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003.
16 Conrad/Randeria, Geteilte Geschichten (Anm. 12), nennen die wichtigste Literatur. Siehe auch den Diskussionsbeitrag von Hartmut Kaelble in dieser Ausgabe.
17 Albert Wirz, Für eine transnationale Gesellschaftsgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 489-498, hier S. 492f.
18 Benedikt Stuchtey, Nation und Expansion. Das britische Empire in der neuesten Forschung, in: Historische Zeitschrift 274 (2002), S. 87-118, fasst die wichtigste Literatur zusammen.
19 Vgl. z.B. François Manchuelle, Willing Migrants. Soninke Labor Diasporas, 1840-1960, Oxford 1998; Janet MacGaffey/Rémy Bazenguissa-Ganga, Congo - Paris. Transnational Traders on the Margins of Law, Oxford 2000.
20 Vgl. Andreas Eckert, Universitäten und die Politik des Exils. Afrikanische Studenten und anti-koloniale Politik in Europa, 1900-1960, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 7 (2004), S. 129-145.
21 Vgl. zu dieser Debatte u.a. Frederick Cooper, Decolonization and African Society. The Labor Question in French and British Africa, Cambridge 1996; ders./Randall Packard, International Development and the Social Sciences. Essays on the History and Politics of Knowledge, Berkeley 1997; Johannes Jäger u.a. (Hg.), Sozialpolitik in der Peripherie, Wien 2001.