1. Konsensstrategien zu Beginn der Koalition
2. Der Koalitionsausschuss und sein Umfeld
3. Nichtinstitutionalisierte Gespräche und Strategien gegen Ende der Koalition
4. Bilanz und Ausblick
Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, eingerahmt von Willy Brandt und Herbert Wehner bei der ersten Kabinettssitzung am 7.11.1966 (Foto: SV-Bilderdienst)
Der Bonner Korrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Walter Henkels, schrieb am Ende der ersten Großen Koalition, deren Regierung sei „etwas für Feinschmecker“, denn „zwei Parteien, die sich siebzehn Jahre erbittert bekämpft haben, unter einen Hut zu bringen, dazu bedarf es mehr als einiger schöner Trinksprüche“.1 Das Unter-einen-Hut-Bringen gelang 1966-1969 in vielen Politikfeldern erstaunlich gut. Das Kabinett Kiesinger/Brandt hatte sich zu Beginn darauf geeinigt, seine gemeinsamen Vorhaben nicht in einem Koalitionsvertrag festzulegen. Als Ersatzkontrakt diente die erste Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966. Alle dort erwähnten Vorhaben - darunter sehr ambitionierte Projekte wie die Notstandsgesetzgebung und die Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern - konnten im Laufe der folgenden fast drei Jahre umgesetzt werden. Einzige Ausnahme blieb die Reform des Wahlrechts, zu der sich keine der beiden Seiten durchringen konnte. Dafür wurde eine Vielzahl weiterer Gesetze verabschiedet; erwähnt seien nur das Verkehrspolitische Programm (so genannter Leber-Plan), die Strafrechtsreform und das Ausbildungsförderungsgesetz. Insgesamt kann sich die legislative Bilanz mit zwölf Verfassungsänderungen und etlichen weitreichenden Gesetzen sehen lassen. Unabhängig davon, wie der inhaltliche Ertrag des politischen Bündnisses im heutigen Rückblick zu bewerten sein mag, zählt die Zeit der Ersten Großen Koalition zu den „innenpolitisch innovationsfreudigsten Phasen der bundesdeutschen Geschichte“.2
Dieses Ergebnis lässt sich nicht allein durch den „Zwang zum Erfolg“ und die breiten Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat erklären.3 Wie Kanzler Kiesinger ausführte, lag das „wirkliche Problem in der verschiedenen Tradition und Problematik dieser beiden großen Parteien, die ja dadurch, daß sie eine Große Koalition gebildet haben, sich nicht selbst aufgegeben haben“.4 Die Zusammenarbeit bedurfte „mühseliger Kompromißverhandlungen“;5 die Koalition konnte „ihre Leistung immer nur nach Überwindung innerer Konflikte erbringen“.6 Auseinandersetzungen ergaben sich nicht nur aus den „verschiedenen Traditionen“, sondern auch aus der aufgewühlten Zeitsituation. Vor allem die Sozialdemokratie hatte gegen den Vorwurf zu kämpfen, in eine „miese Ehe“ mit der Union eingetreten zu sein (Günter Grass).7 Die Konfrontation mit der 68er-Bewegung machte dem politischen Bündnis nicht zuletzt bei der Verabschiedung der Notstandsgesetzgebung zu schaffen. Die gesellschaftlichen Veränderungen im zweiten Jahrzehnt des Bestehens der Bundesrepublik betrafen zwar weite Teile der Bevölkerung,8 aber am auffallendsten die Studentengeneration. Dabei war die schwarz-rote Regierung mit der schwachen Opposition im Bundestag nicht der Auslöser für die - bekanntlich internationale - Revolte, aber doch ein verstärkendes Element neuer Politikverständnisse und Partizipationsansprüche.9
Im Folgenden soll es vor allem um die formale Seite des politischen Entscheidungshandelns gehen. Welche Strategien wandte die Große Koalition an, um Konflikte zu bewältigen und Kompromisse zu finden? Welche Kommunikationswege nutzte sie, um zu einem Konsens zu gelangen? Inwieweit kamen der Regierung Kiesinger/Brandt dabei äußere Umstände zugute? Diese Fragen sind besonders vor dem Hintergrund der zweiten Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD seit dem Herbst 2005 interessant. Das von Angela Merkel und Franz Müntefering geführte Kabinett steht bei der Konsensfindung vor ähnlichen koalitionstechnischen Herausforderungen wie der Vorgänger zwischen 1966 und 1969, auch wenn sich die weltanschaulichen Gegensätze inzwischen abgeschwächt haben.
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Das interne Zusammenspiel der ersten Großen Koalition wird in der Forschung seit einigen Jahren diskutiert;10 dies soll hier mit Blick auf alle wichtigen Entscheidungsträger vertieft werden. Der gesellschaftliche Umbruch der 1960er-Jahre beinhaltete eine Abkehr von der paternalistischen Kanzlerdemokratie Adenauerscher Prägung hin zu einem staatlichen Handeln, welches sich stärker am „government by discussion“ orientierte. Dieser Wandel des Staatsverständnisses begann sich während der Regierung Kiesinger/Brandt auszuprägen und hatte über die sozialliberale Koalition hinaus Bestand.11 Die nähere Analyse der „diskutierenden Regierung“ der Großen Koalition, die hier versucht wird, ist auch als Beitrag zu einer Kulturgeschichte der Politik bzw. des Politischen zu verstehen; es soll besonders um die koalitionsinternen Kommunikationsstrukturen und Entscheidungsstrategien gehen.12
1. Konsensstrategien zu Beginn der Koalition
Karikatur von Wilhelm Hartung, o.D.
Um die Zustimmung zur Koalition mit der CDU und CSU zu erhalten, betonte Helmut Schmidt im November 1966 vor seiner Fraktion, „die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers sollte man in einer Großen Koalition nicht überschätzen. Es gibt keine Richtlinien gegen Brandt und Wehner.“13 In der Tat ist es zutreffend, dass die Macht des Regierungschefs in einer Großen Koalition relativ bescheiden ist.14 Es bedurfte eines neuen Regierungsstils; der künftige Bundeskanzler hatte die Rolle eines „Moderator Germaniae“15 auszufüllen. Trotz mancher Diskussionen zwischen den Koalitionspolitikern über die Richtlinienkompetenz wirkte Kurt Georg Kiesinger in seiner Stellung als „wandelnder Vermittlungsausschuss“.16 Dieser Bezeichnung lag Kiesingers Ausspruch zugrunde, „durch Vermittlung zu führen“.17 Für den SPD-Fraktionsvorsitzenden Schmidt war der Schwabe deswegen „ein geeigneter Typ, weil er nach Ausgleich strebt und sich bemüht, durch Diskussion und durch Austausch von Argumenten zu gemeinsam akzeptablen Lösungen zu kommen“.18
Kiesinger selbst beschrieb seine Situation vor der CDU/CSU-Fraktion folgendermaßen: „Ein Kanzler der Großen Koalition hat keine grande querelle, aber er hat 100 petites querelles; er hat sie mit allen und jedem Tag um Tag.“ Gerade deshalb bemühe er sich immer, „diese Querelen möglichst in Camera Caritatis abzumachen“.19 Die Strategie, atmosphärische Störungen der Koalition hinter verschlossenen Türen und nicht in der Öffentlichkeit beizulegen, half der schwarz-roten Allianz, Auseinandersetzungen nicht zu wirklichen Konflikten eskalieren zu lassen.20 Dass Meinungsverschiedenheiten nicht öffentlich ausgetragen wurden, war für die Große Koalition nach Kiesingers Einschätzung besonders wichtig, da „unser deutsches Volk in der Politik immer noch eine paternalistische Einstellung hat. Es erwartet vom Kanzler, daß er die Rolle eines guten Hausvaters spielt, der das Haus in Ordnung hält.“21
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Als das Kabinett Kiesinger/Brandt am 1. Dezember 1966 seine Arbeit aufnahm, hatte man nicht nur auf einen Koalitionsvertrag verzichtet, sondern auch auf einen Koalitionsausschuss. Obwohl es bereits im letzten Kabinett Adenauers beides gegeben hatte, klärten die Koalitionspartner nun „sehr nachdrücklich [...], daß es keinen Koalitionsausschuß geben werde, in dem etwa anstehende Gesetze vorberaten, vorverhandelt und quasi abgeschlossen werden“.22 Die neue Regierung wollte die bereits bestehenden Vorbehalte in der Öffentlichkeit23 nicht noch durch einen möglichen Vergleich mit Österreich schüren. Dort war die Große Koalition gerade 1966 nach langer Zeit beendet worden. In ihr waren Entscheidungen hinter verschlossenen Türen ausgehandelt worden.24
Im ersten Dreivierteljahr wurden Entscheidungen auf der Grundlage der Regierungserklärung getroffen. In dieser Zeit sollte das Kabinett als gemeinsamer Ausschuss der Koalition dienen. Dies hatte den Nachteil, dass die starken und selbstbewussten Fraktionsvorsitzenden nicht in den Entscheidungsprozess eingebunden waren.25 Als sich zudem Meinungsunterschiede im Bereich der gemeinsam festgelegten Deutschland- und Außenpolitik ergaben, kündigte sich ein Scheitern des Entscheidungssystems „Kabinett“ an. Kiesinger war nun daran gelegen, die Fraktionsvorsitzenden aus ihrer distanzierten Loyalität zur Regierung heraus in den Willensbildungs- und Entscheidungsprozess zu integrieren und auch das Gespräch mit dem Koalitionspartner auf eine andere Ebene zu verlagern.26 Ferner schien ein eher informeller Austausch zwischen Kiesinger und Brandt nötig, die sich sonst selten außerhalb des Kabinetts sahen. Deswegen kam es zur Bildung des Koalitionsausschusses, des so genannten Kreßbronner Kreises - benannt nach Kiesingers Urlaubsort am Bodensee, wo im August 1967 erste Gespräche aufgenommen wurden.27
Wie die Regierung der Großen Koalition erfahren musste, beruhen Erfolg und Effizienz jeder Koalition auf der Qualität der zwischen den Partnern in wichtigen Sachfragen ausgehandelten Vereinbarungen. Daher erwies sich die „Kunst des Kompromisses“28 als ausschlaggebender Faktor. Nachdem sich das Kabinett dafür als nicht praktikabel erwiesen hatte, benötigte das Bündnis vor allem eine handlungsfähige Koordinierungsstelle.29 So verlagerten die Koalitionsparteien ihren Schwerpunkt vom Kabinett auf den Koalitionsausschuss - trotz des von den Medien beklagten Verlusts der Öffentlichkeit von Entscheidungen.30 Obwohl dieses Verfahren anfangs nicht gutgeheißen wurde, kann insgesamt doch von einer wohlwollenden medialen Begleitung der schwarz-roten Politik und ihrer Verfahrensweise gesprochen werden. Nach dem Koalitionschaos vom Sommer 1967 wurde die Gründung eines Abklärungsgremiums begrüßt.31
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2. Der Koalitionsausschuss und sein Umfeld
Um den Koalitionsschuss als neue Koordinierungsstelle herum entstand ab Herbst 1967 ein informelles Kommunikationsgeflecht. Die Arbeit des Koalitionsnetzwerkes begann in Parlamentswochen am Dienstagmittag mit der Zusammenkunft der Fraktionsvorsitzenden. Barzel und sein Erster Stellvertreter, Richard Stücklen, besprachen sich vor der Sitzung des Kreßbronner Kreises um 13 Uhr mit Schmidt und dessen Erstem Stellvertreter, Alex Möller.32 Ziel war es, ihr Vorgehen hinsichtlich der Programmpunkte der Fraktionstagesordnung gemeinsam abzuklären und Strategien für die Umsetzung festzulegen.33 In diesen Gesprächen wurden die Prioritäten der legislativen Arbeit der folgenden Woche vorbesprochen sowie die Kompromisse ausgehandelt, über welche die Fraktionen dann zu entscheiden hatten.34 Der Termin für das Treffen der Fraktionsvorsitzenden war klug gewählt; so konnten sich die Beteiligten optimal auf den jeweils anschließend tagenden Kreßbronner Kreis vorbereiten. Die Fraktionsführer wollten auch in diesem Gremium ihr volles Gewicht in die Schale werfen.
Für den Koalitionsausschuss bildete sich nach und nach ein fester Stamm von Mitgliedern heraus. Man kann von einer Art „Vier-plus-Vier“-Lösung sprechen: vier Vertreter der Bundesregierung, vier aus den Fraktionen; vier von Seiten der Union, vier von der Sozialdemokratie, inklusive aller Parteivorsitzenden: Kurt Georg Kiesinger (CDU, Kanzler und Parteivorsitzender), Willy Brandt (SPD, Außenminister und Parteivorsitzender), Franz Josef Strauß (CSU, Finanzminister und Parteivorsitzender), Herbert Wehner (SPD, Minister für gesamtdeutsche Fragen),35 ferner die Fraktionsvorsitzenden Rainer Barzel (CDU) und Helmut Schmidt (SPD), samt deren Ersten Stellvertretern Richard Stücklen (CSU-Landesgruppenchef) und Alex Möller (SPD). Für das Protokoll war ab dem 1. Januar 1968 zusätzlich Kiesingers Kanzleramtschef Karl Carstens verantwortlich, der die Sitzungen des Kreßbronner Kreis auch vor- und nachbereitete.
Während seiner 40 Sitzungen zwischen November 1967 und August 1969 diente der Kreis als zentrales Koordinierungsorgan, als eine Art „institutionalisierter Kontakt“36 zwischen der Bundesregierung und den Fraktionsvorsitzenden. Dort wurde das weitere Vorgehen in anstehenden Fragen besprochen - ob beispielsweise die Bundesversammlung in Berlin bzw. Bonn stattfinden oder wie man in der Frage eines NPD-Verbotsantrages verfahren solle. Zudem informierten die Fraktionsvertreter die Kabinettsmitglieder, wie die Stimmung innerhalb der Fraktionen zu konkreten Themen war - etwa beim Phantom- oder Starfighter-Ankauf. Neben diesen für den parlamentarischen Prozess wichtigen Hinweisen wurden auch solche ohne unmittelbaren Entscheidungszweck weitergegeben: beispielsweise der Besuch Brandts bei Bundespräsident Heinrich Lübke wegen dessen Amtsniederlegung und ein Gespräch Kiesingers mit dem sowjetischen Botschafter. Des Weiteren hatte die Erörterung von Personalfragen ihren Platz im Kreis.37
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Als besonders wichtig erwies sich aber die Funktion des Ausschusses als „Clearing-Stelle“.38 Meinungsunterschiede und Streitpunkte konnten in dieses Gremium hineingetragen und diskutiert werden, wie „Bayernkurier“-Angriffe auf den Außenminister oder ein von der Sozialdemokratie als beleidigend aufgefasster Artikel des Bundestagsvizepräsidenten Richard Jaeger (CSU) über Gustav Heinemann (SPD). So konnten oftmals „Schlammschlachten“ in den Medien vermieden werden. Der Kreßbronner Kreis dachte zudem über potenzielle Probleme nach: Da die Gefahr eines NPD-Einzugs in den Bundestag bestand39 und einer der NPD-Kandidaten schon sehr alt war, wurde beschlossen, ein noch älteres CDU-Mitglied zur Kandidatur zu bewegen - auf diese Weise sollte verhindert werden, dass ein NPD-Mitglied als Alterspräsident die erste Sitzung eröffnete.
Immer wieder spielten die Medien als Bezugspunkt des politischen Handelns im Kreßbronner Kreis eine bedeutende Rolle. Sie sollten zum Beispiel darauf hingewiesen werden, dass „alles, was mit der Wahl des Bundespräsidenten zusammenhängt, in einer sachlichen und würdigen Form behandelt wird“.40 Generell wurde die veröffentlichte Meinung über die Regierung Kiesinger/Brandt sehr ernstgenommen, und der Ausschuss versuchte darauf zu reagieren.41 Die Annahme, man könne die Medien im Sinne der politischen Führung steuern, unterschätzte allerdings die zunehmende Eigenlogik der Medien und war noch den Politikmustern der Adenauer-Ära verhaftet.
Jedes Mitglied des Koalitionsausschusses konnte Themen auf die Tagesordnung setzen, die Carstens zusammenstellte. Zu bestimmten Fachfragen konnten die beteiligten Minister oder andere Experten hinzugezogen werden. Kiesinger hatte als Bundeskanzler den Vorsitz inne. Kompromisse wurden so gefunden, dass die Teilnehmer nur bedingt selbst über die anstehenden Themen diskutierten, sondern vielmehr den Fahrplan absteckten, Expertenkommissionen einsetzten und den groben Rahmen vorgaben. Selten wurde ein wirklicher Kompromiss im Kreis ausgehandelt, der daraufhin sofort als Entscheidung der Koalition sichtbar wurde. (Dies geschah etwa in der Frage des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen zu Kambodscha 1969.) Die Entscheidungen wurden in den dafür vorgesehenen Gremien getroffen, dem Kabinett und den Fraktionen. Allerdings bereitete der Kreis Entscheidungen maßgeblich vor. Auch hier ein Beispiel: Zur Frage, ob man den 17. Juni als gesetzlichen Feiertag abschaffen solle, kam man im Kreis überein, es solle dazu ein Gespräch zwischen Lücke, Heck, Wehner und Leber geführt werden. Während sich im Kabinett und in den Besprechungen der Fraktionsvorsitzenden die parteilichen Lager gegenüberstanden, verliefen im Kreßbronner Kreis die Fronten teilweise zwischen Kabinetts- und Fraktionsrepräsentanten oder quer durch diese Gruppen.42 Die Behandlung einer Frage im Kreis garantierte nicht unbedingt deren Umsetzung.43
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In den am Nachmittag parallel stattfindenden Fraktionssitzungen diskutierten die beiden Vollversammlungen die ausgehandelten Kompromisse und anstehende parlamentarische Vorhaben.44 Durch den Umstand, dass beide Fraktionen gleichzeitig tagten, konnten zwischen ihnen Abgesandte hin und her geschickt werden, die jeweils den neuesten Stand der Diskussion bekanntgaben bzw. sogar Kompromisse ausarbeiteten.45 Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD spielten während der ersten Großen Koalition eine bedeutende Rolle.46 Bei einer knappen Mehrheit der Bundesregierung im Bundestag sind selten parteiinterne Konfrontationen zu erwarten, da so die Regierung noch weiter geschwächt werden würde. In einer Großen Koalition besteht diese Gefahr dagegen kaum, weshalb sich die einzelnen Abgeordneten mehr Freiheiten nehmen können. Dies bedeutete trotz 90-prozentiger Mehrheit im Parlament einen stetigen Kampf um respektable Mehrheiten, die durch ihre Abstimmungsergebnisse auch vor der Öffentlichkeit Bestand haben konnten. Das Kabinett musste anerkennen, dass es ohne den parlamentarischen Unterbau nicht ging.47 Aus diesem Grund pflegten beide parteipolitischen Seiten die Beziehungen zu ihren Parlamentariern.48 Mit dem Meinungsbild sowie den Entscheidungen ihrer Fraktionen konnten die Vorsitzenden in neue Koalitionsgespräche starten und dafür sorgen, dass ihre Fraktionen in den weiteren Entscheidungsprozess eingebunden wurden.
Dienstagabends kamen die CDU/CSU-Regierungsmitglieder zur Vorbesprechung der am kommenden Morgen stattfindenden Kabinettssitzung zusammen, um dort eine einheitliche Linie vertreten zu können.49 Das Gleiche taten die SPD-Kabinettsmitglieder mittwochs unmittelbar vor der Sitzung.50 An den Vorbesprechungen nahmen jeweils auch die Fraktionsvorsitzenden teil.51 Erst nachdem die Vorsitzenden der Regierungsfraktionen, der Kreßbronner Kreis, die Fraktionsvollversammlungen und die parteiinternen Vorbesprechungen stattgefunden hatten, tagte das Kabinett am Mittwochmorgen, um Entscheidungen zu fällen. Die wichtigsten davon wurden zusätzlich in den Ministerausschüssen vorbesprochen. Diese waren Teil der informellen Regierungspraxis der Koalition und gewährleisteten in kleinem Rahmen eine leichtere Entscheidungsvorbereitung.52 Zu den Charakteristika einer Großen Koalition gehört es, dass sich zwei beinahe gleich starke Lager im Kabinett gegenübersitzen.53 Formelle Abstimmungen als Kampfabstimmungen sind systemwidrig, „denn sobald eine Frage eines vitalen Interesses für die eine oder die andere Seite kommt, stellt sich die Frage des Bestandes der Koalition“.54 Wenn es dennoch Abstimmungen unter dem Vorsitz Kiesingers gab, dann nur in weniger wichtigen Fällen.55 In besonders heiklen Situationen, wie der Frage der D-Mark-Aufwertung Mitte 1969, wurde im Vorfeld eine Übereinkunft getroffen, die Entscheidung des Kabinetts nicht durch eine Abstimmung herbeizuführen.56
Gefördert wurde das Kommunikationsnetzwerk durch Kiesingers Persönlichkeit. Der Bundeskanzler pflegte einen dialogischen Diskussionsstil57 und konnte aufgrund seiner präsidialen Art sehr gut mit seiner Situation als Vorsitzender einer Koalition zweier nahezu gleichstarker Parteien umgehen.58 Während der dominante und nicht selten polarisierende Adenauer wohl kaum als Kanzler einer Großen Koalition vorstellbar gewesen wäre, erwies sich Kiesinger zumindest im Hinblick auf die Anforderungen des politischen Entscheidungshandelns als die richtige Besetzung.
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3. Nichtinstitutionalisierte Gespräche und Strategien gegen Ende der Koalition
Neben den institutionalisierten Koalitionsgesprächen gab es noch Ad-hoc-Koalitionsrunden, die eingesetzt wurden, wenn Komplikationen auftauchten. Damit Meinungsverschiedenheiten sich nicht zu grundsätzlichen Problemen ausweiteten, hatten sich die beiden Koalitionsfraktionen auf eine Konfliktklausel geeinigt: Für den Fall, dass die Mehrheitsfraktionen in wichtigen Fragen in einem Bundestagsausschuss gegeneinander stimmen würden, waren „die Vorsitzenden gehalten, zu unterbrechen, um [...] Gespräche in die Wege zu leiten“.59 Derartige Ad-hoc-Koalitionsgespräche gab es zu den verschiedensten Themen.60 Die beschlossenen Kompromisse der Koalitionsgespräche galten nur „vorbehaltlich einer Beschlußfassung der Fraktionen“.61 Diese erzwangen des Öfteren entgegen den Positionen ihrer Vorsitzenden und Experten Änderungskataloge, die dann erneut mühsam in Koalitionsgesprächen diskutiert werden mussten.62
War der Ausgleich zwischen den Partnern nicht möglich, blieb manches Mal nur noch die Handlungsalternative, Entscheidungen langfristig zu vertagen oder Streitpunkte auszuklammern - wie beim Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen („Atomwaffensperrvertrag“, NVV).63 Dieses Ausklammern war ein elementares Überlebensgesetz für die Große Koalition.64 Besonders während des schleichenden Endes zwischen Bundespräsidentenwahl (5. März 1969) und Bundestagswahl (28. September 1969) wurde diese Strategie angewandt. Während vor allem die Union schon zuvor auf das Ausklammern als Mittel der Themenbegrenzung setzte,65 wählte die Sozialdemokratie die Strategie des „begrenzten Konflikts“.66 Für Brandt drückte diese Überlebenstaktik „etwas Selbstverständliches aus“, „daß nämlich eine Koalition ein nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich begrenztes Bündnis ist. Die Sozialdemokraten bestehen ja nicht nur auf Durchführung der vereinbarten Programmpunkte, sondern haben auch darzulegen, was sie durchsetzen würden, wenn sie die politische Führung im Bund hätten.“67 Um nicht von der CDU/CSU als Juniorpartner „an die Wand gespielt“ zu werden - diesen Eindruck machte die Reihe der von der CDU gewonnenen Landtagswahlen, weil der Koalitionserfolg vor allem ihr zugeordnet wurde - musste sich die SPD von der CDU/CSU absetzen.68 Zumindest zeitweilig wirkte sich dies durchaus positiv für das Bündnis aus. Ohne solche eigenständigen Profilierungen wäre es den Sozialdemokraten noch schwerer gelungen, die „Kröten“ auf dem steinigen Weg zum Konsens zu schlucken.69
Im Wahlkampf des Spätsommers 1969 kam es dann zu stärkeren Polarisierungen. Bei einer Veranstaltung in Dortmund warf Karl Schiller dem Bundeskanzler vor, er sei allergisch gegen Kritik (Kiesinger hatte von einer „zersetzenden Presse“ gesprochen). Gezielt setzte Schiller die NS-Vergangenheit als politisches Argument ein: „Kurt Georg Kiesinger soll einmal in sich gehen und prüfen, welchem Abschnitt seines beruflichen Werdegangs er dieses gestörte Verhältnis zur Meinungs- und Pressefreiheit zu verdanken hat.“70 Auch wenn es sich hier um Wahlkampfrhetorik handelte, zeichnete sich ab, dass die Zeit der Großen Koalition vorbei war und ein neues Politikverständnis die Oberhand gewann - „mehr Demokratie wagen“ (Brandt).
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Der ersten Großen Koalition gelang es auch bei schwierigen Fragen - wie der Notstandsgesetzgebung und dem Leber-Plan -, Konsens zwischen den Bündnispartnern herzustellen, weil sie tragfähige Kommunikations-, Kompromiss-, Entscheidungsfindungs- und Konfliktstrategien besaß. Beide Parteien hatten ein Interesse, das in der Bevölkerung beliebte Bündnis71 nicht zerbrechen zu lassen.72 Wie hoch der Preis war, der mit der Strategie des Ausklammerns verbunden war, d.h. welche langfristig wichtigen Entscheidungen trotz komfortabler Mehrheit eventuell vermieden wurden, wäre gesondert zu prüfen; festzuhalten ist jedenfalls, dass die Prozeduren der ersten Großen Koalition einige Jahre lang gut funktionierten.
Ein Vergleich der gegenwärtigen Großen Koalition mit derjenigen der 1960er-Jahre drängt sich auf den ersten Blick geradezu auf. Negativ und natürlich zu strategischen Zwecken bezog sich beispielsweise FDP-Chef Guido Westerwelle auf die erste Große Koalition: Im Oktober 2005 hoffte er, Angela Merkel werde „eine stärkere Stellung haben als Kurt Georg Kiesinger [...]. Diese Koalition wird heute ja verklärt. Tatsache ist, dass sie einen sehr schwachen Kanzler hatte, der eingemauert war von Ministern, die etwas ganz anderes im Schilde führten. Mit den Ergebnissen dieser Koalition haben wir noch heute zu kämpfen: Das, was wir heute mit der Föderalismuskommission in weiten Teilen korrigieren müssen, geht auf diese Zeit zurück.“73 Aus zeithistorischer Perspektive wird man dies etwas differenzierter beurteilen. In formaler Hinsicht haben die beiden Großen Koalitionen durchaus Gemeinsamkeiten. Koalitionsverträge und -ausschüsse haben sich in der Zwischenzeit etabliert. So legten CDU/CSU und SPD ihr gemeinsames Vorgehen im November 2005 in einem ausführlichen Vertrag fest, in dem erneut der gemeinsame Ausschuss als Koalitionsmitte bestimmt wurde.74 Dadurch werden die Fraktionsvorsitzenden von vornherein in den Entscheidungsprozess eingebunden und nicht wie 1966/69 erst nach einem Drittel der gemeinsamen Zeit. Jede Koalition muss(te) sich selbst sich ihre Entscheidungsgremien erarbeiten,75 aber bestimmte Muster wiederholen sich. Dazu gehört neben dem Koalitionsausschuss etwa die Arbeit mit Ministerausschüssen (derzeit u.a.: Neue Länder, Wirtschaft, Bundessicherheitsrat). Eine neuere Entwicklung ist hingegen das Delegieren möglicher Streitfragen und Problemfelder an Expertenkommissionen, die wachsende Bedeutung gewinnen, deren Verhältnis zu den Verfassungsorganen aber etwas diffus ist.76
Generell ist festzuhalten, dass die Voraussetzungen, historischen Konstellationen und Akteure der beiden Regierungsbündnisse sehr unterschiedlich sind.77 Die SPD muss nach über 20 Jahren bundespolitischer Verantwortung nicht mehr ihre Regierungsfähigkeit beweisen, und die CDU hat in der Opposition 1998-2005 zumindest in Ansätzen einen personellen und inhaltlichen Erneuerungsprozess vollzogen.78 Während die großen Volksparteien Mitte der 1960er-Jahre noch höchst gegensätzlich waren, haben sie sich inzwischen ideologisch angenähert - teilweise bis zur Preisgabe eines eigenständigen Profils. Die Parteienlandschaft hat sich durch den Aufstieg der GRÜNEN und das Hinzutreten der PDS/Linkspartei infolge der deutschen Einheit grundlegend verschoben; auch durch die nachlassenden Parteibindungen der meisten Wähler ist sie heterogener und instabiler geworden. Zudem sind die ökonomischen Rahmenbedingungen gänzlich andere: Die erste Große Koalition konnte auf eine vergleichsweise stabile Wirtschaft mit Vollbeschäftigung und ausgeglichenem Haushalt bauen; das Kabinett Merkel/Müntefering kann dies bekanntlich nicht und hat unter dem Einfluss der europäischen Integration und der Globalisierung eine noch begrenztere ökonomische Steuerungsmacht.
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Neben der ausgeprägten Eigendynamik der Medien, die den politischen Prozess heute viel stärker überformen und durchdringen als in den 1960er-Jahren, liegt ein wichtiger Unterschied schließlich im gesunkenen Politikvertrauen der deutschen Öffentlichkeit. Trotz aller Besorgnisse und aller Kritik, mit der sich die erste Große Koalition konfrontiert sah, bestand damals noch die prinzipielle Erwartung, staatliche Akteure könnten Wachstumsschwächen überwinden, für mehr Gerechtigkeit und Lebensqualität sorgen, die Zukunft positiv gestalten etc. Solche Hoffnungen werden - etwa im Hinblick auf einen Abbau der Arbeitslosigkeit - heute weder der Großen Koalition noch irgendeiner anderen Regierung entgegengebracht; bezeichnenderweise ist der früher positiv besetzte Begriff der „Reformen“ zu einem Schreckbild geworden. Ob dies eher zu Fatalismus und Entpolitisierung oder zu einem neuen zivilgesellschaftlichen Aufbruch führen wird, muss sich noch zeigen.
1 Walter Henkels, Lokaltermin in Bonn. Ein „Hofchronist“ erzählt, Frankfurt a.M. 1969, S. 12.
2 Winfried Süß, Der westdeutsche Wohlfahrtsstaat in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Perspektiven eines Forschungsfelds, in: Jörg Calließ (Hg.), Die Reformzeit des Erfolgsmodells BRD. Die Nachgeborenen erforschen die Jahre, die ihre Eltern und Lehrer geprägt haben, Rehburg-Loccum 2004, S. 325-341, hier S. 325; ähnlich Paul Nolte, Die Reformzeit der alten Bundesrepublik in den 60er und 70er Jahren. Liberalisierung, Gesellschaftsplanung und Verstaatlichung, in: ebd., S. 15-32, hier S. 18. Zur Einordnung der Leistungen vgl. Gabriele Metzler, Die Reformprojekte der Großen Koalition im Kontext ihrer Zeit, in: Günter Buchstab/Philipp Gassert/Peter Thaddäus Lang (Hg.), Kurt Georg Kiesinger 1904-1988. Von Ebingen ins Kanzleramt, Freiburg 2005, S. 421-452.
3 468 Abgeordnete von CDU/CSU (251) und SPD (217) saßen im Bundestag 50 Abgeordneten der FDP gegenüber; alle elf Ministerpräsidenten wurden von den Koalitionsparteien gestellt.
4 In: CDU-Bundesausschuss-Sitzung, 9.10.1967, S. 7, ACDP, 07-001-023/2. (Ein Abkürzungsverzeichnis findet sich am Ende dieses Aufsatzes.)
5 Helmut Schmidt, Weggefährten. Erinnerungen und Reflexionen, Berlin 1996, S. 431.
6 Regierungssprecher Günter Diehl, in: ders., Zwischen Politik und Presse. Bonner Erinnerungen 1949-1969, Frankfurt a.M. 1994, S. 396.
7 Günter Grass, Offener Briefwechsel mit Willy Brandt, in: ZEIT, 2.12.1966, S. 2.
8 Vgl. Axel Schildt, Rebellion und Reform. Die Bundesrepublik der Sechzigerjahre, Bonn 2005.
9 Die Außerparlamentarische Opposition (APO), in der die Studenten den wichtigsten Teil ausmachten, hatte als Wurzeln neben dem Protest gegen die Große Koalition und ihre Notstandsgesetzgebung noch weitere, vom Kabinett Kiesinger/Brandt unabhängige und zeitlich vor ihr einsetzende Gründe, vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung. Deutschland - Westeuropa - USA, München 2001. Zu den Debatten um die Notstandsgesetzgebung vgl. die herausragende Darstellung von Michael Schneider, Demokratie in Gefahr? Der Konflikt um die Notstandsgesetze. Sozialdemokratie, Gewerkschaften und intellektueller Protest (1958-1968), Bonn 1986.
10 Klaus Schönhoven, Wendejahre. Die Sozialdemokratie in der Großen Koalition 1966-1969, Bonn 2004, S. 31; Dirk Kroegel, Einen Anfang finden! Kurt Georg Kiesinger in der Außen- und Deutschlandpolitik der Großen Koalition, München 1997, S. 13; Andrea H. Schneider, Die Kunst des Kompromisses: Helmut Schmidt und die Große Koalition 1966-1969, Paderborn 1999, S. 269-279. Schönhoven warf die Frage nach dem Zusammenspiel von Exekutive und Legislative auf, beantwortete sie aber nicht; Kroegel bezeichnete Kiesinger und Wehner als „oberste Instanz“ bei der Entscheidungsfindung, wohingegen Schneider die Fraktionsvorsitzenden für eben diese hielt. Solche Ansätze greifen zu kurz, eine Gesamtschau fehlt bisher. Ich folge hier Philipp Gasserts These, dass sich nicht allgemein sagen lässt, wer die oberste Instanz der Großen Koalition war (Kurt Georg Kiesinger 1904-1988. Kanzler zwischen den Zeiten, München 2006, S. 579).
11 Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005, bes. S. 13, S. 419.
12 Vgl. Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 574-606; Thomas Nicklas, Macht - Politik - Diskurs. Möglichkeiten und Grenzen einer Politischen Kulturgeschichte, in: Archiv für Kulturgeschichte 86 (2004), S. 1-25; Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005.
13 SPD-Fraktionssitzung, 26./27.11.1966, in: Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1961-1966, bearb. von Heinrich Potthoff, Düsseldorf 1993, S. 1053.
14 Vgl. Schönhoven, Wendejahre (Anm. 10), S. 692.
15 Klaus Harpprecht, Moderator Germaniae. Ein Porträt Kurt Georg Kiesingers, in: Der Monat 19 (1967) H. 222, S. 7-14, hier S. 7; zu Kiesinger als Bundeskanzler vgl. Gassert, Kurt Georg Kiesinger (Anm. 10) , S. 469-716.
16 So der stellvertretende Regierungssprecher Conrad Ahlers gegenüber dem Sender Freies Berlin, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 158 vom 10.12.1968, S. 1392.
17 Kiesinger am 11.8.1967 im Interview, in: Claus Hinrich Casdorff/Rudolf Rohlinger, Kreuzfeuer. Interviews von Kolle bis Kiesinger, Berlin 1971, S. 197.
18 Schmidt im Interview, in: ZEIT, 14.6.1968, S. 9. Für Adenauer kam Kiesinger gerade wegen seiner fehlenden „nötigen Härte“ als Kanzler einer Großen Koalition nicht in Frage, obwohl - oder gerade weil? - er ein „guter Christ ist“. Vgl. Adenauer an Barzel, 3.11.1966, ACSP, NL Franz Josef Strauß, PV/5871.
19 Kiesinger, in: CDU/CSU-Fraktionssitzung, 28.11.1968, S. 19f., ACDP, 08-001-1017/2 (Hervorhebungen im Original).
20 So etwa die vielfältigen „Bayernkurier“-Angriffe gegen Brandt oder die vom Sitzungsleiter nicht kommentierten negativen Äußerungen von Günter Grass über Kiesingers NS-Vergangenheit auf dem SPD-Parteitag in Nürnberg 1968, die intern im Kreßbronner Kreis geklärt werden konnten, vgl. Kreßbronner Kreis-Sitzungen, 26.3.1968 und 26.11.1968, ACDP, 01-226-010.
21 Kiesinger, in: CDU/CSU-Fraktionssitzung, 28.11.1968, S. 20, ACDP, 08-001-1017/2. Dieses Zitat dokumentiert damalige Politikerwartungen der Öffentlichkeit, die sich während und infolge der Großen Koalition allmählich wandelten.
22 Helmut Wendelborn, in: CDU/CSU-Fraktionssitzung, 26.6.1968, S. 14f., ACDP, 08-001-1016/2.
23 Vgl. hierzu besonders den Bestseller: Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen, Gefahren, Chancen, München 1966.
24 Vgl. Heribert Hain Knorr, Der parlamentarische Entscheidungsprozeß während der Großen Koalition 1966 bis 1969. Struktur und Einfluß der Koalitionsfraktionen und ihr Verhältnis zur Regierung der Großen Koalition, Meisenheim am Glan 1975, S. 220.
25 Dass dem Kabinett der gute Draht zu den Fraktionsvorsitzenden fehlte, wurde spätestens an der Diskussion um die beabsichtigte Kürzung der Rentenversicherungszuschüsse im Sommer 1967 deutlich. Zum Selbstbewusstsein der beiden Fraktionsführer vgl. stellvertretend die Aussage Schmidts: „In einer Großen Koalition [...] findet der Dialog nicht mehr so sehr zwischen den Fraktionen, sondern vielmehr zwischen Hohem Haus und der Bundesregierung statt.“ Aus: StenB BT, 5. WP, 106. Sitzung am 27.4.1967, S. 4952C.
26 Es war ebenso der Wunsch beider Fraktionen, dass es zu solchen Gesprächen zwischen ihnen und dem Kabinett kam. Vgl. Barzel an Kiesinger, 18.10.1967, BArch, N 1371/272.
27 Vgl. Kroegel, Einen Anfang finden! (Anm. 10), S. 182ff.
28 Schneider, Kunst des Kompromisses (Anm. 10), S. 266; der Ausdruck stammte von Barzel, in: StenB BT, 5. WP, 175. Sitzung am 16.5.1968, S. 9460A.
29 Das Bundeskanzleramt war für diese Aufgabe schon infolge der Koalitionsform unbrauchbar. Zum Amt unter Kiesinger vgl. Thomas Knoll, Das Bonner Bundeskanzleramt. Organisation und Funktionen von 1949-1999, Wiesbaden 2004, S. 143-172.
30 Vgl. exemplarisch Eduard Neumaier, Pannenhilfe der Koalition, in: Publik, 20.12.1968, S. 4.
31 Vgl. u.a. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.8.1967, S. 2. Am Ende wurde das Bündnis von der Presse überwiegend positiv bewertet; vgl. stellvertretend Marion Gräfin Dönhoff, Bilanz der Großen Koalition, in: ZEIT, 26.9.1969, S. 1.
32 Vgl. Vermerk für Möller, 21.4.1969, AdsD, Depositum Manfred Schüler/36. Auch sonst kamen diese vier wichtigsten Repräsentanten der Mehrheitsfraktionen „laufend zusammen“; vgl. Möller an Schmidt, 10.9.1969, AdsD, HSA/5396.
33 Alex Möller, Genosse Generaldirektor, München 1978, S. 379.
34 Vgl. Barzel an Kiesinger, 1.4.1969, BArch, N 1371/273.
35 Mit der Bezeichnung des Ministeriums ist Wehners Bedeutung in der Regierung (er stand an 13. Stelle der Bundesministerrangordnung) nur unzureichend beschrieben. Wehner war nicht nur Brandts Stellvertreter in der SPD, sondern auch der Wortführer seiner Partei im Kabinett - eine Rolle, die ihm Brandt nie streitig machte.
36 Vgl. Karl Carstens, Politische Führung. Erfahrungen im Dienst der Bundesregierung, Stuttgart 1971, S. 214.
37 Etwa die Spitzenstellungen beim Bundesnachrichtendienst (BND) und die Ernennung von politischen Beamten, der Botschafterposten in Belgrad, die Bestellung eines neuen Präsidenten der Deutschen Pfandbriefanstalt und des Kohlebeauftragten.
38 Schönhoven, Wendejahre (Anm. 10), S. 186.
39 Sie verfehlte 1969 mit 4,3% nur knapp den Einzug.
40 Vgl. Heck an Diehl, 25.10.1968, ACDP, 07-001-030/1.
41 Als etwa „Die Welt“ berichtete, dass der BND über Ereignisse in der ČSSR rechtzeitig Kenntnis hatte, aber angewiesen worden sei, diese Erkenntnisse nicht weiterzugeben, wurde der Bundeskanzler aufgefordert, dazu Stellung zu nehmen.
42 Die Altersgeldaufstockung für Landwirte durch den Kabinettsausschuss für Agrarfragen wurde von beiden Fraktionen kritisiert. Bei der Frage der Einsetzung eines Sonderausschusses für die Finanzreform stand Kiesinger auf Seiten der Sozialdemokraten und sprach sich für ein solches Gremium aus. In der Kambodscha-Kontroverse am Ende der Koalition standen sich die beiden parteipolitischen Lager gegenüber.
43 Die CDU/CSU-Fraktionsgeschäftsführer fühlten sich an die Koalitionsabrede bezüglich des Diätengesetzes nicht gebunden, vgl. Vermerk Heinz Frehsee, 28.3.1968, AdsD, HSA/5079. Alle Themen und Termine können eingesehen werden in: Protokolle des Kreßbronner Kreises und deren Inhaltsübersicht, ACDP, 01-226-010.
44 Vgl. die Sitzungen der CDU/CSU, ACDP, 08-001-1012/1 bis -1019/1; für die SPD: AdsD, SPD-BTF, 5. WP/45 bis 136.
45 So z.B. beim Leber-Plan, vgl. Ernst Müller-Hermann, in: CDU/CSU-Fraktionssitzung, 26.11.1968, S. 41, ACDP, 08-001-1017/2; ähnlich bei der Notstandsgesetzgebung, vgl. SPD-Fraktionssitzung, 14.5.1968, AdsD, SPD-BTF, 5. WP/95.
46 Vgl. Knorr, Der parlamentarische Entscheidungsprozeß (Anm. 24), S. 130.
47 Vgl. Müller-Hermann an Leber, 9.8.1967, ACDP, 08-001-201/1. Zu der Frage der Unverjährbarkeit von NS-Verbrechen äußerte sich Kiesinger im Kabinett dahingehend, es könne erst ein Kabinettsbeschluss gefasst werden, wenn eine einheitliche Meinungsbildung in der Fraktion vorhanden sei, vgl. dazu Kurzprotokollauszug 120. Kabinettssitzung am 17.4.1968, BArch, B 126/51812.
48 Besonders Kanzler Kiesinger sah diese Notwendigkeit, auch eingedenk der entscheidenden Rolle der Unionsfraktion beim Sturz seines Vorgängers 1966.
49 Vgl. CDU-Präsidiumssitzungen, 30.6.1967 und 17.7.1967, ACDP, 07-001-1402.
50 Vgl. Jahn an die sozialdemokratischen Bundesminister, 2.6.1969, AdsD, NL Carlo Schmid/1365; Tageskalender Willy Brandt 1967 und 1968, AdsD, WBA, A1/30.
51 Für die CDU/CSU vgl. Besprechungsmitschriften, ACSP, NL Richard Stücklen/243; für die SPD: SPD-Präsidiumssitzung, 19.5.1968, AdsD, SPD-PV.
52 Die wichtigsten Entscheidungsvorbereitungen der Ausschüsse waren die Haltung zum „Atomwaffensperrvertrag“ im Bundesverteidigungsrat und die Frage der D-Mark-Aufwertung im Wirtschaftskabinett. Zu den Kabinettsausschüssen zwischen 1966 und 1969 vgl. Knorr, Der parlamentarische Entscheidungsprozeß (Anm. 24), S. 317.
53 Während der ersten Großen Koalition standen elf Mitglieder der CDU/CSU neun der SPD gegenüber, in der zweiten sind es acht zu acht. In Abstimmungen gibt gemäß Geschäftsordnung der Bundesregierung der Vorsitzende den Ausschlag.
54 Brandt im Interview, in: Spiegel, 6.1.1969, S. 25.
55 Wie beispielsweise bei Fragen der Agrarwirtschaft; vgl. Kiesinger erinnert sich, in: Bild am Sonntag, 24.11.1974, S. 20. Im aktuellen Koalitionsvertrag von 11.11.2005 (S. 141f.) wurde festgelegt, dass im Kabinett „in Fragen, die für einen Koalitionspartner von grundsätzlicher Bedeutung sind, keine Seite überstimmt“ wird.
56 Vgl. Kiesinger, in: CDU/CSU-Fraktionssitzung, 13.5.1969, S. 29f., ACDP, 08-001-1019/1.
57 Entwurf von Carstens für ein Schreiben Kiesingers an Schmidt, 14.7.1969, BArch, B 136/3753; Hermann Schreiber, „Ich muß zeigen, wie ich das mache“, in: Spiegel, 20.3.1967, S. 39.
58 Vgl. Klaus Hildebrand, Kurt Georg Kiesinger - Kanzler der Großen Koalition, in: Historisch-Politische Mitteilungen 11 (2004), S. 229-241, hier S. 238.
59 Barzel, in: CDU/CSU-Fraktionssitzung, 26.6.1968, S. 16, ACDP, 08-001-1016/2.
60 Besonders diskutiert wurden die Bereiche Notstandsgesetzgebung und Leber-Plan. Einbezogen waren meistens beteiligte Minister, die Vorsitzenden der Fraktionen und deren Experten auf dem jeweiligen Gebiet; vgl. etwa die Diskussion am 4.6.1969, als sich dieser Personenkreis mit Bundesjustizminister Horst Ehmke über die Verjährungsfrage und das Publizitätsgesetz unterhielt (Koalitionsbesprechungen, ACSP, NL Richard Stücklen/243).
61 Ernst Benda an Barzel, 6.3.1968, BArch, N 1371/356.
62 So bei den Notstandsgesetzen, vgl. SPD-Fraktionssitzung, 14.5.1968, AdsD, SPD-BTF, 5. WP/95.
63 Kiesinger, in: CDU-Bundesausschuss-Sitzung, 9.10.1967, S. 7, ACDP, 07-001-023/2.
64 Hildebrand, Kurt Georg Kiesinger (Anm. 58), S. 235.
65 Diese Handhabung führte zu der Bezeichnung „Methode Kiesinger“ (so Hans Apel, Der Abstieg. Politisches Tagebuch eines Jahrzehnts, München 1991, S. 445).
66 Horst Ehmke; zit. nach: Spiegel, 6.11.1967, S. 27.
67 Brandt im Interview, Mitteilung für die Presse, 24.5.1968, AdsD, WBA, A3/277. Der Konflikt musste allerdings Ende der 1960er-Jahre tatsächlich ein begrenzter bleiben, weil die SPD für das Wahlvolk erst noch den „Beweis“ der Regierungsfähigkeit antreten musste. Ein Auseinanderbrechen der populären Koalition wäre der SPD wahrscheinlich negativ angelastet worden (vgl. dazu Willy Brandt, Begegnungen und Einsichten. Die Jahre 1960-1975, Hamburg 1976, S. 184).
68 Damals wie heute ist zu beobachten, dass „in der Mediendemokratie gegen das Gewicht des Kanzlers schwer anzukommen ist“ (so Tina Hildebrandt, Vorsicht, Schmusefalle!, in: Zeit, 19.1.2006, S. 11). Dies galt bereits Ende der 1960er-Jahre, als es die „Mediendemokratie“ im heutigen Sinne noch nicht gab; vgl. Jochen Hoffmann/Ulrich Sarcinelli, Politische Wirkungen der Medien, in: Jürgen Wilke (Hg.), Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Köln 1999, S. 720-748.
69 Für die Auseinandersetzung zwischen Parteiführung und Parteivolk vgl. Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 17. bis 21. März 1968 in Nürnberg. Protokoll der Verhandlungen, hg. vom Vorstand der SPD, Hannover 1968. Als „Kröten“ galten vor allem die Notstandsgesetze, aber auch Kürzungen im Sozialbereich im Zuge der Haushaltssanierung 1967. Zum Thema „verzuckerte Kröten“ vgl. ferner Barzel, in: CDU/CSU-Fraktionssitzung, 14.1.1969, S. 1, ACDP, 08-001-1017/2. Auch für die zweite Große Koalition hat Barzel betont, beide Seiten müssten darauf achten, ihr eigenes Gesicht zu zeigen (vgl. Peter Pragal, Ein starkes Gespann in einem zerbröckelnden Bündnis, in: Parlament, 28.11.2005, S. 2).
70 Schiller: Kiesinger kann Kritik schlecht ertragen, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 30.8.1969. (Dieses Zitat verdanke ich Thomas Mergel.)
71 Vgl. Elisabeth Noelle/Erich Peter Neumann (Hg.), Jahrbuch der Öffentlichen Meinung 1965-1967, Allensbach 1967, S. 201.
72 Vgl. Knorr, Der parlamentarische Entscheidungsprozeß (Anm. 24), S. 127, S. 138, S. 145; Kiesinger, in: CDU-Präsidiumssitzung, 14.12.1967, ACDP, 07-001-1401. Vgl. auch die Diskussion zum Leber-Plan, in: SPD-Parteivorstandssitzung, 20.10.1967, AdsD, SPD-PV; ferner: CDU-Präsidiumssitzung, 5.1.1967, ACDP, 07-001-1401.
73 „Wir werden sie vor uns hertreiben“, in: Welt, 18.10.2005, S. 3 (Interview mit Westerwelle).
74 „Die Koalitionspartner CDU, CSU und SPD werden ihre Arbeit in Parlament und Regierung laufend und umfassend miteinander abstimmen und [...] Konsens herstellen. Die Koalitionspartner treffen sich regelmäßig mindestens einmal monatlich zu Koalitionsgesprächen im Koalitionsausschuss. Darüber hinaus tritt er auf Wunsch eines Koalitionspartners zusammen. Er berät Angelegenheiten von grundsätzlicher Bedeutung, [...]. Ihm gehören Kanzler, Vizekanzler, Fraktionsvorsitzende (bei der CDU/CSU-Fraktion auch der erste stellvertretende Fraktionsvorsitzende) und, soweit darunter nicht die Parteivorsitzenden sind, die Parteivorsitzenden an.“ Koalitionsvertrag von 11.11.2005, S. 141.
75 Vgl. Franz Walter/Kay Müller, Graue Eminenzen der Macht. Küchenkabinette in der deutschen Kanzlerdemokratie. Von Adenauer bis Schröder, Wiesbaden 2004.
76 Stefan Fisch/Wilfried Rudloff (Hg.), Experten und Politik: Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, Berlin 2004.
77 Vgl. Axel Schildt, Nur die Farben gleichen sich, in: tageszeitung, 21.11.2005, S. 11.
78 Vgl. u.a. Frank Bösch, Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU, Stuttgart 2002, S. 150-155.
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ACSP
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