2. Die Reiseveranstalter und ihre Kunden
3. Die Anfänge des Massentourismus ins Ausland
4. Die Pauschalreise im Wettbewerb
5. Fazit
Während die adlige „Grand Tour“ und der großbürgerliche Kurtourismus inzwischen gut erforscht sind, haben sich bisher nur wenige Historiker mit dem Durchbruch des kommerziellen Massentourismus nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt.1 Der Beginn des Massentourismus wird für Deutschland mitunter in das „Dritte Reich“ oder sogar in die 1920er-Jahre zurückdatiert.2 Doch die wenigen empirischen Daten sprechen eine andere Sprache. Vor dem Zweiten Weltkrieg konnten weniger als 15 Prozent aller Deutschen eine Urlaubsreise von mindestens fünf Tagen unternehmen.3 Das Wachstum des Tourismus blieb damit hinter den Propagandabildern der Organisation „Kraft durch Freude“ (KdF) zurück, die eine klassenlose Gesellschaft reisender „Volksgenossen“ suggerierten. Die Bilder der nationalsozialistischen Reisepropaganda wurden von starken Symbolen wie der Flotte der KdF getragen, die die großbürgerlich konnotierte Kreuzfahrt zu sehr viel günstigeren Preisen anbieten konnte als kommerzielle Veranstalter. Diese Bilder blieben in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft präsent und wurden oft als Indizien für die Anfänge einer egalitären Gesellschaft gelesen. In der Diskussion um die Modernität der nationalsozialistischen Herrschaft galt der KdF-Tourismus als Beleg für die modernisierenden Tendenzen des „Dritten Reiches“.4
Jüngere Forschungen zur Geschichte der KdF haben gezeigt, dass diese Propagandabilder einen falschen Eindruck vermittelten.5 Die Selbststilisierung einer scheinbar klassenlosen Gesellschaft von Urlaubern war eine utopische Vision ohne sozioökonomische Basis. Auch die Bilder des gigantischen KdF-Seebades Prora auf Rügen mit einer Kapazität von 20.000 Urlaubern werden gelegentlich als Belege für den Durchbruch des organisierten Massentourismus interpretiert. Doch konnte Prora nicht nur wegen des Kriegsbeginns nie den Beweis erbringen, dass sich die egalitären Ansprüche der Deutschen Arbeitsfront (DAF) erfüllen konnten. Ebenso wie ein anderes Prestigeprojekt der DAF, das Volkswagenwerk, basierte der Bau von Prora auf einer sehr optimistischen Kalkulation der Bau- und Betriebskosten, die nicht der Realität entsprach.6 Die KdF operierte ohne zuverlässige Informationen, ob und wann sich die deutsche Durchschnittsfamilie einen zweiwöchigen Familienurlaub in Prora leisten konnte. Das visionäre Konzept einer durchrationalisierten „Urlaubsmaschine“ mit einer so anspruchsvollen Ausstattung wie in Prora stand im Widerspruch zu den begrenzten ökonomischen Möglichkeiten und dem wirtschaftspolitischen Handeln des Regimes, das der Steigerung des individuellen Konsums keine Priorität gab.
Allen propagandistischen Selbstdarstellungen zum Trotz war das nationalsozialistische Deutschland auf dem Weg zum Massentourismus keineswegs führend. Weniger als 15 Prozent aller Deutschen, aber fast 40 Prozent aller Briten unternahmen 1938 eine Urlaubsreise.7 In Großbritannien gehörte ein einwöchiger Urlaub in einem Seebad bereits zu den Konsumgewohnheiten von Angestellten und Facharbeitern, ja selbst von angelernten Arbeitern. Es war nicht allein das höhere Realeinkommensniveau der britischen Durchschnittsverdiener, das dort den früheren Durchbruch des Massentourismus ermöglichte. Auch in der deutschen Gesellschaft hatte sich der Sommerurlaub in einer ländlichen Kleinstadt oder in einem Dorf seit dem Ende des 19. Jahrhunderts etabliert.8 Doch im Unterschied zu den einwöchigen „town holidays“ in Großbritannien blieb die typisch deutsche Form des Urlaubs in einer ländlichen „Sommerfrische“ auf das gehobene Bürgertum beschränkt. Während in Deutschland überwiegend Freiberufler, gehobene Angestellte und Beamte zu den „Sommerfrischlern“ gehörten, war die typisch britische Form der Urlaubsreise nicht mehr ausschließlich durch bürgerliche Kulturformen bestimmt. Es gab in Großbritannien zahlreiche kleinbürgerlich und proletarisch geprägte Sparvereine, die das Sparen für eine einwöchige Urlaubsreise in den unteren Gesellschaftsschichten institutionell verankerten.
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Im Folgenden soll verdeutlicht werden, welchen Beitrag die Wirtschaftsgeschichte und die Unternehmensgeschichte für die Tourismusgeschichte leisten können. Für eine Geschichte des Tourismus ist auch die Frage wichtig, wie ein neues, innovatives Verbrauchsgut - die Pauschalreise - entwickelt und vermarktet wurde und wie es sich auf dem Markt durchsetzen konnte. Wie regte die Tourismuswirtschaft die Nachfrage für eine Dienstleistung an, die zunächst nur als ein Konsumprodukt der gehobenen Gesellschaftsschichten wahrgenommen wurde? Das britische Unternehmen Thomas Cook und seine deutschen Nachahmer hatten sich im 19. und im frühen 20. Jahrhundert auf luxuriöse Fernreisen für eine sozial exklusive Klientel konzentriert. Erst seit den 1920er-Jahren boten Reiseveranstalter wie Carl Degener Pauschalreisen zu deutschen Zielen an, die auch für den neuen Mittelstand erschwinglich waren.9
Wie entwickelten Reiseveranstalter neue Ziele für den Massentourismus, die lange außerhalb der räumlichen Reichweite, ja sogar jenseits des Vorstellungsvermögens ihrer Kunden lagen? Wie beeinflussten die Skaleneffekte („economies of scale“) und die Entwicklung eines intensiven Wettbewerbs den Durchbruch der Pauschalreise zum Massenkonsumgut? Und wie entwickelte sich die gelegentlich schwierige Beziehung („principal-agent relation“) zwischen den Reiseveranstaltern und ihren Kunden?
Die harten sozioökonomischen Daten wie Durchschnittseinkommen, Einkommensverteilung und verfügbare Einkommen für nicht lebensnotwendige Güter ermöglichen allein noch keine Aussagen über die Gründe für den Durchbruch des Massentourismus. Die „weichen“ kulturellen Faktoren wie eigene Reiseerfahrungen, Vertrautheit mit fremden Ländern und Kulturen, Gefühle der Sicherheit im Ausland, gesellschaftliche Traditionen und populäre Imaginationen des Reisens dürfen als Einflussfaktoren des Reiseverhaltens nicht unterschätzt werden. Heute ist das touristische Reisen längst eine scheinbare Selbstverständlichkeit geworden. Historisch betrachtet musste die Urlaubsreise jedoch erst einmal gesellschaftliche Anerkennung gewinnen - ein Prozess, der kultur- und wirtschaftsgeschichtlicher Erklärungen bedarf.
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Die betriebswirtschaftliche Transaktionskostentheorie kann helfen, den Erfolg der Pauschalreise zu verstehen. Dieser Erfolg war keinesfalls selbstverständlich, denn die Informations-Asymmetrie zwischen dem Anbieter (Verkäufer) und dem Konsumenten (Käufer) ist bei Pauschalreisen erheblich grö-ßer als bei materiellen Konsumgütern. Der Kauf einer solchen Reise erfordert ein besonderes Maß an Vertrauen, da es keine Möglichkeit gibt, die Reise vor dem Kauf zu testen. Am Ort des Verkaufs im Reisebüro ist die Reise nur virtuell im Katalog, aber nicht in natura sichtbar. Die potentiellen Käufer müssen sich in der Regel auf die Text- und Bildinformationen im Katalog verlassen, die sich nur mit einem erheblichen Zeitaufwand oder gar nicht überprüfen lassen. Es ist auch nicht möglich, eine Pauschalreise bei Nichtgefallen umzutauschen oder zurückzugeben. Hohe Stornogebühren erschweren die Rückgabe schon vor Reiseantritt. Selbst wenn die Reise so erhebliche Mängel aufweist, dass Kunden die volle Erstattung des Preises verlangen können, lässt sich der entgangene Nutzen eines erholsamen Urlaubs nicht mit Geld kompensieren.
Die Pauschalreise hätte andererseits nie einen erheblichen Marktanteil erobert, wenn sie den Konsumenten nicht erhebliche materielle und immaterielle Vorteile geboten hätte. So waren die Informations- und Organisationskosten einer individuell geplanten Reise ins Ausland lange Zeit erheblich höher als die Informations- und Organisationskosten einer Pauschalreise.10 Der zeitliche und monetäre Informationsaufwand einer Individualreise umfasste den Kauf und das Lesen von Reiseführern sowie eine zeitintensive Korrespondenz mit Hotels und Fremdenverkehrsämtern im Urlaubsland. Für die Kommunikation mit ausländischen Anbietern waren zudem oft Fremdsprachenkenntnisse erforderlich, die ein großer Teil der potenziellen Auslandsurlauber nicht besaß. Reisebüros boten Individualreisenden zwar Hilfe bei der Beschaffung von Fahrkarten und Flugtickets und bei der Buchung von Hotels, aber keine Unterstützung am Reiseziel. Bis zum Beginn der 1960er-Jahre betrachteten durchschnittliche Konsumenten das Reisebüro als einen Ort der Wohlhabenden und Gebildeten, an dem man sich wegen der sozialen Distanz nicht willkommen fühlte.
Einer der Gründe für den Erfolg der Pauschalreise war somit die beträchtliche Senkung der Transaktionskosten. Eine Pauschalreise war ein komplexes Paket von Dienstleistungen (Anreise, Transfers, Unterkunft und Verpflegung), das bei Selbstorganisation erhebliche materielle und nicht-materielle Transaktionskosten verursacht hätte.11 Ein preis- und qualitätsbewusster Konsument konnte seinen Informationsaufwand auf den Vergleich zwischen konkurrierenden Reiseveranstaltern und ihren Pauschalangeboten beschränken. Auch die leichtere Kalkulierbarkeit der Reisekosten erhöhte bei einer Pauschalreise die Bequemlichkeit.12 Touristen mit beschränktem Budget konnten dank des Pauschalpreises der Gefahr einer finanziellen Überforderung entgehen. Dies war besonders wichtig für Kunden, die zum ersten Mal eine Auslandsreise unternahmen und das Preisniveau des Reiselandes nicht kannten.
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2. Die Reiseveranstalter und ihre Kunden
Die westdeutschen Reiseveranstalter mussten 1948 nicht bei Null beginnen. Unmittelbar nach der Währungsreform bot Deutschlands größter Reiseveranstalter Carl Degener wieder Pauschalreisen in die Bayerischen Alpen an. Der mittelständische Unternehmer Degener war bereits in den 1930er-Jahren einer der größten privaten Reiseveranstalter gewesen. Trotz der Kostenvorteile und der erheblich niedrigeren Preise der marktbeherrschenden KdF war es ihm gelungen, sich in einer Marktnische zu behaupten. Degener vermittelte das Gefühl einer individuellen Betreuung anstelle der Massenabfertigung durch die KdF. Seine Kunden waren bereit, 69 RM für eine einwöchige Reise in die Bayerischen Alpen zu zahlen (statt 39 RM für eine vergleichbare KdF-Reise), um dem „organisierten Rummel“ und der inszenierten Kameradschaft eines KdF-Urlaubs zu entgehen.
1951 gründete Degener mit einigen größeren Partnern wie der Bundesbahn die Firma Touropa, die rasch zum Synonym für preiswerte Pauschalreisen wurde. Degener konzentrierte sich zunächst auf die Kleinstadt Ruhpolding im Voralpenland, die er bereits in den 1930er-Jahren für den Pauschaltourismus erschlossen hatte. Anders als in Garmisch und Berchtesgaden betrachteten die Ruhpoldinger Wirte die Pauschalurlauber nicht mit dem Negativklischee des Massentouristen, des Urlaubers zweiter Klasse mit niedrigem sozialem Status und kleinem Reisebudget. Ihr Vertrauen in Degener wurde nicht enttäuscht: Bereits 1950 überstieg die Zahl der Übernachtungen den höchsten Vorkriegswert von 1937.13
Degeners Unternehmensstrategie war vergleichbar mit den Geschäftsmethoden von Kettenläden: Die Touropa machte ihr Geschäft durch die große Zahl der Kunden, begnügte sich mit relativ niedrigen Gewinnspannen je Reise und nutzte die Kostenvorteile der gebündelten Nachfrage (Skaleneffekte) durch die Beschränkung auf wenige Ziele konsequent aus. Degener war der erste deutsche Touristikunternehmer nach der KdF, der ein fordistisches Produktions- und Absatzmodell adaptierte. Anstatt teure maßgeschneiderte Reisen für das schmale Segment der Oberklassekonsumenten anzubieten, konzentrierte er sich auf den schnell wachsenden und preisbewussten neuen Mittelstand.
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„Ferien wie noch nie“ – Titelseite eines Touropa-Bahnreisekatalogs
(Winterprogramm, undatiert, späte 1950er-Jahre; Foto: Archiv der TUI AG)
Ein erheblicher Teil des Kosten- und Leistungsvorsprungs der Touropa resultierte aus ihrer engen Kooperation mit der Bundesbahn. Der Reiseveranstalter konnte Sonderzugplätze mit einem Rabatt von mehr als 50 Prozent chartern. Die niedrigen Preise waren das erfolgreichste Verkaufsargument für Touropa: 1956 kostete eine neuntägige Urlaubsreise von Hamburg nach Ruhpolding mit Anreise, Vollpension und Übernachtung in der billigsten Zimmerkategorie 141 DM, während eine reguläre Rückfahrkarte von Hamburg nach Ruhpolding bereits 124,20 DM kostete. Anders als die Individualtouristen reisten die Touropa-Kunden ohne Aufpreis im Liegewagen-Nachtzug an, was ihnen zwei zusätzliche Tage am Reiseziel einbrachte.
Die Pauschalreisenden unterschieden sich von den Individualreisenden durch die Geschlechterproportion, das Alter und den Beruf. Ende der 1950er-Jahre zeigten sich Soziologen überrascht, dass 60 Prozent aller erwachsenen Pauschalurlauber in Ruhpolding Frauen waren.14 Pauschalreisen waren vor allem bei alleinstehenden berufstätigen Frauen beliebt. 47 Prozent aller Pauschalurlauberinnen in Ruhpolding waren Angestellte und Beamtinnen. In den übrigen bayerischen Urlaubsorten lag dieser Anteil nur zwischen 22 und 33 Prozent. Der hohe Frauenanteil von 60 Prozent erklärt sich dabei nur zu einem kleineren Teil aus dem kriegsbedingten Frauenüberschuss; andere Faktoren kamen hinzu. Zum einen entgingen die Frauen der unangenehmen Marginalisierungserfahrung in traditionellen Urlaubsorten wie Garmisch, wo Ehepaare mittleren und fortgeschrittenen Alters dominierten. Zum anderen war die Zimmerreservierung durch den Reiseveranstalter ein unpersönliches Verfahren, bei dem der Kontakt zwischen Gast und Wirt erst bei der Anreise hergestellt wurde. Die Wirte verzichteten damit auf die Möglichkeit, die moralische Zuverlässigkeit ihrer Gäste vor der Zimmerbestätigung mustern und fragwürdig erscheinende Gäste abweisen zu können.
Die große Zahl unverheirateter Frauen dürfte auch die Attraktivität des Urlaubsorts für unverheiratete Männer erhöht haben. Selbst wenn der Überschuss an unverheirateten Frauen nur in soziologischer Fachliteratur publiziert wurde, verbreitete sich diese Information durch die Mundpropaganda männlicher Urlauber. Im rigiden sexualmoralischen Klima der 1950er-Jahre mussten Reiseveranstalter jeden Hinweis auf den hohen Anteil unverheirateter Frauen unterlassen, um nicht wegen der Förderung sexueller Unzucht bezichtigt zu werden. Während die Vermietung eines Doppelzimmers an ein unverheiratetes Paar eine Anklage wegen Kuppelei nach sich gezogen hätte, konnten Reiseveranstalter den Wünschen unverheirateter Paare teilweise entgegenkommen. So war es möglich, für ein unverheiratetes Paar zwei Einzelzimmer in derselben Pension zu reservieren, was ein Pensionswirt im direkten Kontakt oft nicht gestattet hätte.15
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Dass sich Touropa auf das wachsende Massengeschäft im unteren und mittleren Preissegment konzentrierte, erwies sich als strategischer Vorteil. Zum einen war die besonders reiseinteressierte Gruppe der Angestellten und Beamten diejenige soziale Schicht der Gesellschaft, die am schnellsten wuchs. Wie schon in der Weimarer Republik waren die Angestellten die Vorreiter eines konsumorientierten Lebensstils.16 Im „Wirtschaftswunder“ waren Angestellte und Beamte die ersten, die einen größeren Teil ihrer verfügbaren Kaufkraft für nicht lebensnotwendige Zwecke und speziell für Reisen ausgaben. Schon 1956 machten 44 Prozent aller Angestellten und Beamten eine Urlaubsreise von mindestens fünf Tagen. Ihre Reisequote war damit doppelt so hoch wie diejenige der Durchschnittsdeutschen.17 Während der alte Mittelstand mit Ausgaben für Urlaubsreisen noch zögerte, war die Urlaubsreise für Angestellte bereits zu einem Teil des Habitus geworden.
Schon in den 1950er-Jahren übertrug der deutsche Tourismussoziologe Hans-Joachim Knebel das Konzept des amerikanischen Soziologen David Riesman vom manipulierten Verbraucher in der „einsamen Masse“18 auf die Pauschaltouristen. Kulturkritiker der Neuen Linken wie Hans Magnus Enzensberger kombinierten Riesmans Konzept des unreflektierten Konsums mit Adornos und Horkheimers Konzept der Entfremdung und Manipulation.19 Enzensberger stellte die These auf, dass sich der bei der Arbeit wirksame Entfremdungsprozess im Urlaub fortsetze.
Diese Sicht löste jedoch keine gesellschaftliche Debatte über die Legitimität von Urlaubsreisen aus. Bereits 1955 betrachteten 83 Prozent aller Westdeutschen die Urlaubsreise als ein legitimes Konsumgut und nicht mehr als Luxus.20 Die Idee einer reisenden Gesellschaft bestand schon als eine mächtige Vision, bevor sie zur selbstverständlichen Praxis werden konnte.
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Zwischen den frühen 1950er- und den späten 1960er-Jahren verringerten sich die signifikanten Unterschiede zwischen dem Reiseverhalten der Arbeiter und der Angestellten, aber sie verschwanden nicht. Während 1967 bereits 52 Prozent aller Angestellten mit einem monatlichen Bruttoeinkommen von 800 bis 1.000 DM eine Urlaubsreise unternommen hatten, waren nur 42 Prozent aller Facharbeiter und 32 Prozent aller angelernten Arbeiter in der gleichen Einkommensklasse gereist.21 Noch größere Unterschiede im Reiseverhalten bestanden zwischen der Landbevölkerung und Großstadtbewohnern. 1967 unternahmen weniger als 30 Prozent aller erwachsenen Dorfbewohner, aber 60 Prozent aller Großstädter eine Urlaubsreise. Mit ökonomischen Faktoren wie den niedrigeren Durchschnittseinkommen oder der eingeschränkten Mobilität von Landwirten kann dieser Unterschied nur teilweise erklärt werden. Während die Urlaubsreise im großstädtischen Mittelschichtmilieu bereits zur sozialen Norm gehörte, dominierten im ländlichen Milieu noch traditionelle Distinktionsformen wie der Hausbesitz.
Die Distanzierung der Reiseveranstalter von den Praktiken der KdF war überzeugend genug, um Reisende zu gewinnen, die über die organisierte Urlaubskameradschaft und die inszenierte Gemütlichkeit von Gruppenreisen die Nase rümpften. Dennoch dauerte der Überzeugungsprozess einige Zeit, da manche potentiellen Kunden die Pauschalreise mit gemeinsamer Anreise im Zug und individueller Urlaubsgestaltung am Ziel mit einer stark durchorganisierten Gruppenreise verwechselten. Das Stereotyp der Pauschalreise als Urlaub in einer Masse von lauten und unkultivierten Mitreisenden behauptete sich noch bis in die frühen 1970er-Jahre.22 Als Gegengewicht zum Negativ-image der Pauschalreise wirkten Reiseberichte aus erster Hand. Die Hypothese von Tourismussoziologen, dass sich Pauschalreisende während des Urlaubs in eine „freiwillige Unmündigkeit“ begaben, erwies sich als falsch. Pauschalreisende verhielten sich am Urlaubsort nicht signifikant anders als Individualurlauber und entsprachen keineswegs dem Klischee des „Herdentiers“. Ihre Motive, eine Pauschalreise zu buchen, waren Bequemlichkeit und Nutzenmaxi-mierung: Sie wünschten ein Maximum an Leistung für ein festes Urlaubsbudget.
Die Veranstalter unternahmen einige Anstrengungen, die das Gefühl der Ungezwungenheit stärken sollten. Die kostenlosen Eintrittskarten für organisierte Folkloreabende waren ein Angebot, aber keine Verpflichtung zur Teilnahme. Diese bewusste Vermeidung des Kollektivismus war nicht nur eine Reaktion auf die Erfahrungen des „Dritten Reiches“. Das Negativbild des Zwangskollektivs war vor allem durch die Darstellung der DDR in den bundesdeutschen Medien präsent. Im Gegensatz zur kollektiven Organisation des Urlaubs durch die Volkseigenen Betriebe und die Unterbringung in betriebseigenen Ferienheimen wollten westliche Veranstalter die Pauschalreise der Individualreise möglichst ähnlich erscheinen lassen. Das Negativbild der Kollektivgesellschaft war auch dafür verantwortlich, dass sich die neue Form des Cluburlaubs erst in den 1970er-Jahren etablierte. Während in Großbritannien der durchorganisierte Urlaub im Feriencamp („Billy Butlin“) mit einem umfangreichen Programm von Gemeinschaftsaktivitäten als neue Urlaubsform populär war, wäre sie im anti-kollektivistischen Klima der Bundesrepublik auf Ablehnung gestoßen.23
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Die enge Kooperation der Touropa mit der Bahn erleichterte den Durchbruch auf dem Reisemarkt erheblich, wurde auf mittlere Frist aber ein Wachstumshindernis. Bis 1966 boten Touropa und der Hauptkonkurrent Scharnow kaum Fahrten mit Anreise im eigenen PKW an, um ihre Sonderzüge gut auszulasten und die enge Zusammenarbeit mit der Bahn keiner Belastungsprobe zu unterziehen. Da der Anteil der Autobesitzer gerade in den Mittelschichten deutlich anstieg, stellten Autofahrer unter den Urlaubern jedoch bald keine Minderheit mehr dar. Von 1960 bis 1966 stieg der Anteil der Urlaubsreisenden im Auto von 36 auf 55 Prozent.24 Diesen Trend hätten die Veranstalter fast verschlafen. Die Touropa wachte erst 1967 auf, als die Zahl der verkauften Zugreisen um 9 Prozent zurückging, nachdem ihre Umsätze bis dahin stetig gestiegen waren.25 Von 1951 bis 1965 stiegen die Umsätze kontinuierlich von 20 auf 291 Mio. DM, was einem durchschnittlichen jährlichen Wachstum von 19 Prozent entsprach.26 Jetzt musste die Touropa auf die erstarkende Konkurrenz des Individualurlaubs mit dem PKW reagieren - und es zeigte sich, dass Pauschalangebote mit eigener Anreise im PKW problemlos in das Angebot zu integrieren waren. Der niedrigere Umsatz pro Urlauber bei eigener Anreise wurde durch das deutlich größere Marktpotential wieder ausgeglichen.
Im Liegewagen der Sonne entgegen - Titelseite eines Scharnow-Bahnreisekatalogs (undatiert, späte 1950er-Jahre; Foto: Archiv der TUI AG)
Das starke Wachstum des Pauschalreisemarktes setzte auch eine Umstrukturierung der Reisefirmen in Gang. Bis 1965 waren selbst die größten Veranstalter Touropa und Scharnow familiengeführte Unternehmen. 1968 schlossen sich die Eigentümer von vier großen Reiseveranstaltern (Touropa, Scharnow, Hummel und Dr. Tigges) zur Touristik Union International (TUI) zusammen. Die Synergieeffekte der Fusion blieben in den ersten Jahren jedoch begrenzt, da die vier Unternehmen ihre Kooperation zunächst auf den Einkauf von Hotel- und Flugkapazitäten beschränkten. Erst 1974 fusionierten sie ihr Management und führten die Namen der Gründerfirmen nur noch als Markennamen fort.
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3. Die Anfänge des Massentourismus ins Ausland
Obwohl der Anteil der Urlaubsreisenden in den 1950er-Jahren erheblich stieg, fuhren noch 1960 nur 28 Prozent aller Bundesbürger in den Urlaub.27 Der massenmedialen Darstellungen der „Reisewelle“ zum Trotz war die Urlaubsreise immer noch ein Privileg von Singles, kinderlosen Paaren der Mittelschichten und Angehörigen der Oberschicht. In der Wiederaufbaugesellschaft der 1950er-Jahre hatte die (Wieder-)Beschaffung von Haushaltsgütern zunächst Vorrang. Solange die Bedürfnisse nach Kleidung, Möbeln und anderen Haushaltsgütern noch nicht erfüllt waren, kamen größere Ausgaben für Vergnügungen und Reisen nicht in Betracht.28 Die monatlichen Ausgaben für Freizeitbedürfnisse wuchsen nur dank der erheblichen Erhöhung der Realeinkommen von 24,84 DM (1950) auf 51,42 DM (1960; jeweils in Preisen von 1958). Doch auch dieser starke Anstieg kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das durchschnittliche Niveau der Freizeitausgaben einer Mittelklassefamilie auch 1960 noch keine jährliche Urlaubsreise ermöglichte. Während der Ratenkauf von Möbeln und langlebigen Haushaltsgütern in den 1950er-Jahren gesellschaftlich akzeptiert wurde, zögerten die Deutschen noch, kurzlebige Konsumgüter wie Reisen mit Krediten zu finanzieren.29 An der Spitze der Prioritätenliste standen Kühlschränke und Waschmaschinen. Frauen wie Männer gaben dem Kauf von solchen Konsumgütern Priorität, die das tägliche Leben dauerhaft erleichterten.30
Erst 1973 unternahmen 50 Prozent aller erwachsenen Bundesdeutschen eine Urlaubsreise, so dass man frühestens ab diesem Zeitpunkt vom Reisen als Normalverhalten sprechen kann. Insbesondere das Reisen ins Ausland blieb lange ein soziales Privileg gut verdienender Freiberufler und Unternehmer. Unter den Selbstständigen, die 1956 verreisten, fuhren nur 22 Prozent ins Ausland; unter den Angestellten und Beamten waren es sogar nur 11 Prozent. Der besondere Status von Reisen ins nicht-deutschsprachige Ausland wird auch daran erkennbar, dass mindestens 40 Prozent aller Auslandsurlaube in das Nachbarland Österreich führten.
Die finanziellen Hürden eines Auslandsurlaubs werden am folgenden Beispiel deutlich: 1956 bot Touropa die billigste einwöchige Reise an die italienische Adria zum Preis von 347 DM an, während die billigste Urlaubsreise nach Ruhpolding nur 141 DM kostete.31 Da das durchschnittliche Monatseinkommen ca. 350 DM brutto betrug, lag eine Reise ans Mittelmeer außerhalb der finanziellen Möglichkeiten eines Mittelklasseurlaubers.
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Den Mittelmeerraum entdecken - Titelseite eines Dr. Tigges-Katalogs
(1960; Foto: Archiv der TUI AG)
In den 1950er-Jahren war die Adria das wichtigste Objekt des bundesdeutschen Fernwehs. Die Küsten waren bereits touristisch erschlossen, und Italien war schon vor dem Einsetzen des Massentourismus ein herausragender Punkt auf der imaginären Landkarte der Deutschen. Doch die traditionelle Italienreise war die Pilgerreise nach Rom oder die bildungsbürgerliche Studienreise zu den Stätten der Antike und der Renaissance. Die Reiseveranstalter und die italienische Tourismuswirtschaft passten sich den Bedürfnissen der neuen Mittelschichttouristen an, die nicht den Spuren der Bildungsreise folgten. Der neue Typ des Reisenden wurde vor allem von den populären Italienklischees in der Unterhaltungsmusik und im Film angezogen. Generell waren der Anstieg des Auslandstourismus und der Marktdurchbruch der Pauschalreise eng miteinander verbunden, wie die folgenden Zahlen zeigen.
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Tab. 1: Anteil der Auslandsreisenden an der Gesamtzahl
der westdeutschen Urlaubsreisenden (in Klammern: absolute Zahlen)32
1954 | 15% (1 Mio.) |
1958 | 27% (3 Mio.) |
1962 | 40% (5 Mio.) |
1966 | 48% (9 Mio.) |
1970 | 54% (10 Mio.) |
1974 | 58% (13 Mio.) |
1978 | 61% (16 Mio.) |
1982 | 61% (16 Mio.) |
1986 | 66% (18 Mio.) |
Tab. 2: Anteil der Pauschalreisenden an der Gesamtzahl der Urlaubsreisenden33
1958 | 13% |
1961 | 11% |
1968 | 17% |
1970 | 17% |
1975 | 20% |
1980 | 26% |
1985 | 34% |
1988 | 40% |
Tab. 3: Zahl der in der Bundesrepublik verkauften Pauschalreisen34
1958 | 1.560.000 |
1961 | 1.540.000 |
1968 | 3.230.000 |
1970 | 3.230.000 |
1975 | 5.000.000 |
1980 | 6.500.000 |
1985 | 9.180.000 |
1988 | 12.000.000 |
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In den späten 1970er-Jahren löste Spanien Italien als beliebtestes Mittelmeer-Reiseland westdeutscher Urlauber ab. Noch Ende der 1950er-Jahre war Spanien auf der imaginativen Urlaubslandkarte der Deutschen nahezu ein weißer Fleck gewesen, obwohl es mit seinem zuverlässigen Sommerwetter und seinen langen Sandstränden ähnlich günstige Bedingungen für den Massentourismus besaß wie Italien. 1958 ergab eine repräsentative Meinungsumfrage, dass sechs Prozent aller Bundesbürger ihren Urlaub in Italien verbracht hatten, aber nur ein Prozent nach Spanien gereist war.35 Im Unterschied zu Italien konnte sich die Werbung der Reiseveranstalter nicht auf ein vertrautes Image von Spanien stützen oder an bereits etablierte Reisetraditionen anknüpfen. Die Entwicklung Spaniens zu einem führenden europäischen Ferienziel erforderte nicht nur ein ausreichendes Angebot an komfortablen Hotelzimmern und deutlich größere Transportkapazitäten der Charterfluggesellschaften, sondern auch Werbeanstrengungen der Reiseveranstalter.
Zudem waren erhebliche Kapitalexporte notwendig, um die Hotelinfrastruktur in Spanien auszubauen. Nachdem die spanische Regierung 1963 alle Beschränkungen für ausländische Investitionen in der Hotelbranche aufgehoben hatte, waren die Hotelkapazitäten bald kein Wachstumshindernis mehr.36 Neben den Direktinvestitionen der deutschen und englischen Immobilienunternehmen und Reiseveranstalter profitierten die spanischen Hoteliers von den Vorschüssen, die ausländische Touristikunternehmen bei der Reservierung von Zimmerkontingenten für die nächste Saison als Sicherheiten hinterlegen mussten. Diese Zahlungsusancen verschafften den Hotelbesitzern zinslose Kredite, mit denen sie Neubauten sehr günstig finanzieren konnten.
Für einen Urlaub in Spanien gab es gute Werbeargumente. Der neue Typ des vergnügungsorientierten Touristen suchte die Sonne und den Sandstrand, das Meer, Unterhaltung und Geselligkeit - und nicht die kanonisierten Sehenswürdigkeiten des Baedeker. Die natürlichen Bedingungen für ein massentouristisches Ziel bot Spanien im Überfluss. Niedrige Grundstückspreise sowie niedrige Preise für Nahrungsmittel und Dienstleistungen waren weitere wichtige Gründe für die Entwicklung Spaniens zum Urlaubsland. Vergleichsweise geringe „out of pocket“-Ausgaben für alkoholische Getränke, Ausflüge und Unterhaltung vermittelten den Touristen das Gefühl, einen günstigen Urlaub zu verbringen.
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Spanien war gerade wegen seiner geographischen Lage ein prädestiniertes Pauschalreiseziel. Die Entfernung zur spanischen Festlandsküste war so weit, dass für die meisten Urlauber - bis auf Camper - die Anreise im Auto nicht in Frage kam. Für Reisen auf die Balearen und die Kanarischen Inseln gab es ohnehin keine Alternative zum Flugzeug. Da Linienfluggesellschaften bis zur partiellen Deregulierung des europäischen Luftfahrtmarktes in den späten 1970er-Jahren kaum vergünstigte Tickets anboten und Charterfluggesellschaften nur Fluggäste mit einem Pauschalarrangement befördern durften, war der Charterflug nach Spanien fast konkurrenzlos. Mehr als 70 Prozent aller deutschen Spanienurlauber, aber nur 30 Prozent der Italienreisenden buchten daher eine Pauschalreise.
Flugreisen erweitern die Angebotspalette - Werbung der „Deutschen Flugtouristik“ (1959; Foto: Archiv der TUI AG)
Die Möglichkeit, Direktinvestitionen in spanische Hotels vorzunehmen, versprach den Anbietern zusätzliche Gewinnmöglichkeiten. Während die Umsatzrendite der Reiseveranstalter mit 2 Prozent nicht sehr hoch war, ermöglichten Investitionen in Hotels Umsatzrenditen von etwa 10 Prozent. Bei den jährlichen Wachstumsraten des deutschen Spanientourismus zwischen 25 und 200 Prozent in den 1960er-Jahren war das Risiko von Überkapazitäten praktisch nicht vorhanden.37 Spanienreisen entwickelten sich in den 1960er-Jahren zur ergiebigsten „cash cow“ der Tourismusbranche. Das Wachstum des Pauschalreisegeschäfts nach Spanien und in andere Mittelmeerländer konnte das stagnierende Geschäft innerhalb Deutschlands mehr als ausgleichen. 1969 erwirtschaftete die TUI 56 Prozent ihres Umsatzes mit Flugreisen.38 Es waren die 1960er-Jahre, als die Westdeutschen begannen, ihren Ruf als „Reiseweltmeister“ zu begründen.
4. Die Pauschalreise im Wettbewerb
Das starke Wachstum des Auslandstourismus lockte branchenfremde Unternehmen, im Reisegeschäft tätig zu werden. 1963 gründete Neckermann eine Reisegesellschaft.39 Der Name Neckermann genoss dank des Versandhauses bereits einen sehr hohen Bekanntheitsgrad. Neckermann war zum populären Synonym für die Demokratisierung des Konsums geworden, weil das Versandhaus einst exklusive Konsumgüter wie Fernseher und Kühlschränke zu günstigeren Preisen verkaufte als der traditionelle Einzelhandel. Neckermanns Credo manifestierte sich in seinem Werbeslogan „Neckermann macht’s möglich“.
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Im Unterschied zu seinen Konkurrenten war Neckermann nicht durch längerfristige Verträge mit der Bahn gebunden. Touropa und Scharnow hatten sich als Gegenleistung für vergünstigte Sonderzugtarife verpflichtet, keine Flugreisen an die Adria anzubieten, die noch mit Nachtzügen erreichbar war. Obwohl die Bahn 1965 auf diese Bedingung verzichtete, hatte Neckermann bei der Entwicklung des Flugreisegeschäfts einen Startvorsprung gegenüber der Konkurrenz.
Touropa und Scharnow betrieben in den 1960er-Jahren noch keine Marktforschung, um die Entwicklung des Konsumverhaltens zu prognostizieren. Auch nach der Gründung der TUI (1968) machte die Marktforschung in der Reisebranche nur geringe Fortschritte. Noch in den frühen 1970er-Jahren klagten akademische Tourismusexperten über das Fehlen strategischer Unternehmensplanungen und über die Wissensdefizite der Reisebranche. Aufgrund der sehr hohen Wachstumsraten von jährlich 20 bis 30 Prozent hatten die Reiseveranstalter keinen Bedarf verspürt, mittelfristige Geschäftsstrategien zu entwickeln. Erst 1969 gründeten die größeren Reiseunternehmen als Ersatz für eigene Marktforschungskapazitäten das Institut „Studienkreis für Tourismus“.
Neckermanns optimistische Prognose, dass steigende Realeinkommen zu überproportional steigenden Reiseausgaben führen würden, basierte nicht auf Konsumforschung, sondern auf „common sense“. Spätere Berechnungen von Wirtschaftswissenschaftlern zeigten, dass Neckermanns Erwartungen stimmten. Die Einkommenselastizität der Reiseausgaben lag zwischen 1960 und 1977 bei 1,22 - was bedeutet, dass die Reiseausgaben schneller als die Einkommen stiegen.40 Auch die Rezession von 1966/67 führte nur zu einem kurzzeitigen Rückgang der Reiseintensität.
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Da Neckermann zuvor keine Erfahrungen im Touristikgeschäft erworben hatte, schloss das Unternehmen einen Managementvertrag mit dem Schweizer Reiseveranstalter Hotelplan. Dieser war in den 1930er-Jahren von Gottlieb Duttweiler aufgebaut worden, der auch die genossenschaftliche Lebensmittelkette Migros gegründet hatte. Duttweiler etablierte gegen erhebliche Bedenken der Hotelbesitzer sein Geschäftskonzept, Hotelbetten in der Vor- und Nachsaison mit Rabatten an Kunden aus der Schweiz zu verkaufen, nachdem die Belegung durch ausländische Urlauber zurückgegangen war. Das Konzept, die Auslastung der Hotels durch die Öffnung für Kunden aus den Mittelschichten zu erhöhen, erwies sich als erfolgreich.41 Aus Neckermanns Sicht lag es nahe, das Konzept von Hotelplan auf dem deutschen Markt zu etablieren. Neckermann handelte ganz nach seinem Image als Demokratisierer des Konsums und unterbot die Preise seiner mittelständischen Konkurrenten deutlich. Die Anlaufverluste der ersten Jahre wurden in der Bilanz des Versandhauses versteckt. Auf mittlere Sicht erwies sich Neckermanns Diversifizierungsstrategie als erfolgreich: Bald erwirtschaftete die Touristiksparte deutlich höhere Umsatzrenditen als das Kerngeschäft.42
Um die unliebsame Konkurrenz auszugrenzen, überredete die TUI etwa 1.200 selbstständige Reisebüros zum Abschluss von Exklusivverträgen mit höheren Verkaufsprovisionen.43 Als Gegenleistung mussten sich die Reisebüros verpflichten, keine Reisen von Neckermann zu verkaufen. Neckermann wurde mit diesem Manöver jedoch wenig getroffen. Durch das Versandhausgeschäft verfügte Neckermann über die Daten von Millionen potentieller Urlauber, und die großen Kapazitäten des Versandhauses für die Auftragsbearbeitung ergaben Synergieeffekte, welche die Bearbeitungskosten in der Touristiksparte senkten. Während Neckermann in größeren Städten durch seine Kaufhäuser präsent war, besaß das Versandhaus in ländlichen Regionen ein flächendeckendes Netz von nebenberuflichen Vertriebsagenten, das seine Konkurrenten nicht hatten. Neckermanns Direktvertrieb war ein Wettbewerbsvorteil gegen-über den Reisebüros, die eine Vermittlungsprovision zwischen 6 und 12 Prozent erhielten.44
Frühzeitig richtete Neckermann den Blick nicht allein auf das Massengeschäft mit den populärsten Reisezielen am Mittelmeer. Bereits 1966 investierte das Unternehmen in die Erschließung von exklusiven Fernreisezielen und bot Reisen nach Indien, Thailand und Sri Lanka an. Neckermann war der erste Reiseveranstalter, der das Interkontinentalflugzeug Boeing 707 im Charterverkehr einsetzte.45 Die Preise seiner Konkurrenten konnte Neckermann um mehr als 25 Prozent unterbieten. Durch den Verkauf einiger Fernreisen unter der psychologisch wichtigen Grenze von 1.000 DM baute Neckermann seinen Ruf als Demokratisierer von exklusiven und prestigeträchtigen Konsumgütern noch aus. Neckermanns regionale Diversifizierungsstrategie verfolgte das Ziel, ein zunächst kleines, aber sehr wachstumsträchtiges Marktsegment zu erschließen. Zugleich ging es darum, den Ruf eines Massenproduzenten abzustreifen. Neckermann warb (auch) um Kunden aus den oberen Mittelschichten, die sich von der Masse der Pauschalurlauber unterscheiden wollten. Obwohl das Fernreisegeschäft 1970 nur vier Prozent des Gesamtumsatzes im Tourismus ausmachte,46 erwies sich diese Strategie insgesamt als erfolgreich.
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1970 folgte die Kaufhof AG dem Beispiel Neckermanns und gründete den Reiseveranstalter ITS Reisen. Auch Kaufhof wollte die Synergieeffekte zwischen dem Einzelhandel und dem Reisegeschäft nutzen; der Vertrieb wurde auf Reisebüros in den eigenen Kaufhäusern konzentriert. Doch im Unterschied zu Neckermann musste ITS Reisen in den ersten drei Jahren hohe Anlaufverluste von 22,5 Mio. DM in Kauf nehmen, bevor die Firma 1973/74 erstmals schwarze Zahlen schrieb.47 Die Marktetablierung eines großen Reisever-anstalters erforderte nicht nur einen hohen Werbeaufwand. ITS musste in den ersten Jahren eine besonders aggressive Preispolitik betreiben und die Preise der Konkurrenten um bis zu 12 Prozent unterbieten.48 Da die Reiseveranstalter durchschnittlich 80 Prozent ihrer Einnahmen für Fremdleistungen wie Flugpassage und Hotels ausgeben mussten, resultierte ein so hoher Rabatt bei gleichen Einkaufspreisen in Verlusten, die auch nicht durch Synergieeffekte kompensiert werden konnten. Wegen der harten Preiskonkurrenz der großen Anbieter TUI, Neckermann und ITS bildete sich kein Oligopol, sondern ein oligopolistischer Wettbewerb heraus.
Der intensive Wettbewerb war auch eine Folge der ähnlichen Angebotsprofile. Während sich kleinere Veranstalter vielfach auf Marktnischen spezialisierten, entwickelten die großen Unternehmen kein unverwechselbares Angebot. Standardreisen wie zwei Wochen Mallorca in einem Mittelklassehotel waren eine austauschbare Ware. Obwohl Pauschalurlauber aus einer großen Zahl von Hotels in unterschiedlichen Orten, Regionen und Ländern wählen konnten, war eine Tendenz zur Standardisierung des Produktes Pauschalreise nicht zu übersehen. Die Kataloge der großen Veranstalter schienen die Urlaubsorte und die Urlaubsländer zu homogenisieren, indem sie komplexe Informationen über das Reiseziel auf Hotels und Strände reduzierten.
Im Laufe der 1950er- und 1960er-Jahre hatte sich die Katalogwerbung verändert. Während die Kataloge der 1950er-Jahre noch überwiegend pittoreske Szenen von Häfen und Dörfern darstellten und die Individualität jedes Ferienortes betonten, dominierten seit Mitte der 1960er-Jahre Fotos von Stränden und Hotels. Die neuen Bildprogramme der Kataloge sollten den vergnügungsorientierten Urlauber ansprechen, der im Unterschied zum traditionellen Typ des romantischen Reisenden nicht Impressionen und kulturelle Eindrücke suchte, sondern ein Ferienparadies. Die typischen Katalogbilder verkauften nicht ein bestimmtes Reiseziel, sondern einen glücklichen Urlaub in einer angenehmen Atmosphäre. Die Außen- und Innenaufnahmen von Hotels dienten als Beweis der versprochenen Qualität und sollten den Kunden zeigen, was ihnen für ihr Geld geboten wurde. Der Hauptzweck einer Reise war nicht mehr die Entdeckung der Fremde, sondern die Suche nach Glück, Spaß und Erholung, nach weichen Sandstränden und warmen Meereswellen.49
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Die dicken Kataloge sahen sich immer ähnlicher. Die Werbeabteilungen der Reiseveranstalter benutzten nicht nur das gleiche Bildprogramm, sondern auch das gleiche Repertoire an Redewendungen, Phrasen und Klischees.50 Trotz dieser Standardisierung waren die Kataloge ein wichtiges Medium. Neben ihrer Funktion als Verkaufshilfen dienten sie dazu, Informationen und Inspirationen zu vermitteln. In Umfragen über die Faktoren der Reiseentscheidung standen die Kataloge an zweiter Stelle, gleich hinter den Empfehlungen von Freunden und Verwandten.51 Ihr Einfluss überstieg die Bedeutung der traditionellen Informationsmedien wie der Kulturreiseführer oder auch der fiktionalen wie nicht-fiktionalen Reiseliteratur erheblich.52
Die Tendenz zur Homogenisierung der Reiseziele und Reisebeschreibungen hatte auch erhebliche Folgen für das Image der Veranstalter. Im Unterschied zu Spezialanbietern für exklusive Ziele oder innovative Urlaubskonzepte konnten die großen Veranstalter TUI, Neckermann und ITS kein unverwechselbares Markenimage aufbauen.53 Die Urlauber waren qualitäts- und preisbewusst, aber markenindifferent. Nach einer unveröffentlichten Umfrage des Charterflugunternehmens LTU waren nur 8 Prozent der Neckermann-Kunden treue Stammkunden. Der Kernkundenbestand anderer großer Veranstalter überstieg selten mehr als 10 bis 15 Prozent.54 Doch dieser Befund bedeutet noch nicht, dass die Entscheidung für eine Reise allein den Gesetzen von „rational choice“ folgte. Obwohl Pauschalurlauber auf ein günstiges Preis-Leistungs-Verhältnis achteten, wurde die Entscheidung auch von nicht-ökonomischen Motiven wie Stereotypen, Neugier und Prestigebedürfnissen bestimmt. Bei der Auswahl des Urlaubslandes waren die Pauschalreisenden eher indifferent, solange die Erwartungen an Strand und Wetter, an die Qualität des Hotels und an eine touristenfreundliche Infrastruktur erfüllt waren.
Anfang der 1970er-Jahre berichteten die Printmedien und das Fernsehen vermehrt über Qualitätsmängel bei Pauschalreisen. Das steile Wachstum des Tourismus am Mittelmeer verwandelte stille Küstenorte in laute Großbaustellen, die den Urlaubsgenuss verdarben. Reiseveranstalter wurden mit einer zunehmenden Zahl von Beschwerden und Klagen konfrontiert.55 Dies war mehr als nur ein Indiz für Qualitätsprobleme bei Pauschalreisen. Urlauber wurden generell qualitätsbewusster, nachdem sie Reiseerfahrungen gesammelt hatten. Die Reiseseiten der Tageszeitungen und Zeitschriften berichteten über Musterprozesse gegen Reiseveranstalter und ermutigten die Leser, Rückerstattungen zu fordern, wenn ihr Urlaub wegen falscher Versprechungen und Qualitätsmängeln ihre berechtigten Erwartungen nicht erfüllt hatte. In der Rechtsprechung bildeten sich Richtwerte für Rückerstattungen heraus. Unzufriedene Kunden wussten, mit welchen Entschädigungen sie rechnen konnten.56
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Das wachsende Verbraucherbewusstsein beeinträchtigte die Popularität der Pauschalreise jedoch nicht. Die kritische Berichterstattung der Massenmedien veranlasste die Reiseveranstalter, die Qualitätskontrolle ihrer Vertragshotels zu verbessern. Da die meisten Hotels nicht in eigener Regie geleitet wurden, mussten die Veranstalter bei der Durchsetzung ihrer Standards ein Principal-Agent-Problem lösen. Der schnelle Ausbau neuer Ferienorte im Mittelmeerraum verschaffte ihnen dabei eine gute Verhandlungsposition und erlaubte die Durchsetzung höherer Qualitätsstandards.
Unvollständige Angaben in den Katalogen wurden durch genauere Informationen und Warnhinweise auf Baustellen, Verkehrslärm und lautes Nachtleben ergänzt. Um kostspielige Klagen und negative Medienaufmerksamkeit zu vermeiden, verbesserten die Veranstalter ihr Beschwerdemanagement. Anstatt ihre unzufriedenen Kunden bloß mit Entschuldigungsbriefen abzuspeisen, boten sie ihnen materielle Entschädigungen wie einen Rabatt bei der nächsten Buchung oder eine Rückerstattung in bar.57 Insgesamt war die Konstellation für Veranstalter und Reisende gleichermaßen günstig; das Vertrauen in die Pauschalreise wurde wiederhergestellt. Die Fortschritte in der Rechtsprechung, im Reiserecht und im Beschwerdemanagement verschafften der Pauschalreise sogar einen Wettbewerbsvorteil gegenüber der Individualreise, bei der Entschädigungen nur schwer einklagbar waren.
Die Intellektuellendebatten über den entfremdeten Touristen gewannen in den 1970er- und 1980er-Jahren keine nennenswerte Bedeutung mehr. Auch wenn sich die Neue Linke intensiv mit der Manipulation der Konsumbedürfnisse und der Fremdbestimmung des Freizeitverhaltens beschäftigte, wurde das Bedürfnis nach Urlaub nicht wirklich in Frage gestellt. Seit den 1970er-Jahren begründete das postmaterialistische Milieu jedoch eine anti-kommerzielle Reisekultur. Auf längere Sicht erwiesen sich deren Protagonisten als die Vorhut neuer massentouristischer Ströme. Entgegen ihren Absichten trugen sie dazu bei, neu entdeckte und (noch) nicht vom Massentourismus verdorbene Ferienparadiese als Modeziele für ein breiteres Publikum zu popularisieren. Auch die ökologischen Kritiker des Massentourismus stellten die Legitimität des Urlaubsreisens nicht in Frage und propagierten als umweltbewusste Alternative ressourcenschonende, ökologisch und kulturell weniger invasive Formen des Tourismus.58 Die gegenwärtige Diskussion um eine Klimaschutzabgabe für Flugreisen steht in dieser Tradition.
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Die Erhöhung der verfügbaren Einkommen war eine notwendige sozioökonomische Vorbedingung des westdeutschen Massentourismus, aber nicht seine Ursache. Während in den 1950er-Jahren noch der Individualtourismus und die Inlandsreise dominierten, spielte der Pauschaltourismus eine nicht unerhebliche Rolle bei der Verbreitung der Urlaubsreise in den Mittelschichten. Das Bedürfnis nach Reisen war keine anthropologische Konstante, sondern musste erst durch Werbung und durch günstige Preise geweckt werden, ehe es durch Gewöhnung und durch soziale Normen habitualisiert wurde.
Über die großen Reiseveranstalter hielt das fordistische Produktionsmodell Einzug in den Tourismus. Es leistete einen wesentlichen Beitrag bei der Popularisierung der Urlaubsreise unter sozialen Gruppen, deren Reiselust früher durch gesellschaftliche Konventionen gebremst worden war. Die Entpersönlichung des Vertragsabschlusses zwischen Urlaubern und Gastgebern half beim Abbau sozialer Hemmschwellen. Reiseveranstalter senkten nicht nur die finanziellen und organisatorischen Hürden, sondern auch die kulturellen Hindernisse für Auslandsreisen. Die Pauschalreise förderte die Verbreitung eines neuen Urlaubertyps vor allem aus den neuen nichtakademischen Mittelschichten. Reiseveranstalter griffen die Konsumbedürfnisse von Urlaubern auf, die neben der Abwechslung vom Alltag vor allem Spaß und sinnliche Stimulanz anstelle von Bildungserlebnissen und reflektierten Fremdheitserfahrungen suchten. Eine bewusste Distanzierung von den kollektivistischen Urlaubsformen des NS-Staats und der DDR half dabei, negative Assoziationen wie Gruppenzwang und Massenveranstaltungen zu überwinden. Der Erfolg der Pauschalreise war auch damit zu erklären, dass die Ähnlichkeit mit der Individualreise betont wurde.
Allerdings war die Präsentation und Realität der Pauschalreise doch so stark standardisiert, dass sich die Vielfalt des Angebots in der Wahrnehmung der Kunden immer ähnlicher wurde. Die von den Reiseveranstaltern antizipierten Erwartungen der Urlauber führten zu einer Homogenisierung des Angebots, die einen intensiven Preiswettbewerb auslöste. Dies wiederum zwang die Veranstalter, sich durch die Erschließung neuer Ziele und Urlaubsformen zu profilieren und regelmäßig neue Trends im Reiseverhalten aufzunehmen. Immer exotischere Ziele kamen jenen Urlaubern entgegen, die beim Reisen nach sozialer und kultureller Distinktion strebten, aber nicht auf die Preisvorteile einer Pauschalreise verzichten wollten. So setzten die Reiseveranstalter eine Distinktionsspirale in Gang: Neue Destinationen wurden zunehmend von exklusiven Anbietern und Reisenden entdeckt, bevor mit gewissem Abstand auch die Massenveranstalter folgten.
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In den Zielländern hinterließen die Aktivitäten der Reiseveranstalter tiefe Spuren. Nicht nur die gebaute und die natürliche Umwelt einstmals dörflicher Regionen wandelten sich. Die neuen Zentren des europäischen Massentourismus entwickelten sich vielfach zu boomenden Dienstleistungsregionen mit einer Wirtschaftsleistung, die den nationalen Durchschnitt zum Teil erheblich übertraf. Der Kapitalexport durch Tourismusinvestitionen und die Dienstleistungsimporte durch die Herkunftsländer der Massentouristen haben das wirtschaftliche Gefälle zwischen den nord- und den südeuropäischen Staaten wohl nicht unwesentlich verringert. Durch ihre Tätigkeit als Einkäufer und Verkäufer touristischer Dienstleistungen trugen die Reiseveranstalter zur wirtschaftlichen Integration Europas bei. Für künftige Forschungen dürfte es sich lohnen, neben der unbestreitbar wichtigen kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Seite des Tourismus auch seine wirtschaftsgeschichtlichen Aspekte verstärkt zu berücksichtigen - wie es hier am Beispiel der Bundesrepublik versucht wurde.
Die Pauschalreise gehört aber nicht nur der Vergangenheit an; in der Gegenwart hat sie ein neues Entwicklungsstadium erreicht. Das Internet ermöglicht eine deutlich höhere Markttransparenz als die traditionellen gedruckten Informations- und Verkaufsmedien der Reisebranche. Ein steigender Anteil der Urlauberinnen und Urlauber stellt sich die Reise aus Einzelleistungen für Anreise und Unterkunft zusammen, die sie im virtuellen Raum besichtigen und unmittelbar beim Leistungsanbieter buchen. Google Earth vermittelt Urlaubern zusätzlich die Möglichkeit, ihr Reiseziel schon vor der Buchung aus nächster Nähe in Augenschein zu nehmen - und damit ein wichtiges Element der Informationsasymmetrie zu überwinden. Welche Rückwirkungen dieser Medienwandel und dieses veränderte Entscheidungsverhalten für eine spätere Geschichtsschreibung des Tourismus haben werden, bleibt abzuwarten.
1 Siehe etwa Hartmut Berghoff u.a. (Hg.), The Making of Modern Tourism. The Cultural History of the British Experience, 1600-2000, Basingstoke 2002: Dort befasst sich nur einer von dreizehn Aufsätzen mit der Entstehung des Massentourismus. Mit Rüdiger Hachtmann, Tourismus-Geschichte, Göttingen 2007, liegt jetzt eine umfassende Überblicksdarstellung vor, welche das Zeitalter des Massentourismus angemessen berücksichtigt.
2 Christiane Keitz, Reisen als Leitbild. Die Entstehung des modernen Massentourismus in Deutschland, München 1997.
3 Hasso Spode, Ein Seebad für zwanzigtausend Volksgenossen, in: Peter J. Brenner (Hg.), Reisekultur in Deutschland, Tübingen 1997, S. 7-47. Nach der heute gültigen statistischen Definition werden nur Reisen von mindestens fünf Tagen Dauer zu den Urlaubsreisen gezählt.
4 Auch Überblicksdarstellungen wie diejenige von Barbara Zimmers, Geschichte und Entwicklung des Tourismus, Trier 1996, erliegen gelegentlich dieser Täuschung.
5 Shelley Baranowski, Strength through Joy. Tourism and National Integration in the Third Reich, in: dies./Ellen Furlough (Hg.), Being elsewhere. Tourism, Consumer Culture, and Identity in Mo-dern Europe and North America, Ann Arbor 2001, S. 213-236; Shelley Baranowski, Strength through Joy. Consumerism and Mass Tourism in the Third Reich, Cambridge 2004.
6 Wolfgang König, Geschichte der Konsumgesellschaft, Stuttgart 2000; Hans Mommsen/Manfred Grieger, Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im „Dritten Reich“, Düsseldorf 1996.
7 John A. Walton, The British Seaside, Manchester 2000, S. 58ff.
8 Andreas Mai, Die Erfindung und Einrichtung der Sommerfrische. Zur Konstituierung touristischer Räume in Deutschland im 19. Jahrhundert, phil. Diss. Leipzig 2003 (CD-ROM).
9 Susanne Wiborg/Klaus Wiborg/Christopher Kopper, Träume statt Grundstoffe. Von der Preussag zur TUI, in: Bernhard Stier/Johannes Laufer (Hg.), Von der Preussag zur TUI, Essen 2005, S. 567-605.
10 Die Informationskostenhypothese wurde zuerst vom Soziologen Erwin K. Scheuch auf den Tourismus angewandt: Erwin K. Scheuch, Ferien und Tourismus als neue Formen der Freizeit, in: ders./Rolf Meyersohn (Hg.), Soziologie der Freizeit, Köln 1972, S. 304-317.
11 Zur Transaktionskostentheorie siehe Douglass C. North, Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen 1992.
12 Jürgen Geißler, Meinungen über das organisierte Reisen, in: Studienkreis für Tourismus (Hg.), Motive - Meinungen - Verhaltensweisen. Einige Ergebnisse der soziologischen Tourismusforschung, Starnberg 1969, S. 110-115; Rolf Hochreiter/Ulrich Arndt, Die Tourismusindustrie. Eine Markt- und Wettbewerbsanalyse, Frankfurt a.M. 1978, S. 52ff.
13 Cord Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus, Hamburg 2003, S. 304f.
14 Hans-Joachim Knebel, Soziologische Strukturwandlungen im modernen Tourismus, Stuttgart 1960, S. 80ff.
15 Beispiel in: Der Urlaubs-Trust, in: Spiegel, 18.7.1956, S. 20-27, hier S. 26.
16 Siehe die klassische Studie von Siegfried Kracauer, Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland, Frankfurt a.M. 1930 (u.ö.).
17 Knebel, Soziologische Strukturwandlungen (Anm. 14), S. 76; Rainer Wohlmann, Entwicklung des Tourismus 1954-1991, in: Heinz Hahn/H. Jürgen Kagelmann (Hg.), Tourismuspsychologie und Tourismussoziologie, München 1993, S. 11-16, hier S. 12.
18 David Riesman, The Lonely Crowd, Garden City 1953.
19 Hans Magnus Enzensberger, Eine Theorie des Tourismus [1958], in: ders., Einzelheiten, Frankfurt a.M. 1962, S. 147-168.
20 Otto Lenz, Die soziale Wirklichkeit, Allensbach 1956. Diese Zahl basierte auf einer repräsentativen Meinungsumfrage unter 2.000 erwachsenen Bundesdeutschen.
21 Rainer Wohlmann, Soziale und kulturelle Bedingungen für die Reisegewohnheiten verschiedener Bevölkerungsgruppen, in: Studienkreis für Tourismus, Motive - Meinungen - Verhaltensweisen (Anm. 12), S. 20-37.
22 Gudrun Meyer, Das Image der Pauschal- und Einzelreise, in: Studienkreis für Tourismus (Hg.), Angebotsplanung und -gestaltung im Tourismus, Starnberg 1974, S. 1-10.
23 Die Atmosphäre der Butlin Holiday Camps erinnerte in vielerlei Hinsicht (Beschallung durch eine zentrale Lautsprecheranlage, gemeinsames Wecken per Lautsprecher) an Ferienlager in der DDR. Zu Butlin siehe Colin Ward/Dennis Hardy, Goodnight Campers! The History of the British Holiday Camp, London 1986.
24 DIVO-Institut, Urlaubsreisen der westdeutschen Bevölkerung. Reiseintensität, Reisegewohnheiten und Vorstellungen vom Urlaub im Zeitvergleich 1954 bis 1965, Frankfurt a.M.1967; Deutscher Reisebüro-Verband, So reisten die Deutschen 1967, Frankfurt a.M.1968.
25 Jahresbericht der Touropa für 1967, in: Archiv der TUI AG, Hannover.
26 Errechnet aus den Zahlen in der Touropa-Chronik für die Jahre 1948 bis 1967, in: Archiv der TUI AG, Hannover.
27 Wohlmann, Entwicklung des Tourismus (Anm. 17).
28 Wirtschaft und Statistik 46 (1965), S. 504.
29 Arne Andersen, Der Traum vom guten Leben, Frankfurt a.M. 1997, S. 196-203.
30 Vgl. ebd., S. 92f.
31 Vgl. Der Urlaubs-Trust (Anm. 15), S. 21 (Preise ab Abfahrtsort Hamburg).
32 Wohlmann, Entwicklung des Tourismus (Anm. 17), S. 12.
33 Pagenstecher, Der bundesdeutscher Tourismus (Anm. 13), S. 137.
34 Errechnet nach den Zahlen in Wohlmann, Entwicklung des Tourismus (Anm. 17), S. 11, und Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus (Anm. 13), S. 137.
35 C.K. Koch, Der Urlaubsreiseverkehr. Eine Untersuchung über das Konsumverhalten der Erholungsreisenden 1958, in: Jahrbuch für Fremdenverkehr 7 (1959), S. 5-14, hier S. 9.
36 Mary Thea Sinclair/Venancio Bote Gomez, Tourism, the Spanish Economy and the Balance of Payments, in: Michael Barke/John Towner/Michael Thomas Newton (Hg.), Tourism in Spain. Critical Issues, Wallingford 1996, S. 89-117.
37 Walter Vogel, Tourismus 1962 - Rückschau auf eine erfolgreiche Saison, in: Jahrbuch für Fremdenverkehr 10 (1962), S. 31-38. Vogel war Direktor der Touropa.
38 Fremdenverkehrswirtschaft, 14.11.1970.
39 Siehe Josef Neckermann, Erinnerungen, Berlin 1990, S. 293-303.
40 Albert Schmid, Der Einfluß des gesamtwirtschaftlichen Konjunkturverlaufs auf die Entwicklung des Urlaubsreiseverkehrs, in: Jahrbuch für Fremdenverkehr 28/29 (1980/81), S. 41-87.
41 Beatrice Schumacher, Ferien. Interpretationen und Popularisierung eines Bedürfnisses, Wien 2001; Otto Schneider, Die Ferien-Macher, Hamburg 2001, S. 176f.
42 Peter Odrich, Warum drängen laufend neue Außenseiter auf den Reisemarkt?, in: Studienkreis für Tourismus (Hg.), Marketing im Tourismus, Starnberg 1969, S. 8-19.
43 Hans-Werner Prahl/Albrecht Steinecke, Der Millionen-Urlaub, Neuwied 1970, S. 297ff.; Bruno Tietz, Handbuch der Tourismuswirtschaft, München 1980, S. 545.
44 Hochreiter/Arndt, Tourismusindustrie (Anm. 12), S. 127.
45 Das Geschäft mit dem Urlaub, in: Spiegel, 4.7.1966, S. 28-39.
46 Fremdenverkehrswirtschaft, 10.1.1971.
47 Hochreiter/Arndt, Tourismusindustrie (Anm. 12), S. 208.
48 Das Kaufhof-Angebot unter der Lupe, in: Fremdenverkehrswirtschaft, 17.10.1971.
49 John Urry, The Tourist Gaze, London 1990; Orvar Löfgren, On Holiday, Berkeley 1999.
50 Anna Monika Putschögl-Wild, Untersuchungen zur Sprache im Fremdenverkehr, Frankfurt a.M. 1978; Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus (Anm. 13), S. 371-420.
51 Deutscher Reisebüro-Verband (Hg.), So reisten die Deutschen 1967, Frankfurt a.M. 1968; Otmar L. Braun, Die Reiseentscheidung, Starnberg 1989; ders., Reiseentscheidung, in: Hahn/Kagelmann, Tourismuspsychologie (Anm. 17), S. 302-307.
52 Zur normativen und deskriptiven Funktion des Baedeker-Reiseführers in historischer Perspektive siehe etwa Rudy Koshar, German Travel Cultures, Oxford 2000.
53 Edgar Kreikamp, Strategische Planung im Tourismus, in: Günther Haedrich u.a. (Hg.), Tourismus-Management. Tourismus-Marketing und Fremdenverkehrsplanung, Berlin 1983, S. 251-281.
54 Wilhelm Pompl, Touristikmanagement 2, Berlin 1996, S. 122; Dieter Hebestreit, Touristik-Marketing, 3. Aufl. Berlin 1992, S. 66, S. 196.
55 Siehe z.B. Richtig zum Ausruhen, in: Spiegel, 19.7.1971, S. 46/49; Dieter Hebestreit, Touristik-Marketing, Berlin 1975, S. 23.
56 Vgl. etwa Dieter Führich, Reiserecht, Heidelberg 1990.
57 Regina Schlotmann, Das Recht der Pauschalreise, Neuwied 1993, S. 53, S. 80f., S. 145.
58 Vgl. etwa Jost Krippendorf, Die Landschaftsfresser, Bern 1975; Ueli Mäder, Fluchthelfer Tourismus? Wärme in der Ferne?, Zürich 1982.