
Startseite (Februar 2025, Screenshot/Ausschnitt
mit Standfoto aus einem kurzen Video)
Wer im Berliner Humboldt Forum nach der »Zukunft der Benin-Bronzen« sucht, stößt auf eine Galerie sprechender Köpfe. Der gleichnamige Saal im Ostflügel des Gebäudes präsentiert als sein zentrales Ausstellungsobjekt eine Reihe von zehn hochkant gestellten, in Augenhöhe angebrachten Monitoren, auf denen neben Hermann Parzinger als Repräsentant der Institution auch ein Vertreter des Königshauses von Benin sowie Kurator:innen und Wissenschaftler:innen aus Deutschland und Nigeria in wohlabgewogenen Statements ihre Sicht auf die Zukunft der umstrittenen Sammlungsobjekte schildern. Immer, wenn eine Person das Wort ergreift, wenden sich die anderen ihr aufmerksam zu.
Diese »Stimmen einer Debatte«, wie die raumgreifende Installation betitelt ist, sollen wohl als mediales Reenactment jenes Dialogs verstanden werden, der seit 2010 im Rahmen der Benin Dialogue Group über den Umgang mit Raubkunst aus dem heutigen Nigeria geführt wird.1 Ein Ergebnis dieses Dialogs lässt sich im selben Raum nachvollziehen: Auf dem Objektschild unter dem bronzenen Gedenkkopf einer Königinmutter aus Benin, der als einziges weiteres Ausstellungsobjekt die Reihe der Köpfe fortsetzt, findet sich ein kreisrunder, leuchtend orangefarbener Stempel, der die Skulptur als Eigentum Nigerias ausweist. Im August 2023 wurden 514 Objekte aus dem Besitz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz an den Staat Nigeria übereignet; rund ein Drittel davon verbleibt zunächst für zehn Jahre als Leihgabe im Humboldt Forum. Metonymisch steht die Königinmutter nun für die Hunderte von Objekten, die 1895 beim brutalen Überfall britischer Truppen auf Benin City geraubt und später in Dutzenden von europäischen und nordamerikanischen Museen verteilt wurden – als stumme Zeugin jener kolonialen Schuld, die im simulierten Dialog hinter ihrem Rücken nur diplomatisch verbrämt zur Sprache kommt. Doch was sie hier, einsam und isoliert hinter den Mauern eines ebenfalls simulierten Preußenschlosses, noch verloren hat, das verrät sie nicht.
Jenseits der mittlerweile nur von wenigen bestrittenen Notwendigkeit umfassender Restitutionen erscheint die Zukunft der Benin-Bronzen offener als je zuvor. Doch liegt sie wohl kaum in Museen wie dem Humboldt Forum.2 Denn wie die Installation unfreiwillig vorführt, können hier selbst die verbliebenen Objekte kaum mehr anders denn als Störfaktoren wahrgenommen werden, die die Autorität und Legitimität der Institution untergraben. Zugleich reduziert sich ihre Funktion meist darauf, Zeugnisse kolonialen Sammelns zu sein. Die Objekte, schreibt die Juristin Sophie Schönberger, partizipieren damit »an der institutionellen Symbolfunktion des Museums«, statt »eine eigenständige, individuelle Symbolfunktion zu entwickeln«.3 Modelle des künftigen Umgangs mit kolonialen Sammlungsbeständen finden sich daher vielleicht eher jenseits der Mauern eines Museums, nicht zuletzt im digitalen Raum.
Eines der ambitioniertesten Projekte in dieser Hinsicht ist die Online-Plattform »Digital Benin«, die im Dezember 2022 vorgestellt wurde.4 Auf den ersten Blick ist das durch die Ernst von Siemens Stiftung geförderte und am Hamburger MARKK (Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt) angesiedelte Projekt vor allem ein Beispiel der digitalen Kulturguterschließung. Ein vierzehnköpfiges internationales Team, ergänzt durch fünf wissenschaftliche Berater:innen in Nigeria, Kenia und den Vereinigten Staaten, arbeitete daran zwei Jahre lang. In Form eines Online-Katalogs sind nun Informationen über mehr als 5.000 aus Benin geraubte Objekte in einer sammlungsübergreifenden Datenbank verfügbar. Der Wunsch nach solchen Überblicken zum Ausmaß kolonialer Sammlungsbestände in den Museen des Globalen Nordens ist Jahrzehnte alt und geht, wie Bénédicte Savoy nachgezeichnet hat, bis in die Anfänge elektronischer Datenverarbeitung zurück. Doch während in der Schweiz Ende der 1970er-Jahre tatsächlich erste Übersichtsinventare ethnologischer Museen entstanden,5 wurden ähnliche Pläne der computergestützten Inventarisierung in der Bundesrepublik Deutschland gezielt ausgebremst, um keine »Begehrlichkeiten« zu wecken. Ein »Generalinventar aller außerhalb Afrikas aufbewahrten afrikanischen Kulturgüter«, wie es bereits 1981 am Bremer Übersee-Museum begonnen wurde, existiert bis heute nicht.6 Dass mit »Digital Benin« nun schwer oder gar nicht zugängliche Informationen über Objekte aus mehr als 100 Institutionen und 20 Ländern erstmals zusammengeführt werden konnten, wäre ohne die Restitutionsdebatten der letzten Jahre wohl undenkbar gewesen.
Neuland betritt das Projekt aber nicht allein durch seinen Umfang. Es führt auch exemplarisch vor, wie digitale Inventarisierungs- und Erschließungsprojekte den Blick auf museale Sammlungen verändern können. Gerade weil es sich von den institutionellen Beschränkungen des Museums löst, schafft »Digital Benin« nämlich, was im simulierten Dialog misslingt: die Objekte, wenngleich nur als virtuelle, in ein vielstimmiges Geflecht von Bezügen einzuweben.
So bietet »Digital Benin« mehr als nur ein »Generalinventar«. Verteilt über acht intuitiv bedienbare und elegant gestaltete Teilbereiche der Website, sogenannte Spaces, gibt es eine Reihe ganz verschiedener Zugänge zu den Objekten, ihren Geschichten und Kontexten. Der Space »Ẹyo Otọ« beispielsweise ermöglicht den Zugang über die Edo-Bezeichnungen, die man sich, da Edo vor allem eine mündlich überlieferte Sprache ist, auch vorlesen lassen kann, und vermittelt Wissen über die Verwendungsweisen der unterschiedlichen Artefakte. Im Space »Oral History« findet man eine Fülle von Video- und Audio-Interviews, in denen ganz unterschiedliche Menschen aus Benin, darunter Nachfahren der Königsfamilie ebenso wie Bronzegießer und Töpferinnen, Kuratoren und Musikerinnen, Geschichten teilen: über die historischen Kontexte wie über heutige Praktiken, über einzelne Artefakte, handwerkliche Verfahren und kulturelle Überlieferungen.
Der Space »Map« wiederum kartiert die Orte des historischen Benins, aus denen die Objekte stammen, vom Königspalast bis zu den Sitzen der Handwerkergilden. Sie legen sich als Netz räumlicher Beziehungen über aktuelle Satellitenbilder und machen so auch sichtbar, wo sich einzelne Orte, etwa Stadttore und Gildensitze, bis heute erhalten haben. Diese kleinteiligen lokalen Zusammenhänge stehen in größtmöglichem Kontrast zur gegenwärtigen Verstreutheit der Objekte über die Museen vorwiegend des Globalen Nordens, die sich in der Kartenansicht ebenfalls eindrucksvoll darstellt: Der Überblick, der so entsteht, isoliert die Artefakte gerade nicht von ihrer Geschichte und ihren lokalen Beziehungen, sondern bettet sie auf vielfältige Weise wieder in diese ein.
Ebenso global verstreut wie die Artefakte selbst sind die vielfältigen Archivdokumente, die Aufschluss über ihre Provenienz geben. In einem eigenen Space »Archive« versammelt »Digital Benin« daher Auktionskataloge, Inventare und Katalogkarten, Fotografien und Fotoalben, Briefe, Zeitungsausschnitte und andere Archivalien, die sich nicht allein durch Metadaten- und Volltextsuche erschließen lassen, sondern auch mittels eigens entwickelter visueller Interfaces. Ein »Network Explorer« macht die vielfältigen Beziehungsnetze zwischen Akteur:innen, Institutionen und Firmen sichtbar. Mit einem weiteren »Digital Research Tool« lassen sich die »Paper Trails« nachverfolgen – die schriftlichen Spuren, die spezifische Objekte wie Objektkategorien in den Archivdokumenten hinterlassen haben. Kein Sammlungsobjekt, so führt »Digital Benin« eindrücklich vor, existiert in Isolation – stets ist es eingebettet in eine Fülle historischer Bezüge, von denen sich manche in den musealen Datenbeständen erhalten haben, viele aber auch unsichtbar gemacht wurden.
Mit der digitalen Erschließung von Sammlungs- und Archivbeständen wird auch kenntlich, in welchem Umfang Museen immer schon Orte der massenhaften Datenproduktion waren. Denn das museale Sammeln unterscheidet sich, zumindest in der Theorie, von der bloßen Anhäufung bestimmter Dinge ja nicht zuletzt dadurch, dass idealerweise alles, was Eingang in eine Sammlung findet, mit Inventarbüchern, auf Karteikarten und Datenbankeinträgen dokumentiert wird – wenngleich in der Praxis häufig nur unvollständig. Zumindest dem Anspruch nach machen also erst Erfassung und Erschließung aus dem Artefakt ein Museumsobjekt, und so sind musealisierte Artefakte mehr als nur physische Objekte: Sie existieren immer schon auch als Datensätze. Die digitale Erschließung musealer Sammlungsbestände wurde daher häufig als bloße Erweiterung bestehender institutioneller Logiken verstanden – das Museum als Datenstruktur wird gleichsam im Virtuellen bloß »gedoppelt«, ohne dass dies sein Selbstverständnis grundlegend tangieren müsste.7
»Digital Benin« führt anschaulich vor, wie rasch eine solche Sichtweise an ihre Grenzen stößt. Denn die musealen Datensätze, die das Projekt zusammenführt, sind keineswegs neutral, universell und einfach gegeben. Vielmehr sind sie Produkte je spezifischer lokaler Entscheidungen und Umstände. Koloniale Wissensbestände schreiben sich dabei ebenso ein wie institutionelle Prioritäten, Zwänge und ungleich verteilte Ressourcen. Nicht zuletzt, so musste das Projektteam um Anne Luther rasch feststellen, lagen sie in unterschiedlichen Formaten vor. Statt jedoch »eine autoritäre oder reduzierende Bereinigung der Daten vorzunehmen« und so die historisch gewachsene »Vielfalt der Daten« unsichtbar zu machen, entschied man sich für ein »Metadaten-Mapping«: Die ursprünglichen Datensätze bleiben weitgehend erhalten, auch jeweils in ihren originalen Sprachfassungen, sodass sie zusätzlich nach institutionsspezifischen Begriffen durchsucht werden können. Doch darüber legt sich eine einheitliche Metadatenstruktur, die die Informationen sammlungsübergreifend selbst dort erschließbar macht, wo etwa Namen unterschiedlich geschrieben werden und Kategorien nicht aufeinander abbildbar sind.8
Bereits die schiere Menge an Objektdaten, die »Digital Benin« virtuell zusammenführt und online zugänglich macht, lässt deutlich werden, dass das, was landläufig unter dem verkürzten Begriff »Benin-Bronzen« firmiert, eine überaus heterogene Versammlung ist, die neben den berühmten Bronzeköpfen, Relieftafeln und Elfenbeinmasken auch Hunderte von Musikinstrumenten, Löffeln und Kämmen, Dosen, Behältern und anderen Haushaltsgegenständen umfasst. Virtuelle Versammlungen in Gestalt digitaler Datenbanken sind zwar nicht frei von Hierarchisierungen, aber sie sind zumindest nicht den räumlichen Zwängen und der Notwendigkeit kuratorischer Prioritätensetzung unterworfen, die jede museale Präsentation hochgradig selektiv machen. Sobald jenseits vermeintlicher »Highlights« der Sammlung jedoch die ganze Bandbreite unterschiedlicher Objekte in den Blick rückt, die in den Museumsdepots lagern, wird das Ausmaß der Plünderungen sichtbar, wie auch die relative Wahllosigkeit kolonialen Sammelns, das meist auf schiere Masse statt auf exemplarische Auswahl setzte.
Selbst die scheinbar so neutrale Kategorie »Objekt« beginnt fragwürdig zu werden, war doch keines dieser Artefakte ursprünglich dazu gedacht, auf Podesten und in Vitrinen Gegenstand des ästhetisierenden Blicks eines westlichen Museumspublikums zu werden.9 Zu isolierbaren Objekten wurde, was vorher Teil einer lebendigen materiellen Kultur war – eingebunden in soziale Praxen, architektonische Kontexte und kulturelle Netze der Bedeutung –, erst durch Plünderung, Verkauf und Musealisierung. Nach ethnographischen und musealen Standards beschrieben, klassifiziert und inventarisiert, in Depots bewahrt oder in Museumssälen präsentiert, war ein Kamm kein Gebrauchsgegenstand und ein Bronzerelief kein Medium einer lebendigen Wissens- und Erinnerungspraxis mehr; vielmehr wurden beide zu symbolischen Repräsentanten einer »Kultur«, die im Falle des Königreichs Benin im Moment ihrer Musealisierung zugleich weitgehend ausgelöscht worden war. Ein Projekt wie »Digital Benin« kann die Gewalt, die in den scheinbar neutralen Operationen musealer Erfassung kaum verborgen steckt, keinesfalls ungeschehen machen – doch es kann sie nicht bloß sichtbar machen, sondern auch ein Modell liefern, um über Alternativen zu den eingespielten Logiken der Musealisierung nachzudenken.
Museale Datenproduktion hat stets zwei Dimensionen, eine logistische wie eine epistemische; sie dient der konkreten Wiederauffindbarkeit von Objekten wie deren symbolischer Situierung in Wissenssystemen. Das Metadaten-Mapping von »Digital Benin« hatte es daher mit einer doppelten Herausforderung zu tun: die Auffindbarkeit zu verbessern, also neue Verbindungen des vorher Getrennten zu schaffen, und gleichzeitig eine Kritik an überkommenen Wissenssystemen zu ermöglichen. Das erforderte nicht allein einen sensiblen Umgang mit rassistischen und diskriminierenden Begrifflichkeiten, die in den Datenbeständen häufig noch vorkamen – und jetzt fallweise entweder redaktionell kontextualisiert oder entfernt wurden –, sondern vor allem auch die Ergänzung und Erweiterung der Datenbestände.
Während in musealen Datenbanken die Sammlungsobjekte nach Kategorien klassifiziert wurden, die meist wenig mit ihren ursprünglichen Nutzungen und Kontexten zu tun hatten, hat sich »Digital Benin« zum Ziel gesetzt, die ursprünglichen Edo-Designationen zu rekonstruieren – also jene Begrifflichkeiten, mit denen die Artefakte in der Sprache des Königreichs Benin benannt worden waren. Dies geschah auf der Basis umfangreicher Archivrecherchen in Nigeria sowie von Interviews mit nigerianischen Expert:innen, Kurator:innen, Historiker:innen und Linguist:innen. Auch lokale Handwerker:innen und Künstler:innen trugen ihr Wissen um Herstellungsprozesse und Verwendungsweisen der Artefakte bei – und inzwischen, so berichtet Eiloghosa Obobaifo, eine in Benin City ansässige Anthropologin und Mitglied des Forschungsteams, ist die Website zur wichtigen Ressource für sie geworden, um Anregungen für ihre eigene Arbeit zu bekommen.10
Museale Datenproduktion kann ebenso Wissen schaffen wie Wissen vernichten. Indem die Website eine bewusst nicht-eurozentrische Perspektive einnimmt, eine Vielfalt von Stimmen zu Wort kommen lässt und verlorenes Wissen wieder zum Vorschein bringt, das in den standardisierten Protokollen der Erfassung und Konservierung westlicher Museen unsichtbar gemacht wurde, stellt »Digital Benin« nicht zuletzt den exklusiven Wissensanspruch westlicher Museen infrage. Deren logistisches Wissen war immer auch exklusives Herrschaftswissen, insofern es den Zugriff auf Bestände und den Nachvollzug von Provenienzen erlaubte. Nicht wenige mögliche Restitutionsforderungen wurden allein schon dadurch unmöglich gemacht, dass diejenigen, die sie hätten stellen können, über den Verbleib der Objekte im Unklaren gelassen wurden. Auch dies ist ein Grund, warum viele Museen sich so lange geweigert haben, Sammlungsdaten zu veröffentlichen. Mit deren Zusammenführung wird nun neues Wissen erzeugt, etwa zur Frage, über welche Akteure und Kanäle die Artefakte in die europäischen Sammlungen gelangt sind. Zwar konnte das Team keine eigenen Provenienzrecherchen unternehmen, doch sofern sie Spuren in den Verzeichnissen hinterlassen haben, wird nun die Rolle einzelner Offiziere, Kunsthändler und Auktionshäuser sichtbar. Zu den häufigsten Provenienzangaben gehört allerdings »no provenance identified« – »Digital Benin« macht damit auch sichtbar, wie lückenhaft die Aufarbeitung der Provenienz sich bislang darstellt.
Dessen ungeachtet wollte die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« gerade in den lokal unterschiedlichen Standards der Inventarisierung, die »Digital Benin« vor Augen führt, Beweise für eine mangelnde »Wertschätzung« der Objekte etwa seitens des Nationalmuseums in Lagos erkennen. Von der spätkolonialen Attitüde abgesehen, die die ethnologischen Museen des Globalen Nordens zu »Hütern der Menschheitsgeschichte« erklärt und den Kolleg:innen im Globalen Süden Nachhilfe im effizienten Sammlungsmanagement erteilen will, verschleiert eine solche Polemik auch, dass die Erfassung der kolonialen Bestände in vielen europäischen Sammlungen nach wie vor unzureichend ist.11 Wie etwa die jüngsten Skandale um das British Museum deutlich gemacht haben, wissen die vermeintlichen Hüter entgegen ihren eigenen Ansprüchen oft selbst nicht, was sie eigentlich alles besitzen, wo es herkommt und in welchem Zustand es sich befindet.12
Die Restitution kolonialen Erbes verläuft selten konfliktfrei. Angesichts widersprüchlicher politischer Interessen, komplexer Rechtslagen, unterschiedlicher Konzepte individuellen und kollektiven Eigentums sowie jahrzehntelang eingeübter institutioneller Abwehrmechanismen wäre alles andere auch überraschend. Jegliche Schwierigkeiten des Restitutionsprozesses aber vorschnell (und häufig mit kaum verhohlener Genugtuung) als dessen vermeintliches Scheitern zu werten, verhindert, wie Gesine Krüger argumentiert hat, eine Debatte über »die Veränderung des Museums in einer globalisierten Welt«. Dessen Aufgabe, so Krüger, kann nicht das eifersüchtige Hüten der eigenen Schätze sein, sondern muss vielmehr in einer gemeinsamen Forschung liegen, die bereit ist, auch von den sogenannten Herkunftsgesellschaften zu lernen.13 Wo indes die kolonial geprägten Standards der Datenerfassung westlicher Museen zum Maßstab der Wertschätzung gemacht werden, muss jeder Ansatz der Kooperation scheitern.
4. Virtualisierung und Resituierung
Wir leben, so hat es die Künstlerin Nora Al-Badri formuliert, in einer zugleich postdigitalen wie postkolonialen Welt, und beides lässt sich kaum voneinander trennen.14 Doch in der Welt der Museen scheinen diese zentralen Debatten der letzten Jahrzehnte, um Dekolonialisierung einerseits und Digitalisierung andererseits, seltsam unverbunden. Gerade weil beide geeignet sind, das Grundverständnis des westlichen Museums zu erschüttern, werden sie häufig getrennt voneinander geführt. Und so erzeugen sie zwei völlig gegensätzliche Blicke auf museale Sammlungen: Während, wie nicht bloß das Humboldt Forum zeigt, die physischen Sammlungen besonders im Licht der Debatten um Raubkunst und Restitution zunehmend als Belastung erscheinen, blickt man auf die digitalen Sammlungsbestände, die in den vergangenen rund drei Jahrzehnten im Zuge großangelegter Initiativen der Massendigitalisierung entstanden sind, als unproblematische, allerdings weithin ungenutzte und unerschlossene Ressourcen. Nicht zuletzt der aktuelle Hype um »Künstliche Intelligenz«, der längst schon die Museen erreicht hat, befeuert Ideen, museale Datenbestände mittels algorithmischer Mustererkennung auszuwerten und als Trainingsdaten für maschinelles Lernen zu verwenden.
Doch ein solch extraktivistischer Blick auf digitale Kulturdaten als massenhaft verfügbare und beliebig verwertbare Ressourcen verkennt, was vielleicht die wichtigste Lektion aus einem Projekt wie »Digital Benin« ist: Daten sind stets das Produkt historisch kontingenter Entscheidungen und lokaler Standards; in ihnen manifestieren sich institutionelle Interessen, ungleiche Machtverteilungen und ideologische Dispositionen. Daten sind, anders gesagt, nie unpolitisch.15 Statt museale Datenbestände als vermeintlich neutrale Ressourcen zu erschließen, macht »Digital Benin« sie als vielfach miteinander verflochtene, historisch gewachsene, ergänzungsbedürftige und revidierbare Wissensbestände kenntlich. Ein solcher vielstimmiger, situierter Umgang mit digitalen Kulturdaten erscheint umso notwendiger, als diese zunehmend auch ins Visier großer Tech-Unternehmen geraten – als Quelle von Mustern, die mittels generativer KI in die Produktion neuer, synthetischer Bilder und Medien eingespeist werden können. Deshalb braucht es erst recht andere Formen der virtuellen Resituierung. Virtualisierung, in diesem Sinne, wäre mehr als nur Digitalisierung – nämlich kein primär technischer Vorgang des Erfassens und Speicherns, sondern eine Form des Übertragens und Übersetzens, die neue Möglichkeiten eröffnet. »Digital Benin« kann dafür ein Modell liefern, zeigt es doch, wie ein Umgang mit musealen Daten, der diese nicht bloß als verfügbare Ressourcen begreift, sondern als Ausgangsbasis für kollaborative Forschung, Kontextualisierung und Revision, einer Vielfalt von individuellen und kollektiven Geschichten Raum zu geben vermag, die bislang ungesehen und ungehört geblieben sind.
Anmerkungen:
1 Die internationale Benin Dialogue Group ist nicht die einzige derartige Initiative. In der Schweiz etwa haben sich acht Museen unter Führung des Zürcher Museums Rietberg zur Benin Initiative Schweiz zusammengeschlossen, um gemeinsam die Herkunft von Objekten zu erforschen und den Dialog mit Nigeria voranzutreiben. Vgl. dazu Esther Tisa Francini u.a. (Hg.), In Bewegung. Kulturerbe aus Benin in Schweizer Museen, Zürich 2024.
2 Als vergleichenden Überblick zu vier Ausstellungen in Hamburg, Köln, Berlin und Zürich siehe Sasha Rossman/Jakob Weber, Bye-Bye Benin Bronzes? On Provenance as Process and Restitution as Display in German Museums 2021 – Present, in: 21: Inquiries into Art, History, and the Visual – Beiträge zur Kunstgeschichte und visuellen Kultur 5 (2024), S. 1005-1026.
3 Sophie Schönberger, Was soll zurück? Die Restitution von Kulturgütern im Zeitalter der Nostalgie, München 2021, S. 78; vgl. auch ebd., S. 109.
4 Die folgenden Ausführungen gehen in Teilen auf einen früheren Text des Verfassers zurück: Roland Meyer, Diesseits des Mausoleums. Über Digital Benin und die Zukunft virtueller Sammlungen, in: cargo. Film Medien Kultur 57 (2023), S. 48-52.
5 Schweizerische Ethnologische Gesellschaft (Hg.), Völkerkundliche Sammlungen in der Schweiz. Übersichtsinventare der Museen in Basel, Bern, Genève, Neuchâtel, Zürich, Bern 1979; vgl. dazu Bénédicte Savoy, Afrikas Kampf um seine Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage, München 2021, S. 149.
6 Vgl. ebd., S. 102, S. 149f.
7 Vgl. exemplarisch: Bernhard Maaz, Das gedoppelte Museum. Erfolge, Bedürfnisse und Herausforderungen der digitalen Museumserweiterung für Museen, ihre Träger und Partner, Köln 2020.
8 Anne Luther, Digital Benin. Zusammenführung der königlichen Kunstschätze, in: Barbara Plankensteiner (Hg.), Benin. Geraubte Geschichte, Berlin 2023, S. 239-245, hier S. 244.
9 Vgl. Andrea Meyer/Bénédicte Savoy (Koord.), Atlas der Abwesenheit. Kameruns Kulturerbe in Deutschland, Berlin 2023, S. 10.
10 Vgl. Gouri Sharma, The online art catalogue that chronicles a stolen African heritage, in: MIT Technology Review, 4.1.2024.
11 Brigitta Hauser-Schäublin, Wie ein Welterbe verlorengeht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.2.2023, S. 9.
12 Siehe etwa Dan Hicks, ›The last remaining argument against restitution has now been lost‹, in: Art Newspaper, 29.8.2023. Vgl. auch ders., The Brutish Museums. The Benin Bronzes, Colonial Violence and Cultural Restitution, London 2020.
13 Gesine Krüger, Wem gehört Afrikas Kulturerbe? Die Rückgabe der Benin-Bronzen und die Zukunft des Museums, in: Geschichte der Gegenwart, 17.5.2023.
14 Nora Al-Badri, Das postfaktische Museum, in: Open Secret KW, 16.8.2021. So wenig der Begriff des »Postkolonialen« eine endgültige Überwindung kolonialer Machtverhältnisse impliziert, so wenig ist mit »postdigital« ein Zustand nach dem Digitalen gemeint – der Begriff hat sich vielmehr durchgesetzt, um die Ubiquität und Alltäglichkeit digitaler Medientechnologien zu charakterisieren.
15 Siehe dazu demnächst Anna Echterhölter, Daten und Datenkolonialismus zur Einführung, Hamburg 2025.