London Calling

Adressbücher des britischen Exils im Zweiten Weltkrieg

Anmerkungen

Menschen schreiben, Menschen notieren. Papierne (heute auch digitale) Gedächtnisstützen halten fest, was sich im Kopf der oder des Schreibenden abspielt, um es für kurze oder längere Zeit zu sichern und zu übertragen. Termine, Kontakte und Adressen werden besonders oft verschriftlicht, da es sich um Informationen handelt, die präzise wiedergegeben werden müssen. Jeder einzelne Datensatz (eine Adresse, Telefonnummer, Ort und Zeit eines Treffens, Kontakte zu einer bestimmten Person) ist in sich eher trocken und schwer zu merken, die Verschriftlichung verwaltet also und assistiert unserer Erinnerung. An der Schnittstelle zwischen Alltagslogistik, Sozialleben und Erinnerung sind Adressbücher Hilfsmittel und Kulturtechnik zugleich.1 Das Adressbuch als Gegenstand dient im Sinne Bruno Latours der Delegation, da sein*e Benutzer*in Informationen auslagern kann.2 Dadurch werden Adressbücher fester Bestandteil von Netzwerken, welche ohne diese Niederschrift nicht aufrechtzuerhalten wären.3 Das lässt sich am Beispiel europäischer Netzwerke in London während des Zweiten Weltkrieges darlegen: anhand eines edierten »Who’s Who« und des persönlichen Adressbuches des Juristen René Cassin.

Für Exilanten sind Adressbücher besonders wichtig. Sie markieren ein Stück mobile Heimat und den Prozess der Integration zugleich – wie sich nicht zuletzt an Hannah Arendt, Walter Benjamin und Heinrich Mann aufzeigen lässt.4 Das Adressbuch der Exilanten dient zum einen dazu, alte Bekannte in der neuen Heimat zu verorten, zum anderen hilft es dabei, weitere Kontakte und Netzwerke aufzubauen. Dies trifft auch und insbesondere für die europäischen Exilanten zu, die sich während des Zweiten Weltkrieges in London aufhielten. Auf der Flucht vor der Eroberung des Kontinents durch die deutsche Armee waren viele Mitglieder der politischen und intellektuellen Eliten Europas nach London gekommen, in eine fremde Stadt, die sie nur wenig kannten. Sie lebten in einem Land, dessen Sprache (noch) nicht alle beherrschten. Sie hatten ihre alte Existenz mitsamt Familie und Arbeitsstelle hinter sich gelassen, um ihr Leben in Sicherheit zu bringen. Mit der Flucht hatten sie nicht nur Besitztümer, sondern auch ihre bisherigen Netzwerke und ihren sozialen Status weitestgehend aufgeben müssen.

In London beteiligten sich viele Europäer am Aufbau politischer Vertretungen des jeweils eigenen Staates. Nach und nach bildeten sich Nationalkomitees, und schließlich, nach erfolgreicher Lobby-Arbeit, wurden die meisten dieser Komitees als Exilregierungen anerkannt.5 Unter den Mitgliedern und Mitarbeitern der Exilregierungen und Nationalkomitees waren zahlreiche Juristen, welche sich rasch über nationale Zugehörigkeiten hinweg zusammenfanden. Das Recht bot ihnen einen gemeinsamen Anknüpfungspunkt, eine gemeinsame Sprache.

Der Aufbau und die Pflege von Kontakten standen im Mittelpunkt ihrer Arbeit: Sie benötigten Verbindungen zu Landsleuten, um ihre nationalen Vertretungen zu stärken, den Draht zum Heimatland aufrechtzuerhalten und eine möglichst effektive Repräsentation zu gewährleisten. Sie benötigten Kontakte zur britischen Regierung und den britischen Ministerien, um ihren eigenen Status abzusichern, um Privilegien für sich, ihre nationalen Vertretungen und ihr Handeln erlangen zu können. Nicht zuletzt benötigten sie Kontakte zu den anderen Europäern in London und in ganz Großbritannien, um sich mit Gleichgesinnten auszutauschen, Rat einzuholen, Bündnisse zu schmieden und eine gemeinsame europäische Zukunft zu planen. Kontakte waren lebenswichtig für die europäischen Exiljuristen. Es galt, Wissen über Menschen zu sammeln, die man bis dato größtenteils nicht gekannt hatte, deren Sprache man nicht teilte, deren Ausbildungssystem anders funktionierte und über deren Status, Arbeit und Kompetenzen man nur bedingt Wissen erlangen konnte. Ebenso galt es, sich selbst bekannt zu machen und Informationen über die eigene Ausbildung, Qualifikationen und Kontaktadressen in Umlauf zu bringen. Den europäischen Juristen war stets präsent, dass sie sich in London in einer Art Niemandsland befanden: Ohne Kontrolle über Land, Volk oder Armee beruhte der Anspruch, Exilregierungen zu stellen, einzig auf wechselseitiger völkerrechtlicher Anerkennung.6 Vernetzung war daher ein wichtiges soziales Kapital im Leben der Exiljuristen, für den Alltag, aber noch mehr im Streben nach politischen Zielen: nach Anerkennung, nach Legitimation als Regierung. Mit Blick auf die juristischen Netzwerke in London wurden somit auch Adressbücher, eigentlich Alltagsgegenstände, zu »Dingen des Rechts«.7

Um unter den besonderen Herausforderungen in London – neue Umgebung, neue Kontakte, neue Bedürfnisse, wechselnde Adressen – ein funktionierendes Netzwerk aufbauen zu können, war die Verschriftlichung von Informationen und das Abrufen solcher Informationen für die Juristen wichtiger als je zuvor. Dabei waren Daten mitunter schnelllebig. Trotz aller zunehmenden Konsolidierung der eigenen Existenz im Exil blieben die Akteure Flüchtlinge: Manche zogen weiter, wechselten Wohnorte oder sogar das Land, denn mit den deutschen Luftangriffen, dem Blitz, kam der Krieg ab 1940 auch nach London. In diesem Umfeld bedurfte es der Verschriftlichung und Aufbereitung der Kontaktinformationen, sowohl privat als auch institutionell, um Netzwerke bilden und erhalten zu können, die wiederum die Grundlage für transnationale juristische Zusammenarbeit waren. Diese Lücke füllte ein schmales Handbuch: »The Who’s Who of the Allied Governments in Great Britain« erschien erstmalig 1941 in London.8

Joel Cang (Hg.), The Who’s Who of the Allied Governments and Allied Trade & Industry. Fourth Year, London:
Allied Publications Company 1944

Herausgegeben vom Journalisten Joel Cang und verlegt von »Allied Publications«, bewarb der Untertitel den Nutzen des Werkes: »A Handy Reference Book with Information about the Allied Governments, their Forces and Institutions«. Die erste Ausgabe umfasste 80 Seiten und enthielt Informationen der 1940 in London eingetroffenen Regierungen: Polen, Tschechoslowakei, Norwegen, die Niederlande, Belgien und das Freie Frankreich. Ziel sei es, die britische Öffentlichkeit über die alliierten Regierungen in Großbritannien zu informieren, aber zugleich auch ein Nachschlagewerk für die Exilanten untereinander zu schaffen (S. 4). Das Heft wurde jährlich neu aufgelegt. Die Ausgabe von 1942 umfasste bereits 184 Seiten und präsentierte neben den 1941 berücksichtigten Ländern zusätzlich China, Äthiopien, Griechenland, Luxemburg, die UdSSR, Jugoslawien, die Dominions, die USA, Zentralamerika und die »Free Movements« (in Österreich, Dänemark, Ungarn, Rumänien). Neben den Adressen und biographischen Informationen wurden in diesem Jahr zentrale Abkommen zwischen den Alliierten abgedruckt.9 Die dritte und vierte Auflage (1943 und 1944) blieben etwa im gleichen Umfang (188 S., jedoch ohne die Texte der Abkommen) und boten überwiegend eine Aktualisierung der bisherigen Ländervertretungen; neu aufgenommen wurde nur der Irak. 1945 gab es keine Neuauflage. Erst nach Kriegsende wurde die Idee wieder aufgegriffen – mit der Veröffentlichung des »United Nations Who’s Who in Government and Industry«, 1948 herausgegeben von Joel Cang and Ruth Howe, ohne jedoch an den Erfolg der Kriegsausgaben über die Exilregierungen anknüpfen zu können.

Die Erscheinungsform änderte sich über die Jahre nicht: DIN A 5, Papier in kriegsbedingt schlechter Qualität (besonders bei der Ausgabe von 1943), dazu ein orange-rosafarbiger Einschlag, nur locker gebunden und ebenfalls in eher minderer Papp­qualität. Fette Lettern für den Titel, der Text sehr klein gesetzt im Innenteil, um möglichst viele Informationen pro Seite zu versammeln. Die Größe war für Hosen- oder Westentaschen vielleicht überdimensioniert, aber ein Taschenbuchformat – klein, leicht und handlich genug, um in einer Aktentasche überallhin mitgenommen zu werden. Das »Handy Reference Book« (wie auf der Titelseite vermerkt) war für den Alltagsgebrauch entworfen.

Joel Cang, der Herausgeber, hatte sowohl persönlichen Bezug als auch einschlägiges berufliches Wissen. Der 1899 in Polen geborene Journalist hatte in der Zwischenkriegszeit lange als Auslandskorrespondent für den »Manchester Guardian« und den »Jewish Chronicle« gearbeitet, bevor er im Krieg selbst als Exilant nach London kam.10 Neben diesem Nachschlagewerk und seinen journalistischen Tätigkeiten war er der Herausgeber des »Polish Jewish Observer«, einer Beilage des »City and East London Observer«. Nach dem Krieg blieb Cang in Großbritannien als Journalist für die »Times«, den »Manchester Guardian« und den »Jewish Chronicle« tätig;11 1947 erhielt er schließlich die britische Staatsbürgerschaft.12 Er machte sich einen Namen als Autor zur jüdischen und polnischen Geschichte,13 bevor er 1974 in Großbritannien verstarb.14

Verlegt wurden die Bände von Allied Publications Company, 11, New Road, London, vertrieben von Continental Publishers and Distributors Ltd., einem 1938 gegründeten Verlagshaus, welches bis 1985 weiter bestand. Ein Preis ist auf den Exemplaren leider nicht vermerkt. Bereits die erste Ausgabe enthielt Werbung, die zur Finanzierung des Drucks beitrug. Obwohl sich das Bändchen laut Vorwort auch an die britische Bevölkerung richtete, lässt sich bei den Anzeigen deutlich ablesen, dass als Hauptzielgruppe vor allem die europäischen Exilanten in Großbritannien ausgemacht worden waren: Ein Großteil der Anzeigen bewarb Produkte und Dienstleistungen, die man in einem direktem Zusammenhang zu den Bedürfnissen der Exilanten sehen darf. Regelmäßig inserierten hier deren Zeitschriften und Zeitungen ihre Publikationen, unter Verweis auf Abonnementpreise für das Vereinigte Königreich und die USA. Dazu gehörten die alliierten Publikationen in Landessprache wie auch die englischsprachigen Informationen, die sich neben den eigenen Exilgemeinden auch an die jeweils anderen alliierten Bürger und natürlich potentiell an die britische Öffentlichkeit richteten. Neben den alliierten Publikationen umfassten die Anzeigen aber auch die Zeitschriften der »Free Movements«, also der oppositionellen Exilanten aus den nicht-alliierten oder gegnerischen Staaten (v.a. Dänemark, Österreich, aber auch Deutschland). Neben diesen offiziellen, teils sogar von den Informationsministerien der einzelnen Länder herausgegebenen Publikationen bewarben andere britische und ausländische private Verlage und Editionshäuser ebenfalls ihre Veröffentlichungen, die sich mit den Anliegen der Exilanten und der Exilregierungen auseinandersetzten. Ganz allgemein war Werbung für das gedruckte Wort zentral: Bücher, Buchhandlungen, Buchverleih, Buchsatz und -druck, Verlagswesen und Übersetzungsangebote dominierten die Anzeigen. Doch auch der Kriegs- und vor allem der Flüchtlingsalltag zeichneten sich darin ab.15

Doppelseite aus dem Eintrag zu Norwegen in: Joel Cang (Hg.), The Who’s Who of the Allied Governments in Great Britain, London 1941, S. 42f.
Verlagswerbung mit alliierten Weihnachtsgrüßen in: Joel Cang (Hg.), The Who’s Who of the Allied Governments and Allied Trade & Industry, London 1944, S. 14
Liste der Inserenten in: Joel Cang (Hg.), The Who’s Who of the Allied Governments and Allied Trade & Industry, London 1944, S. 181
 
Seit 1943 mehrten sich die Anzeigen für sonstige Produkte und Dienstleistungen, was vielleicht von einer breiteren britischen Leserschaft zeugt, aber auch davon, dass die Exilanten zunehmend als kaufkräftige Konsumenten wahrgenommen wurden (gerade mit Blick auf die Zukunft). 1944 bewarb eine Agentur, die selbst Anzeigen in den landesspezifischen Zeitschriften der Exilanten schaltete, ihre Dienste mit dem Slogan »SELL TO THE ALLIES«; sie betonte die große und treue Leserschaft der alliierten Zeitschriften.16

In der Zwischenzeit hatte sich London bereits in eine alliierte Stadt verwandelt. Das »Who’s Who« war von knapp 80 Seiten auf mehr als das Doppelte angewachsen und bot eine Übersicht der vielen neuen Bewohner Londons, ihrer Interessen, Zugehörigkeiten, Funktionen, Aufgaben und Adressen. Dabei umfassten die Bände immer auch biographische Komponenten: Die Angehörigen der alliierten Regierungen, Komitees und Bewegungen wurden namentlich und mit Kurzbiographien angeführt. Üblicherweise begannen diese Informationen mit dem vollständigen Namen, dem aktuellen Status und dem Geburtsdatum.17

Biographischer Eintrag zu René Cassin in: Joel Cang (Hg.), The Who’s Who of the Allied Governments in Great Britain, London 1942, S. 53

Im Weiteren gab es einen Überblick zur Ausbildung und den beruflichen Stationen der Person, mitunter auch zu Kriegserfahrungen, so etwa für René Cassin (1887–1976): »Took legal degree in 1908 and became a barrister in Paris. Made Doctor of Law in 1914. Joined up and fought in the 311th Infantry Regiment, wounded, awarded numerous medals for bravery. After the war appointed Professor of Law, first in Lille and later in Paris. [...] For many years represented his country in various international conferences in Geneva and was French Expert of the International Labour Office. Made Commander of Legion of Honour.« Hier ging der Eintrag sogar so weit, Cassins politische Ausrichtung und seine Verdienste um das Freie Frankreich herauszustellen: »Became very suspicious by his campaign warning France against impeding German and later Nazi menace; opposed France’s unilateral renunciation of American War Loan. Joined General de Gaulle on 23rd June, 1940.«18

Die notwendigen Informationen wurden Cang, wie er im Vorwort betonte, von den alliierten Regierungen und deren Press Departments zur Verfügung gestellt. Einige der stark lobenden Informationen (über militärische oder politische Verdienste oder Publikationen) mögen aus der Feder der vorgestellten Personen selbst stammen, andere Einträge vermitteln hingegen nicht diesen Eindruck.19 Die mitunter kruden englischen Formulierungen (wie oben zu lesen) lassen jedoch vermuten, dass die von Cang edierten Informationen meist als Textbausteine der Exilanten oder Exilregierungen eingereicht und nur in geringem Ausmaß lektoriert wurden. Die Editionsleistung bestand eher in der Sammlung und Ordnung als in einer sprachlichen Überarbeitung.

Sicher ist aber, dass das »Who’s Who« allen Interessierten nicht nur die Adressen der alliierten Regierungen und die Namen der Kabinettsmitglieder bot, sondern darüber hinaus auch eine Kurzzusammenfassung der Biographien und beruflichen Qualifikationen. Im Mikrokosmos der Exilanten war dies besonders wichtig. Die Europäer in London planten für die Zeit nach dem Krieg eine enge Zusammenarbeit. Zugleich war es für sie aufgrund der unterschiedlichen Bildungssysteme und entwurzelten Lebensläufe jedoch nicht leicht, die richtigen Ansprechpartner unter den anderen Exilanten zu finden. Dazu dienten persönliche Empfehlungen – und Kontaktmöglichkeiten wie das »Who’s Who«. Es wurde zugleich Telefonbuch des alliierten Exils wie auch Branchenbuch und Qualifikationsverzeichnis alliierter Lebensläufe.

Das »Who’s Who« erfüllte somit drei Funktionen: Es war erstens Verdinglichung der Kontakte (durch das Festhalten des Wissens in einem materiell greifbaren Heft). Zweitens wurde es eigener Bestandteil des Netzwerkes, welches sich nur mittels der hier delegierten Informationen aufrechterhalten ließ. Drittens muss es als strukturierender Aktant betrachtet werden: Wer wie und an welcher Stelle hier vorgestellt und wessen Kontaktdaten zugänglich gemacht wurden, war wichtig für die Sichtbarkeit und die Ansprechbarkeit im Netzwerk. Das Adressbuch beeinflusste das Netzwerk, denn »Dinge sind (auch) sozial, und das Soziale ist (auch) materiell«.20 So wurde in der ersten Ausgabe Polen die prominente vorderste Stelle eingeräumt: »[...] we have placed Poland as the first of the Allies to be mentioned in the book. Poland was, after all, the Ally of Great Britain before the war, whilst the others became Allies later.«21 Die späteren Bände folgten überwiegend einer alphabetischen Struktur, jedoch mit einigen Variationen.22 Die gelisteten biographischen Skizzen waren durchgehend nach Ländern gegliedert und dort alphabetisch geordnet. Kurze, vorangestellte Abschnitte mit Namenslisten zu Kabinett, diplomatischer Vertretung und ggf. Königshaus trugen zur weiteren Orientierung und Kategorisierung bei.

Eintrag zum niederländischen Königshaus und zum Exilkabinett in: Joel Cang (Hg.), The Who’s Who of the Allied Governments in Great Britain, London 1941, S. 48f.

Diese Funktionen des »Who’s Who« wurden ergänzt durch die persönlichen Adressbücher der Exilanten. Dies war notwendig, denn die Adressen, Wohnorte und Ministerien der Kontinentaleuropäer erstreckten sich über ganz London. Von den nationalen Botschaften als ersten Anlaufstätten hatte sich der alliierte Mikrokosmos schnell über die Londoner City verbreitet. In dieser unmittelbaren geographischen Nähe gedieh ein ganz besonderes Klima der Kommunikation. Die Verdichtung lässt sich durch das »Who’s Who«, aber auch durch persönliche Tagebücher, Adressbücher, Kalender verfolgen. Treffend beschreibt Karl Schlögel Adressverzeichnisse als »Findbücher der Gesellschaftsgeschichte, Logbücher durch die Netzwerke individueller Beziehungen«.23 Private Adressbücher vernetzten die Exilanten. Leider sind sie nicht immer erhalten. Dies mag daran liegen, dass sie wohl, im Gegensatz zu Kalendern und Tagebüchern, oft nur als Alltagsgegenstände gesehen und nicht immer aufbewahrt wurden: Meist waren sie durch die Ressourcenknappheit des Krieges von minderwertiger Qualität und durch häufigen Gebrauch vielleicht verschlissen. Ihre Besitzer*innen mussten bei der Rückreise aus dem Exil auch den Umfang ihres Gepäcks überdenken und entschieden sich wohl oft gegen das Heftchen mit überholten Adressen. Schließlich waren Adressbücher als Teil eines Nachlasses vermutlich keine Priorität von Familie, Nachkommen, Nachlassverwaltern und Archivaren. Dabei zeugen die Adressbücher vom Alltagsleben der Exilanten sowie vom Aufbau und Erhalt konkreter Gesprächsnetzwerke. Am Beispiel der Adressbücher René Cassins lassen sich Erkenntnisse und Grenzen der Aussagekraft zeigen.24

Cassins Londoner Adressbuch enthält Telefonnummern und Adressen, nicht immer beides für alle Einträge. Streng genommen war es eher ein karierter Schreibblock, ca. DIN A 5, mit Ringbindung, der durch das Aufkleben kleiner alphabetischer Registerverweise in ein Adressbuch verwandelt wurde. Der Gebrauch des Buches und seine alltägliche Funktion sind offensichtlich; Einträge sind mit verschiedenen Stiften und teils sogar in verschiedenen Schriften getätigt – vermutlich Cassin selbst in Druck- und Schreibschrift, sowie einige andere Handschriften. Manche Einträge sind korrigiert. Gut möglich, dass das größere Format und die oft in Druckbuchstaben gehaltenen Einträge auch dem höheren Alter Cassins geschuldet waren.

Seite aus René Cassins Adressbuch
(Archives Nationales [AN] Paris, Fonds René Cassin. 382 AP 27 Papiers personnels 1940–1945, Doss. 4, Mappe »Reliske et calepins d’Adresses [s.d.] et cahier d’enregistrement du courier reçu du 30 août 1941 au 27 février 1943 et adressé du 2 septembre 1941 au 26 février 1943 [3 pièces]«)

Viele Namen, die man erwarten würde, fehlen darin – warum, muss offen bleiben. Waren manche Mitglieder des Freien Frankreichs nicht eingetragen, weil man sich ohnehin regelmäßig sah? War der Kontakt so eng, dass man nicht telefonieren musste oder die Nummern auswendig konnte? Andererseits findet sich ein Eintrag für René Pleven, ebenfalls Minister im Nationalkomitee, ebenso wie mehrere Kontakte für das »Cabinet du Général« (de Gaulle). War Edvard Beneš, der tschechoslowakische Präsident, Cassins langjähriger Bekannter aus vielen Jahren gemeinsamer Zusammenarbeit beim Völkerbund in Genf, nicht verzeichnet, weil sie sich häufig trafen? Oder weil Kontaktabsprachen über Sekretärinnen liefen? Eingetragen sind hingegen viele andere Adressen, die Cassins Engagement für Menschenrechte und für eine Nachkriegsgerichtsbarkeit aufzeigen.25

Neben den Londoner Adressen finden sich etliche Adressen in Algier. Dies veranschaulicht die Zweiteilung des französischen Nationalkomitees: W ährend des Kri eges verlegte General de Gaulle seinen Sitz zum Teil nach Algier – wegen der militärstrategischen Bedeutung Nordafrikas und der französischen Kolonien ebenso wie wegen einiger Verstimmungen mit Churchill und Roosevelt. Cassin blieb sein Vertreter in London, reiste aber regelmäßig nach Algier, um die Kontakte zwischen den beiden Standorten aufrechtzuhalten. Dies zu jonglieren und in ein funktionierendes Netzwerk zu verwandeln war nur mithilfe des Adressbuches möglich. Ebenso konnte sich Cassin dank der biographischen Angaben im »Who’s Who« genauere Informationen über die ihm unbekannten Juristen anderer alliierter Länder verschaffen – oder vielleicht erst herausfinden, welche unter den alliierten Kontakten ausgebildete Juristen waren. Cassin war während des Zweiten Weltkrieges zwar Exilant, aber durch seine langjährige Arbeit als Jurist, beim Völkerbund und in der Veteranenbewegung ohnehin international vernetzt. Seine Vorkriegskontakte bildeten den Ausgangspunkt für die in London (und darüber hinaus) aufgebauten Netzwerke internationaler Juristen, Diplomaten und Politiker. Cassin ist nicht nur als Mitglied, sondern als Knotenpunkt vieler dieser Netzwerke zu sehen, denen unter anderem auch die Tschechoslowaken Edvard Beneš und Egon Schwelb, die Belgier Henri Rolin und Paul-Henri Spaak angehörten.26

Von ausscheidenden Politikern, die in die Privatwirtschaft wechseln, wird oft gesagt, dass sie ihr Adressbuch »vergolden«.27 Ein solches Adressbuch, wird damit suggeriert, ist die Repräsentation der enthaltenen Kontakte, eine Art Papier gewordener Bestandteil der Macht. Sieht man nun Cassin als brillanten Netzwerker, so war sein Adressbuch unabdingbar für diese Position, ja es wurde durch die an es delegierten Aufgaben selbst notwendiger Bestandteil des Netzwerkes. Im Fall des gedruckten Adressbuches »Who’s Who of the Allied Governments« war das Insider-Wissen durch Druck und Verkauf gleichsam demokratisiert. Zusätzlich zu Adressen und Telefonnummern waren es hier die biographischen Informationen, die das Netzwerk weiter strukturierten und so auch aktiv beeinflussten: Sie boten eine Möglichkeit der Recherche, durch die Personen, Funktionen, Lebensläufe und Kontaktdaten der vielfältigen, neu zusammengewürfelten Gemeinschaft der alliierten Exilanten in London aufbereitet, strukturiert und nutzbar gemacht wurden. Zugleich hatte diese Ordnung natürlich eine ausschließende Funktion: Wer nicht im Heftchen vertreten war, wurde nicht im gleichen Ausmaß sichtbar, gehörte nicht in derselben Weise dazu. Dies galt – mit Abstufungen – sowohl für das private wie auch für das edierte Adressbuch. Sie stellen die beiden Seiten der gleichen Münze dar: Das private Adressbuch (nicht nur Cassins) ist stets selektiv, persönlich, subjektiv, während das edierte »Who’s Who« auf offizielle Repräsentation zielt. Beansprucht letzteres eine umfassende Darstellung des Mikrokosmos, so ist das private Adressbuch im Gegenteil der Fokus auf einen der Knotenpunkte im Netzwerk.

Die Aufnahme in das Adressbuch verlieh nicht nur Sichtbarkeit, sondern auch Legitimität – die grundlegende Währung, das wichtigste Kapital der Exilanten und Exilregierungen in London. Die Adressbücher, kleine Heftchen in schlechter Papierqualität, waren somit als Gegenstände notwendige und ihrerseits strukturierende Bestandteile des Londoner Mikrokosmos und der juristischen Netzwerke darin. Umso bedauernswerter ist es, dass diese Quellen nicht immer zur Verfügung stehen. Cassins Adressbuch ist eines der wenigen aus dem Londoner Zusammenhang.28 Als Alltagsgegenstände sind Adressbücher oft Stiefkinder der persönlichen Nachlässe: Ausführliche Korrespondenz und Tagebücher stehen im Mittelpunkt, während die vermeintlich inhaltsarmen Adresslisten häufig noch zu Lebzeiten aussortiert wurden und werden.29 Digitale Adressbücher der heutigen Zeit wiederum werden künftige Histori­ker*innen vor ganz neue Fragen stellen, besitzen diese doch eine höchstens temporäre Materialität – eine ungewisse Zukunft für das Adressbuch als Ding des Rechts.


Anmerkungen:

1 Nicolas Pethes, Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien zur Einführung, Hamburg 2008, S. 10-12. Zu Notizbüchern im weiteren Sinne siehe Michael Rutschky, Das Merkbuch. Eine Vatergeschichte, Berlin 2012. Vgl. außerdem Marcel Atze/Kyra Waldner, Andere Seiten. Private Adreßbücher prominenter Zeitgenossen aus zwei Jahrhunderten Kunst, Literatur und Musik. Mit einem Essay von Christine Fischer-Defoy, Wien 2001.

2 »[E]very time you want to know what a nonhuman does, simply imagine what other humans or other nonhumans would have to do were this character not present.« So Bruno Latour, Where are the Missing Masses? Sociology of a Few Mundane Artifacts [1992], in: Deborah G. Johnson/Jameson M. Wetmore (Hg.), Technology and Society. Building Our Sociotechnical Future, Cambridge 2009, S. 151-180, hier S. 155.

3 Sowohl als Aktant gemäß der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) als auch in einer Verbindung mit historischer Netzwerkanalyse. Zur ANT siehe Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M. 2007, 3. Aufl. 2014, aber auch Arjun Appadurai (Hg.), The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective, Cambridge 1986; Anke Ortlepp/Christoph Ribbat (Hg.), Mit den Dingen leben. Zur Geschichte der Alltagsgegenstände, Stuttgart 2010; Simone Derix u.a., Der Wert der Dinge. Zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Materialitäten, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 13 (2016), S. 387-403; zu historischer Netzwerkanalyse vgl. Peter Bearman/James Moody/Robert Faris, Networks and History, in: Complexity 8 (2002) H. 1, S. 61-71, und Marten Düring u.a. (Hg.), Handbuch Historische Netzwerkforschung. Grundlagen und Anwendungen, Berlin 2016.

4 Christine Fischer-Defoy (Hg.), Hannah Arendt. »Mir ist, als müsste ich mich selbst suchen gehen«. Das private Adressbuch 1951–1975, Leipzig 2007; dies. (Hg.), Walter Benjamin. »…wie überall hin die Leute verstreut sind…« Das Adressbuch des Exils 1933–1940, Leipzig 2006; dies. (Hg.), Heinrich Mann. »Auch ich kam aus Deutschland...« Das private Adressbuch 1926–1940, Leipzig 2006.

5 Für den Prozess der Anerkennung siehe Julia Eichenberg, Macht auf der Flucht. Europäische Regierungen in London (1940–1944), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 15 (2018), S. 452-473; Martin Conway/José Gotovitch (Hg.), Europe in Exile. European Exile Communities in Britain, 1940–1945, New York 2001; Stefan Talmon, Recognition of Governments in International Law. With Particular Reference to Governments in Exile, Oxford 1998.

6 Talmon, Recognition of Governments (Anm. 5).

7 In einer Verengung oder vielmehr Ausweitung der Begrifflichkeit von Barbara Dölemeyer, Dinge als Zeichen des Rechts. Zur Rechtsikonographie und Rechtsarchäologie, in: Tobias L. Kienlin (Hg.), Die Dinge als Zeichen. Kulturelles Wissen und materielle Kultur, Bonn 2005, S. 221-230.

8 Joel Cang (Hg.), The Who’s Who of the Allied Governments in Great Britain. A Handy Reference Book with Information about the Allied Governments, their Forces and Institutions, London 1941 (jährlich bis 1944).

9 Allied Agreements, in: Who’s Who, London 1942, S. 169-178.

10 Guardian Newspaper European Foreign Correspondence Archive Collection, University of Manchester Library, GB 133 GDN/204-221, Jan 1912 – Dec 1939; Guardian Editors’ Correspondence Series A-D: Editor’s Correspondence B Series (Crozier/Wadsworth), S. 32-138: CANG, Joel B/C23/1-177 (1932–51). Siehe auch Michael Fleming, Geographies of Obligation and the Dissemination of News of the Holocaust, in: Hana Kubátová/Jan Láníček (Hg.), Jews and Gentiles in Central and Eastern Europe during the Holocaust. History and Memory, London 2018, S. 59-75; ders., Auschwitz, the Allies and Censorship of the Holocaust, Cambridge 2014.

11 Was nicht allen gefiel, wie eine Diskussion über das Entsenden von Journalisten anderer Nationalitäten 1946 im House of Commons zeigt: POLAND (BRITISH PRESS REPRESENTATIVES), HC Deb 04 December 1946 vol 431 cc340-2 340, Anfrage in § 74.

12 The National Archives, Kew, HO 334 (Home Office: Immigration and Nationality), Reference: HO 334/230/2481 »Naturalisation Certificate: Joel Cang. From Poland. Resident in London. Wife’s name Anna Bela [Cang]. Children: Stefan Adam Cang. Home Office Reference: C 6677. Certificate BZ2481 issued 14 May 1947.«

13 Joel Cang, The Opposition Parties in Poland and Their Attitude towards the Jews and the Jewish Problem, in: Jewish Social Studies 1 (1939), S. 241-256; später zur jüdischen Minderheit in der Sowjetunion: ders., The Silent Millions. A History of the Jews in the Soviet Union, London 1969.

14 American Jewish Yearbook 1976, S. 302.

15 Julia Eichenberg, SELL TO THE ALLIES! Advertisement and the European Exiles in London, Blogbeitrag in: The London Moment. Exile Governments, Academics, and Activists in the Capital of Free Europe, 1940–1945, 19.12.2018, URL: <https://exilegov.hypotheses.org/1302>.

16 F.C. Urbach Advertising, 32 Belsize Park Gardens, London, N.W. 3, For most of the leading Foreign Publications, Representative or Sole Agent. »SELL TO THE ALLIES in this country through our representative«. Who’s Who, London 1944, S. 185.

17 So in der Ausgabe von 1941: »H.M. Wilhelmina Helena Paulina Maria, Queen of the Netherlands, Princess of the House of Orange Nassau, was born on August 31st, 1880, at The Hague.« Who’s Who, London 1941, S. 48; oder »Cassin, René, Member of the Council of Defence, b. in Bayonne 5.10.1887.« Ebd., S. 75.

18 Ebd., S. 76.

19 »Zaleska, Zofja, Member of the Polish National Council, b. 26.10.1893 in Strzalka, Rawa country. Very able woman journalist [...].« Ebd., S. 18.

20 Derix u.a., Der Wert der Dinge (Anm. 3), S. 392.

21 Joel Cang, Introduction, in: Who’s Who, London 1941, S. 2. Die Reihenfolge 1941 war: Poland, Czechoslovakia, Norway, The Netherlands, Belgium, Free French Empire.

22 1942: Belgium, China, Czechoslovakia, Ethiopia, Free France, Greece, Luxembourg, Netherlands, Norway, Poland, U.S.S.R., Yugoslavia, Dominions, U.S.A., Central America, Free Movements; 1943: wie 1942, mit Iraq alphabetisch einsortiert; 1944: wie gehabt, aber U.S.A. alphabetisch einsortiert, und der nicht-alphabetisch sortierte Teil erweitert auf: Great Britain, Dominions, Central America, South America, Free Movements.

23 Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003, S. 344.

24 In Cassins Nachlass finden sich zwei Adressbücher; hier wird das umfangreichere und sich vor allem auf London beziehende erläutert. Archives Nationales (AN) Paris, Fonds René Cassin. 382 AP 27 Papiers personnels 1940–1945, Doss. 4, Mappe »Reliske et calepins d’Adresses (s.d.) et cahier d’enregistrement du courier reçu du 30 août 1941 au 27 février 1943 et adressé du 2 septembre 1941 au 26 février 1943 (3 pièces)«.

25 So etwa: »Bazat (Liason Crimes de Guerres)«; »Dejan – délégué du C.F.L.N. auprès des courts alliés replis à Londres«; »United Nations Commission for the Investigation of War Crimes, Room 201, Royal Courts of Justice, Strand, London W.C. 2«.

26 Vgl. Jay Winter/Antoine Prost, René Cassin and Human Rights. From the Great War to the Universal Declaration, Cambridge 2013, S. 228.

27 Vgl. u.a. Christian Vooren, Hamburgs Ex-Bürgermeister im Porträt: Ole von Beust – der Hobbyist, in: Tagesspiegel, 22.5.2016: »Der Ex-Bürgermeister vergoldet sein Adressbuch.«

28 Etwa das Adressbuch des polnischen Botschafters Edward Raczyński: Polish Institute and Sikorski Museum (PISM), Kolekcja Raczynski/Personal Papers, KOL 23H/364 Kziążki adresowe 1942–1945.

29 Obwohl insbesondere die Sozial- und die Kulturgeschichte sie als wertvolle Quellen entdeckt haben – die Sozialgeschichte oft mit Blick auf Adressbücher von Städten und Gemeinden, die Kulturgeschichte mit Blick auf persönliche Netzwerke etwa künstlerisch tätiger Persönlichkeiten oder, wie bei Karl Schlögel, mit Blick auf den Raum. Einige persönliche Adressbücher wurden hier bereits vorgestellt; vgl. außerdem für die Sozialgeschichte: Hartmut Jäckel, Menschen in Berlin. Das letzte Telefonbuch der alten Reichshauptstadt 1941, Stuttgart 2000, 2., durchges. Aufl. 2001; zum Raum: Karl Schlögel, Berliner Adressbücher, in: ders., Im Raume lesen wir die Zeit (Anm. 23), S. 329-351.

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