Vermarktlichung

Zeithistorische Perspektiven auf ein umkämpftes Feld

  1. Märkte und Vermarktlichung
  2. Theorie und Praxis: Forschungsfelder
  3. Forschungsperspektiven

Anmerkungen

Der Ruf des Marktes ist lädiert. Die internationalen Finanzkrisen der letzten Jahre haben Ängste vor einem offenbar politisch unbeherrschbaren, globalisierten Hochgeschwindigkeits-Kapitalismus geschürt; zugleich verweist das seit geraumer Zeit gewachsene Unbehagen an einer anhaltenden »Ökonomisierung« von Arbeitsbeziehungen, sozialen Sicherungs- oder Bildungssystemen auf die Schattenseiten eines hochflexiblen Informations- und Konsumgüterangebots, auf das allerdings kaum jemand verzichten möchte.[1] Wie plausibel solche Zeitdiagnosen auch immer erscheinen mögen, sie dürften immerhin das gewachsene Interesse einer Zeitgeschichtsschreibung, die sich wieder stärker der »Problemgeschichte« oder den »Anfängen der Gegenwart« widmet,[2] an jenen ökonomischen Faktoren miterklären, die in der kulturhistorischen Hochkonjunktur der 1990er-Jahre in den Hintergrund gerückt waren.

Nach dem Zusammenbruch der osteuropäischen Staatssozialismen schien dieses Jahrzehnt durch den Aufbruch in eine weltweite Marktwirtschaft charakterisiert zu sein. Das rapide Wachstum des »Polenmarktes« in West-Berlin machte das noch vor der Maueröffnung auf der Mikroebene augenfällig (siehe auch das Coverfoto des vorliegenden Hefts).[3] Alternative Konzepte eines »geplanten Kapitalismus«, eines »Dritten Weges« oder gar einer Konvergenz westlicher Markt- und östlicher Planökonomien, wie sie in den 1960er-Jahren diskutiert worden waren,[4] schienen sich überlebt zu haben. Zu den prägnanten Diagnosen in der neueren Literatur über die Dekaden seit den 1970er-Jahren gehört denn auch eine Verschiebung der Gewichte »vom Staat zum Markt, von der Gesellschaft zum Individuum«, eine nachlassende Prägekraft politischer Strukturen und gesellschaftlicher Ordnungsmuster.[5] Im Gegensatz zum Marktoptimismus der Wirtschaftswissenschaften tritt die Zeitgeschichte des Marktes zumindest skeptisch, wenn nicht als Verfalls- und Verlusterzählung auf. Eine Zunahme individueller und politischer Freiheiten in den letzten Jahrzehnten hatte, so Andreas Wirsching, »ihren Preis« in wachsender sozialer Ungleichheit, Unsicherheit und Krisenanfälligkeit.[6] Eine »Schieflage im Verhältnis von Marktwirtschaft und Demokratie« habe sich, so Anselm Doering-Manteuffel, nicht erst im Zuge der jüngsten Finanzkrisen entwickelt. Sie reflektiere vielmehr eine um 1980 einsetzende, zusehends globale Verschmelzung von Medialisierung, Deregulierung und Digitalisierung »zu einem einzigen Großtrend, der ungefähr seit dem Jahr 2000 das Geschehen« beherrsche.[7]

Das Unbehagen an der ökonomischen Aushebelung politischer Verhandlungsmechanismen, die als Grundlage moderner demokratischer Staatlichkeit gelten, kommt ebenso in Wolfgang Streecks Unterscheidung zwischen (demokratisch mitregierendem) »Staatsvolk« und (konsumtiv sediertem) »Marktvolk« zum Ausdruck.[8] Mit etwas anderem Fokus hat der Politikwissenschaftler Colin Crouch am britischen Beispiel vor der Entstehung einer »Postdemokratie« gewarnt, in der zuvor als genuin politisch definierte, hoheitliche Versorgungsaufgaben nur vordergründig an offene Märkte delegiert, tatsächlich aber wenigen Großunternehmen übertragen und Bürger zu Kunden umdefiniert würden.[9] Dabei stützte sich zumindest die Propagierung von Marktlogiken ursprünglich nicht auf eine Gleichgültigkeit gegenüber einer als gerecht empfundenen Teilhabe weiter Bevölkerungskreise, sondern versprach vielmehr eine alternative und effizientere Teilhabestrategie zugunsten des »kleinen Mannes«.[10] Eine Beschäftigung mit dem expansiven Vordringen von Marktlogiken auch in Lebensbereiche jenseits der Arbeitswelt, das Dietmar Süß drastisch als eine »Totalisierung des Markt-Prinzips« gedeutet hat,[11] berührt also Grundfragen des Gemeinwesens, und sie bietet entsprechend viele Ansatzpunkte für eine zeithistorische Forschung, die sich mit der Vorgeschichte unserer Gegenwart auseinandersetzt.

1. Märkte und Vermarktlichung

Dieses Heft nähert sich dem Themenfeld unter dem Leitbegriff »Vermarktlichung« bzw. »Marketization«, der damit zugleich auf seine analytische Nützlichkeit für historische Studien geprüft werden soll. Eine Begriffsgeschichte des vor allem in den Sozialwissenschaften geläufigen Terminus ist hier nicht zu leisten. In den deutschen Sprachgebrauch scheint er in den 1990er-Jahren eher beiläufig eingesickert zu sein – zuerst wohl zur Beschreibung neuer Koordinationsmechanismen und Arbeitsbeziehungen in Unternehmen,[12] sehr bald aber auch für die Verlagerung sozialpolitischer Maßnahmen auf »Wohlfahrtsmärkte«.[13] In der englischsprachigen Literatur fand »Marketization« zudem Anwendung auf jene grundlegenden Umwälzungen in Osteuropa, für die sich im Deutschen die Bezeichnung »Transformation« eingebürgert hat.[14]

Nützlich für eine zeithistorische Annäherung an das Phänomen erscheint Colin Crouchs empirische Definition von »Marketization« als »process of taking goods and services that had previously been provided under bureaucratic, political, or professional means of resource allocation and transferring them to market arrangements«. Vermarktlichung impliziert also nicht notwendigerweise Privatisierung oder Deregulierung, und sie schließt die Möglichkeit ein, »interne« Märkte innerhalb von Unternehmen und anderen Organisationen zu schaffen, ist also eher gradueller Natur.[15] Anstelle scharfer Gegensätze von Staat und Markt, von öffentlichem und privatem Eigentum wird damit die Aufmerksamkeit auf komplexe Prozesse mit kontingenten Entscheidungssituationen und hybride Konstellationen mit offenem Ausgang gelenkt. In Großbritannien beispielsweise, das seit den Thatcher-Regierungen der 1980er-Jahre als europäisches Mutterland intensiver Vermarktlichungsbemühungen gilt, mündete das oft von heftigen Auseinandersetzungen begleitete Aufbrechen staatlicher Monopole in verschiedenste Mischformen des Wettbewerbs und »neuen Kompromissen« zwischen Marktprinzipien und staatlicher Regulierung.[16]

Dieser offene Ansatz vermeidet das simplifizierende Bild einer in alle Lebensbereiche ausgreifenden Ökonomie, auf die der häufig ebenso umfassend wie unscharf gebrauchte Begriff »Ökonomisierung« verweist. Stattdessen rücken (reale und gedachte) Beziehungen zwischen konkreten Akteuren und deren Dynamiken in den Fokus – seien es Unternehmensleitungen, Belegschaften, Gewerkschaften, Regierungen, Parlamente, Verwaltungen oder Bürger bzw. Konsumenten und Anleger. Doch was meint das gegenwärtig scheinbar omnipräsente Reden, Schreiben und Nachdenken über Märkte, Marktbeziehungen, -mechanismen oder -dynamiken eigentlich? Bei der mitunter inflationären Rede von der »Macht«, den »Zwängen«, den »Launen« oder gar der »Tyrannei« der Märkte geht leicht unter, dass diese keine isolierten, freischwebenden Phänomene oder gar autonome Akteure sind, sondern mit anderen Organisationsformen gesellschaftlicher Beziehungen koexistieren und konkurrieren – jedenfalls diesseits der ökonomischen Modellwelt. Ökonomen analysieren Märkte in erster Linie unter dem Aspekt der Preisbildung, als (reale oder virtuelle) Orte, an denen sich Angebots- und Nachfragefunktionen schneiden und dadurch temporäre Gleichgewichte erzeugen. Theorien und Begriffe veränderten sich zwar im Laufe der Jahrhunderte, doch etablierte sich dabei ein neoklassischer Marktbegriff, der sich für die konkreten Akteure, ihre Motive und Werthaltungen gerade nicht (mehr) interessiert.[17] Die Wirtschaftssoziologie interpretiert Märkte hingegen als Netzwerke und hebt dabei auf die soziale »Einbettung« von Tauschakten ab; oder als interaktive Felder, die durch Machtbeziehungen strukturiert werden und aus Machtkämpfen ihre immanente Dynamik beziehen.[18]

Ohne den analytischen Wert des wirtschaftswissenschaftlichen Instrumentariums zu bestreiten, haben solche sozialwissenschaftlichen Anregungen für historische Studien den offenkundigen Vorzug, dass sich politische oder gesellschaftliche Akteure sowie die hiermit verbundenen kulturellen Zuschreibungen und Erwartungen in die Analyse von Märkten integrieren lassen. Märkte sind komplexe soziale Räume des – mehr oder weniger regulierten – Wettbewerbs, wenn nicht gar buchstäblich von »Existenzkämpfen« verschiedener Anbieter.[19] Gleichzeitig sind Märkte aber in vielerlei Hinsicht limitiert, insbesondere durch Zugangsbarrieren für Anbieter und Nachfrager sowie durch die gesellschaftliche Ausschließung bestimmter Güter vom materiellen Tausch. Solche »Markttabus« lassen sich als Indikatoren für die allgemeine Wertschätzung des Marktes als Tauschort heranziehen. Diskussionen um »anstößige Märkte« etwa für menschliche Organe oder sexuelle Dienstleistungen zeigen den engen kulturhistorischen Zusammenhang zwischen Markt- und Moralvorstellungen:[20] Welche Bereiche menschlichen Zusammenlebens wann und in welcher Form marktförmig organisiert werden, ist – wie ein kurzer Blick auf die in diesem Heft behandelten und andere Forschungsfelder zeigt – eine Frage gesellschaftlicher Aushandlungen und nur begrenzt mit wirtschaftlichem Problemdruck erklärbar.

2. Theorie und Praxis: Forschungsfelder

Die »Wiederentdeckung des Marktes« hatte nicht nur politische, sondern auch wissenschaftliche Hintergründe. Für die USA hat Daniel Rodgers gezeigt, wie sich seit den 1970er-Jahren ein erneuertes Interesse am Funktionieren von Märkten in verschiedenen Wissenschaften durchsetzte. Ökonomische Fragen drängten in einer Phase der Energie- und Unternehmenskrisen, hohen Arbeitslosigkeit und spürbaren Inflation von neuem auf die Tagesordnung. Gerade in dieser Krisenphase erschien das abstrakte Konzept »des Marktes« oder »der Märkte«, die unter der Voraussetzung ökonomisch rationalen Verhaltens der Marktteilnehmer stets zu ökonomisch effizienten Lösungen führen mussten, verheißungsvoll. Eine Reihe durchaus unterschiedlicher wissenschaftlicher Strömungen trug zum Wandel eines theoretischen und politischen Bildes von »Gesellschaft« als einem Gefüge bei, in dem ökonomische Akteure möglichst frei von unnötigen sozialen und politischen Bindungen, auf rationale Weise und im Wettbewerb ihren individuellen Nutzen mehren und in der Summe die gesellschaftliche Wohlfahrt maximieren sollten.[21]

Welche praktischen Konsequenzen diese »intellektuelle Vermarktlichung« jenseits der Wissenschaft hatte, ist jedoch eine andere Frage. Ein allgemeiner Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik der westlichen Welt während der 1970er- und 1980er-Jahre ist unbestreitbar. Das Abrücken vom keynesianischen Steuerungsoptimismus und der ideologische Siegeszug des Neoliberalismus hatten auf dem europäischen Kontinent indes weit weniger dramatische Schwenks zur Folge als im Großbritannien der Thatcher- und in den USA der Reagan-Jahre. In der Bundesrepublik beispielsweise führte diese Trendwende zu einer ausgesprochen pragmatischen »Angebotspolitik«, einer stärkeren Regelbindung der Geldpolitik und einer ersten Privatisierungswelle. Eine generelle Absage an staatliche Konjunktur- und Strukturpolitik, also an teils massive Eingriffe in das Marktgeschehen, bedeutete dies freilich nicht.[22]

Auch im ehemals kommunistischen Ostblock waren nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Vermarktlichungsprozesse keineswegs einfache Übernahmen neoliberaler Konzepte aus den angelsächsischen Staaten. Im Gebiet der »neuen Bundesländer«, der ehemaligen DDR, diente mit Blick auf das bundesdeutsche »Wirtschaftswunder« der 1940er- und 1950er-Jahre die »soziale Marktwirtschaft« als Leitmotiv, und in der Tschechoslowakei mischte sich die Rezeption der »neoklassischen Synthese« Paul Samuelsons, in der keynesianische Elemente erhebliches Gewicht besaßen, erst allmählich mit dem radikalen Neoliberalismus eines Friedrich von Hayek.[23] Jenseits der transatlantischen Welt machte sich dieser zunehmend globale Vermarktlichungstrend ebenfalls bemerkbar, insbesondere in südamerikanischen Krisenstaaten während der 1980er-Jahre, die durch transnationale Akteure wie den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank zu marktorientierten Reformen angehalten wurden; auch zahlreiche Staaten Asiens, allen voran China, setzten in sehr unterschiedlichen Facetten auf marktdynamische Prozesse.[24] Die Vermarktlichung der internationalen Finanzbeziehungen hatte bereits mit dem endgültigen Ende des Wechselkursregimes von Bretton Woods und der dramatischen Verteuerung der Ölpreise 1973 einen Schub erhalten: Die Bestimmung der Währungsparitäten ging zum Teil von politischen Gremien auf die Devisenmärkte über, und das »Recycling« der auf die europäischen Dollarmärkte strömenden »Petrodollars« durch Bankkredite an Entwicklungsländer wurde von den internationalen Organisationen bewusst den Banken überlassen.[25]

Seit den 1990er-Jahren nahmen materielle wie ideelle Vermarktlichungsprozesse auch in solchen westlichen Staaten erheblich zu, in denen sie vor dem Fall des Eisernen Vorhangs nur schwer oder kaum durchsetzbar gewesen wären, wie etwa in Frankreich oder Italien.[26] Im deutschen Fall wirkten sogar Vermarktlichungserfahrungen aus der Transformation der östlichen Bundesländer – die Erosion des Flächentarifvertrags, die sinkende Bedeutung von Hausbanken in der Unternehmensfinanzierung und die Finanzierung öffentlicher Haushalte über den internationalen Kapitalmarkt – anschließend unmittelbar auf den Westen der Republik zurück.[27] Der Markt avancierte in den zeitgenössischen Reformdebatten zum zentralen Argument und Instrument zugleich und wurde gerade von der modernisierten Sozialdemokratie um Tony Blair oder Gerhard Schröder, aber auch in anderen europäischen Ländern als essentieller Bezugspunkt gesellschaftlicher Reformen akzeptiert;[28] seine »Implementation« unter dem Schlagwort des »New Public Management« schien im Blick zahlreicher Akteure in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft überkommene staatliche Verwaltungsroutinen aufzubrechen und hierdurch neue Dynamiken freizusetzen.

In der Wirtschaft folgte der zunehmenden Orientierung von Unternehmen an den Absatzmärkten nach dem allmählichen Ende des »Wirtschaftswunders« eine Vermarktlichung in den Unternehmen durch die Aufwertung von Finanzkennziffern und die Zerlegung in kleinere Einheiten, die sich jeweils im Wettbewerb zu beweisen hatten.[29] Die Liberalisierung der Finanzmärkte in den USA seit den 1970er-Jahren, später in Großbritannien (»Big Bang« 1986) und schließlich auf dem Kontinent förderte außerdem eine Vermarktlichung der Unternehmensfinanzierung.[30] Darüber hinaus gewannen die Finanzmärkte jedoch für öffentliche und private Haushalte – hier besonders augenfällig durch den Ausbau der privaten Altersvorsorge – derart an Bedeutung, dass seit den 1990er-Jahren sozialwissenschaftliche Studien über »Finanzialisierung« oder gar die Transformation zu einem neuartigen »Finanzmarktkapitalismus« zunahmen.[31] Gleichzeitig wurden Marktlogiken auf Bereiche übertragen, in denen sie bis dahin kaum eine nennenswerte Rolle gespielt hatten, etwa die öffentliche Daseinsvorsorge. Zentrale Beispiele für das vereinigte Deutschland waren die häufig hochumstrittenen Privatisierungen bei der Bahn, der Post und zahlreichen kommunalen Einrichtungen wie dem öffentlichen Wohnungsbau oder den Stadtwerken.[32]

Beträchtliche Relevanz kam der Vermarktlichung im Gesundheitswesen zu. Mehr als die Hälfte aller Krankenhäuser in Deutschland erhielt neue Managementstrukturen. Zahlreiche Aufgaben wie Reinigungen, die Zubereitung von Mahlzeiten, die Betreuung der technischen Infrastruktur oder auch Laboruntersuchungen wurden an externe Dienstleister ausgelagert. Ebenso nahm die Bedeutung privater Klinikkonzerne sprunghaft zu, die vermehrt defizitäre öffentliche, meist kommunale Einrichtungen aufkauften. Während Befürworter dieser Entwicklung mit Verweis auf wachsende Kosten die Notwendigkeit einer Effizienzsteigerung behaupteten, sprachen Kritiker von einer höheren Arbeitsbelastung des Personals und einer schlechteren Patientenversorgung.[33]

Ein weiteres Beispiel für die Ausdehnung von Vermarktlichungstendenzen war die Einführung von Wettbewerbsstrukturen im Hochschulwesen. Auch Universitätsleitungen orientierten sich zunehmend an Managementpraktiken und strebten das Ziel an, ihre Lehr- und Forschungseinrichtungen als Marken in einem Wettbewerb der Standorte zu platzieren. In diesem Kontext entstehen beim Centrum für Hochschulentwicklung, einem Think Tank der Bertelsmann Stiftung, seit 2002 jährliche Rankings, die eine Messbarkeit der Qualität verschiedener Studiengänge beanspruchen.[34] Allerdings demonstrierte die halbherzige und schließlich zurückgenommene Einführung von Studiengebühren hier auch beispielhaft die Resistenz historisch gewachsener Strukturen gegen Vermarktlichungsprozesse.

3. Forschungsperspektiven

Die Beispiele ließen sich fortsetzen, die Geschichte der Vermarktlichung ist indes noch weitgehend ungeschrieben. Die Beiträge dieses Hefts, das einige Schneisen in das Themenfeld schlagen möchte, konzentrieren sich mehrheitlich darauf, »Diskurs als politische Praxis« zu beschreiben. Sie beschäftigen sich ganz überwiegend mit Aspekten der Wirtschafts-, Unternehmens- und Theoriegeschichte, erfassen jedoch nicht die oben angerissenen Vermarktlichungsprozesse im Gesundheits-, Bildungs- und Hochschulsektor, in der Verwaltung oder kommunalen Daseinsvorsorge. Wesentliche Desiderate einer historischen Vermarktlichungsforschung sind darüber hinaus die Akteure und Praktiken. Statt einer reinen Ideengeschichte des Neoliberalismus wird es darum gehen müssen, etwa durch Netzwerkanalysen zu erforschen, von wem auf welche Weise Vermarktlichungen konkret propagiert, umgesetzt oder bekämpft und womöglich verhindert wurden.[35] Welche Resultate, Konflikte und Widersprüche produzierten die praktischen Realisierungsversuche? Welche lokalen, regionalen oder nationalen Gemeinsamkeiten und Unterschiede lassen sich beschreiben? Welche tatsächlichen Effekte hatten Vermarktlichungsprozesse auf Konstellationen politischer Macht und sozialer Ungleichheit? Von besonderem Interesse erscheint dabei das Verhältnis von Vermarktlichung und Demokratie bzw. Demokratisierung, steht doch die eingangs skizzierte Vermarktlichungskritik tendenziell im Gegensatz zu der ordoliberalen These von der »Interdependenz der Ordnungen«, der zufolge wirtschaftliche Freiheit und demokratische Staatsorganisation in modernen Gesellschaften notwendigerweise miteinander verknüpft sind.[36] Auch geläufige Periodisierungen wie die vielzitierte Epochenzäsur »nach dem Boom«, aber auch den Einschnitt von 1989/91 wird es dabei zu hinterfragen gelten, weil die 1980er- und vor allem 1990er-Jahre stärker in den Fokus rücken.[37]

Vorläufig lassen sich sechs verschiedene Typen von Vermarktlichungen als denkbare Forschungsperspektiven voneinander abgrenzen. Unter restrukturierender Vermarktlichung können erstens endogene Umbau- und Anpassungsprozesse in der Sphäre der Ökonomie beschrieben werden, also insbesondere die Etablierung marktförmiger (Wettbewerbs-)Verfahren in krisengeplagten Privatunternehmen zur Effizienz- bzw. Umsatzsteigerung. Als transformative Vermarktlichung können zweitens durch Entstaatlichung bzw. Privatisierungen staatlicherseits forcierte Markteinführungen durch eine Änderung der Eigentumsverhältnisse bei Staatsunternehmen gefasst werden, wie sie etwa für das Gesundheitswesen, aber auch in anderen Dienstleistungssektoren wie Telekommunikation oder Transport charakteristisch waren. Hiervon wäre drittens der Typus einer (post)revolutionären Vermarktlichung abzugrenzen, bei dem der dynamische Wechsel einer Gesellschafts- bzw. politischen Ordnung mit der umfassenden Einführung von Marktprinzipien verzahnt ist, wie insbesondere nach der Implosion des Realsozialismus in Osteuropa 1989/91. Viertens können prozedurale Vermarktlichungen diejenigen Prozesse und Dynamiken innerhalb der staatlichen bzw. öffentlichen Verwaltung beschreiben, bei denen entsprechende Verfahren als steuernde Markt- bzw. Wettbewerbssimulationen gezielt zum Einsatz gelangen, ohne jedoch den Eigentumstyp an sich zu ändern – hierfür ist der »Wettbewerb« zwischen staatlichen Hochschulen um staatliche Fördergelder ein eindrückliches Beispiel. Neben diesen praktischen Konstellationen wären fünftens intellektuelle Vermarktlichungen in den Blick zu nehmen, mit der Leitfrage, inwiefern, wie und durch wen »der« Markt als zentrales Argument oder Gegenargument in öffentlichen, politischen, akademischen oder intellektuellen Debatten bzw. Diskursen gebraucht wurde. Schließlich wäre sechstens auch nach subjektiven Vermarktlichungen zu fragen, also danach, inwiefern das »unternehmerische Selbst«[38] in Form von individuellem »Selbstmanagement« oder anderen marktbezogenen Selbst-Praktiken im Berufs- und Privatleben Einzug hielt – oder gerade nicht.

Anmerkungen:

[1] Vgl. beispielhaft für verschiedene Linien der Kritik etwa Richard Sennett, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998; Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a.M. 2000; Michael J. Sandel, Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes, Berlin 2012.

[2] Hans Günter Hockerts, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in: Historisches Jahrbuch 113 (1993), S. 98-127; Morten Reitmayer/Thomas Schlemmer (Hg.), Die Anfänge der Gegenwart. Umbrüche in Westeuropa nach dem Boom, München 2014; Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael/Thomas Schlemmer (Hg.), Vorgeschichte der Gegenwart. Dimensionen des Strukturbruchs nach dem Boom, Göttingen 2016.

[3] Vgl. Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014, S. 182ff.

[4] Vgl. in diesem Heft Roman Kösters Relektüre von Andrew Shonfields 1965 erschienenem Buch »Modern Capitalism«.

[5] Anselm Doering-Manteuffel/Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008, S. 45-52.

[6] Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012, S. 13.

[7] Anselm Doering-Manteuffel, Die Entmündigung des Staates und die Krise der Demokratie. Entwicklungslinien von 1980 bis zur Gegenwart, Stuttgart 2013 (Zitate S. 10, S. 20). Vgl. auch die Beispiele bei Stefan Scholl, Begrenzte Abhängigkeit. »Wirtschaft« und »Politik« im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2015, S. 355-358.

[8] Wolfgang Streeck, Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Berlin 2013, S. 118-131. Vgl. Lutz Wingert, Von Krisen und Grenzen: Staatsvolk und Marktvolk im entgrenzten Kapitalismus, in: Journal of Modern European History 12 (2014), S. 61-70.

[9] Colin Crouch, Postdemokratie, Frankfurt a.M. 2008; ders., Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Postdemokratie II, Frankfurt a.M. 2011; ders., Die bezifferte Welt. Wie die Logik der Finanzmärkte das Wissen bedroht, Berlin 2015.

[10] Vgl. den Beitrag von Sören Brandes in diesem Heft. Siehe auch die Bedeutung der Idee von der Generationengerechtigkeit bei Hans Günter Hockerts, Abschied von der dynamischen Rente – Über den Einzug der Demografie und der Finanzpolitik in die Politik der Alterssicherung, in: Ulrich Becker/Hans Günter Hockerts/Klaus Tenfelde (Hg.), Sozialstaat Deutschland. Geschichte und Gegenwart, Bonn 2010, S. 257-286, hier S. 276.

[11] Dietmar Süß, Idee und Praxis der Privatisierung. Eine Einführung, in: Norbert Frei/Dietmar Süß (Hg.), Privatisierung. Idee und Praxis seit den 1970er Jahren, Göttingen 2012, S. 11-31, hier S. 12.

[12] Vgl. u.a. Dieter Sauer/Volker Döhl, Die Auflösung des Unternehmens? Entwicklungstendenzen der Unternehmensreorganisation in den 90er Jahren, in: Jahrbuch sozialwissenschaftliche Technikberichterstattung 1996, Berlin 1997, S. 19-76, hier S. 22-29; Walther Müller-Jentsch, Der Wandel der Unternehmens- und Arbeitsorganisation und seine Auswirkungen auf die Interessenbeziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, in: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 31 (1998), S. 575-584; Nick Kratzer, Vermarktlichung und Individualisierung – Zur Produktion von Ungleichheit in der reflexiven Modernisierung, in: Soziale Welt 56 (2005), S. 247-266.

[13] Vgl. Frank Nullmeier, Vermarktlichung des Sozialstaates?, in: Detlef Aufderheide/Martin Dabrowski (Hg.), Markt und Wettbewerb in der Sozialwirtschaft. Wirtschaftsethische und moralökonomische Perspektiven für den Pflegesektor, Berlin 2009, S. 97-108; Ingo Bode, Service statt Subsidiarität? Die Organisation katholischer Wohlfahrt im Zeitalter der Vermarktlichung, in: Zeitschrift für Sozialreform 48 (2002), S. 586-600.

[14] Jane Gingrich, Art. »Marketization«, 1.8.2013, in: Encyclopædia Britannica Online, URL: <http://www.britannica.com/topic/marketization>.

[15] Colin Crouch, Marketization, in: Matthew Flinders u.a. (Hg.), The Oxford Handbook of British Politics, Oxford 2009, S. 878-895 (Zitat S. 878). Wenig hilfreich für konkrete zeithistorische Analysen erscheint hingegen die jüngst von Patrik Aspers vorgeschlagene, an Max Weber angelehnte Definition als (säkularer) »Prozess, in dem sich Märkte sowie, allgemeiner, die Marktlogik im gesellschaftlichen Lebenszusammenhang ausgebreitet haben« – eine Definition, die praktisch auf eine Gleichsetzung von Vermarktlichung mit der Geschichte des modernen Kapitalismus hinausläuft; Patrik Aspers, Märkte, Wiesbaden 2015, S. 65.

[16] Crouch, Marketization (Anm. 15), S. 883.

[17] Patrik Aspers, Märkte, in: Andrea Maurer (Hg.), Handbuch der Wirtschaftssoziologie, Wiesbaden 2008, S. 225-246, hier S. 229-232. Vgl. den historischen Abriss bei Alexander Engel, Farben der Globalisierung. Die Entstehung moderner Märkte für Farbstoffe 1500–1900, Frankfurt a.M. 2009, S. 15- 25.

[18] Aspers, Märkte (Anm. 17), S. 234-239; Jens Beckert, Die sittliche Einbettung der Wirtschaft. Von der Effizienz- und Differenzierungstheorie zu einer Theorie wirtschaftlicher Felder, in: Berliner Journal für Soziologie 22 (2012), S. 247-266; Neil Fligstein, Die Architektur der Märkte, Wiesbaden 2011, S. 15-32, S. 79-110. Vgl. den Beitrag von Sebastian Teupe in diesem Heft.

[19] Thomas Welskopp, Unternehmen Praxisgeschichte. Historische Perspektiven auf Kapitalismus, Arbeit und Klassengesellschaft, Tübingen 2014, S. 13f.

[20] Monika Dommann, Markttabu, in: Christoph Dejung/Monika Dommann/Daniel Speich-Chassé (Hg.), Auf der Suche nach der Ökonomie. Historische Annäherungen, Tübingen 2014, S. 183-205; vgl. Nico Stehr, Die Moralisierung der Märkte. Eine Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M. 2007.

[21] Daniel T. Rodgers, Age of Fracture, Cambridge 2011, S. 10f., S. 41-76. Vgl. auch den Beitrag von Rüdiger Graf in diesem Heft.

[22] Tim Schanetzky, Die große Ernüchterung. Wirtschaftspolitik, Expertise und Gesellschaft in der Bundesrepublik 1966 bis 1982, Berlin 2007; ders., Aporien der Verwissenschaftlichung: Sachverständigenrat und wirtschaftlicher Strukturwandel in der Bundesrepublik 1974–1988, in: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010), S. 153-167. Zum internationalen Aufstieg des Neoliberalismus vgl. Philip Mirowski/Dieter Plehwe (Hg.), The Road from Mont Pèlerin. The Making of the Neoliberal Thought Collective, Cambridge 2009; Angus Burgin, The Great Persuasion. Reinventing Free Markets since the Depression, Cambridge 2012; Daniel Stedman Jones, Masters of the Universe. Hayek, Friedman, and the Birth of Neoliberal Politics, Princeton 2012; für die Kontinuitäten zur »keynesianischen« Phase in den USA und Großbritannien vgl. ebd., S. 215-328.

[23] Siehe die Beiträge von Marcus Böick und Rudolf Kučera in diesem Heft; sowie Johanna Bockman/Gil Eyal, Eastern Europe as a Laboratory for Economic Knowledge: The Transnational Roots of Neoliberalism, in: American Journal of Sociology 108 (2002), S. 310-352, hier S. 337-345. Zur Bedeutung eigenständiger Marktvorstellungen vor 1989 auch Joachim von Puttkamer, Der schwere Abschied vom Volkseigentum. Wirtschaftliche Reformdebatten in Polen und Ostmitteleuropa in den 1980er Jahren, in: Frei/Süß, Privatisierung (Anm. 11), S. 158-183; zu den sehr unterschiedlichen Varianten der »neoliberalen« Transformation jetzt Ther, Die neue Ordnung (Anm. 3).

[24] Christian Kellermann, Die Organisation des Washington Consensus. Der Internationale Währungsfonds und seine Rolle in der internationalen Finanzarchitektur, Bielefeld 2006.

[25] Matthias Schmelzer, Freiheit für Wechselkurse und Kapital. Die Ursprünge neoliberaler Währungspolitik und die Mont Pèlerin Society, Marburg 2010; C. Edoardo Altamura, A New Dawn for European Banking: The Euromarket, the Oil Crisis and the Rise of International Banking, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 60 (2015), S. 29-51; allgemein etwa Harold James, Rambouillet, 15. November 1975. Die Globalisierung der Wirtschaft, München 1997, S. 131-175.

[26] Florian Mayer, Vom Niedergang des unternehmerisch tätigen Staates. Privatisierungspolitik in Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland, Heidelberg 2005, S. 150-157, S. 203ff.

[27] Roland Czada, Das Erbe der Treuhandanstalt, in: Otto Depenheuer/Karl-Heinz Paqué (Hg.), Einheit – Eigentum – Effizienz, Heidelberg 2012, S. 125-146, hier S. 137-142.

[28] Vgl. etwa Doering-Manteuffel/Raphael, Nach dem Boom (Anm. 5), S. 94-97; Wirsching, Preis der Freiheit (Anm. 6), S. 256-260; Edgar Wolfrum, Rot-Grün an der Macht. Deutschland 1998–2005, München 2013, S. 138-213, S. 528-583.

[29] Siehe am Beispiel der Chemiefaserindustrie den Beitrag von Christian Marx in diesem Heft. Vgl. auch Werner Plumpe, Das Ende des deutschen Kapitalismus, in: WestEnd 2 (2005) H. 2, S. 3-26.

[30] Susanne Lütz, Der Staat und die Globalisierung von Finanzmärkten. Regulative Politik in Deutschland, Großbritannien und den USA, Frankfurt a.M. 2002.

[31] Vgl. dazu den Beitrag von Alexander Engel in diesem Heft.

[32] Hans-Jürgen Bieling/Christina Deckwirth/Stefan Schmalz (Hg.), Liberalisierung und Privatisierung in Europa. Die Reorganisation der öffentlichen Infrastruktur in der Europäischen Union, Münster 2008; Hartmut Häußermann/Dieter Läpple/Walter Siebel, Stadtpolitik, Bonn 2008, S. 279-300; Ross Beveridge, A Politics of Inevitability. The Privatisation of the Berlin Water Company, the Global City Discourse, and Governance in the 1990s Berlin, Wiesbaden 2012; Andreas Etling, Privatisierung und Liberalisierung im Postsektor. Die Reformpolitik in Deutschland, Großbritannien und Frankreich seit 1980, Frankfurt a.M. 2015; Karl Lauschke, Staatliche Selbstentmachtung. Die Privatisierung von Post und Bahn, in: Frei/Süß, Privatisierung (Anm. 11), S. 108-123.

[33] Hans Günter Hockerts, Vom Wohlfahrtsstaat zum Wohlfahrtsmarkt? Privatisierungstendenzen im deutschen Sozialstaat, in: Frei/Süß, Privatisierung (Anm. 11), S. 70-87, hier S. 74f., S. 86.

[34] Vgl. etwa die zugespitzte Darstellung von Richard Münch, Akademischer Kapitalismus. Über die politische Ökonomie der Hochschulreform, Frankfurt a.M. 2011.

[35] Vgl. den Beitrag von Dieter Plehwe und Matthias Schmelzer in diesem Heft.

[36] Vgl. Walter Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen 1952, gekürzte Tb.-Ausg. Hamburg 1959, S. 50-53, S. 124ff.

[37] Vgl. Marcus Böick/Angela Siebold, Die Jüngste als Sorgenkind? Plädoyer für eine jüngste Zeitgeschichte als Varianz- und Kontextgeschichte von Übergängen, in: Deutschland Archiv 44 (2011), S. 105-113.

[38] Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007.

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