Was vor einigen Jahren ein Schreckensszenario war, ist längst eingetreten. Für den wissenschaftlichen Nachwuchs gilt schon heute: »Quod non est in google, non est in mundo.« Freilich, eine verkürzte Sicht. Der Aufbau elektronischer Findmittel zur Durchforstung von Archiv-, Bibliotheks- und Museumsbeständen hat in den vergangenen Jahren ein starkes wissenschaftliches Interesse gefunden. Die Gesellschaft vernetzte sich, es entstanden viele nützliche Service-Angebote, neue Begehrlichkeiten wurden geweckt. Heute geht es nicht mehr darum, Inhalte nur zu erschließen, sondern darum, sie online zu vermitteln. In sozialen Medien werden diese Inhalte »getaggt«, »geliked«, empfohlen oder gar kommentiert. Die sammelnden Institutionen stehen damit vor einer gewaltigen Herausforderung – technisch, finanziell und vor allem konzeptionell. Mit dem Aufkommen von Bits und Bytes befindet sich die Kulturtechnik des Sammelns und Präsentierens in einem tiefgreifenden Umbruch. Der digitale Wandel impliziert die Frage, ob Gedächtnisinstitutionen künftig noch derselbe Stellenwert zukommen wird, zukommen muss wie heute: Schaffen entmaterialisierte Kulturgüter eine neue Kulturgesellschaft?
In der spezielleren Frage, wie Bildbestände im Rahmen von Digitalisierungsprojekten bewertet werden können, geht es neben der Vorauswahl darum, die entsprechenden Bestände nachkommenden Generationen intakt bereitzustellen. Ein Konsens besteht darin, dies hybrid zu tun. Die Erschließung und Vermittlung der Inhalte erfolgt mittels digitaler Derivate, während die Originale konservatorisch betreut erhalten und vor häufigem Zugriff geschützt werden. Dies wird man so lange tun, bis die zur Verfügung gestellten Ressourcen erschöpft sind oder die Kulturgüter schließlich zerfallen: »[D]as Quellenproblem der audiovisuellen Archive löst sich durch Verrottung, Inkompetenz und durch einen zu geringen Bewußtseinsgrad […] von selbst. [...] Wir sind drauf und dran, die Endprodukte zu verlieren, und wir sind nicht in der Lage, die Entstehungsgeschichte dokumentieren zu können«,[1] so der Medienhistoriker Peter Dusek 1999 über die schlechten konservatorischen Bedingungen, unter denen hochsensibles AV-Material zumeist gelagert wurde und wird. Flächendeckende Digitalisierungsprojekte sind dort, wo Gefahr im Verzug ist und analoge Kulturgüter nicht mehr erhalten werden können, adäquate Rettungsmaßnahmen. Bei allen anderen Beständen wird jede Bewertungsentscheidung zu einer Differenz zwischen analogem Bestand und digitaler (Re-)Präsentation führen. Im digitalen Zeitalter ist die fehlende Konkordanz einem langfristigen Erkenntnisverlust gleichzusetzen, es entstehen Verzerrungen. Damit stellt sich die Frage, nach welchen Regeln solche Bewertungsentscheidungen getroffen werden sollen.
Erreichen Bildprodukte das Ende ihres ursprünglich intendierten Lebenszyklus oder werden sie diesem entrissen, so landen sie bestenfalls in einer Gedächtnisinstitution.[2] Aus deren Überlieferungsprozessen resultiert eine visuelle Datenbasis – neben schriftlichen Quellen also im archivwissenschaftlichen Wortlaut als »Ergänzungsleistung« bezeichnete Materialien wie Fotografien, Ton- und Filmdokumente, die kommende Generationen zur Überprüfung ihrer Gegenwart heranziehen werden. Im Unterschied zur schriftlichen Überlieferungsbildung, die Hilfsmittel wie Aktenpläne und konsensfähige Bewertungsmethoden kennt, gelten solche Methoden für (audio)visuelles Material als Forschungsdesiderat. Grundsätzlich ist zu fragen, ob bisherige Sammlungsstrategien zu einer visuellen Datenbasis führen, welche die jeweilige Gesellschaft repräsentativ abbildet oder nicht. Entsprechen die Sammlungsergebnisse dem Stellenwert, den Bilder in der Gesellschaft haben? Dies wäre eine Zielsetzung, an der sich Sammlungsstrategien, seien sie analog oder digital, bemessen lassen könnten. Bibliotheken und Archive handeln dabei, ihrer Entwicklung und ihren gesetzlichen Grundlagen entsprechend, auf unterschiedliche Art und Weise.
Lange Zeit galt die Bibliothek als »Einrichtung, die unter archivarischen, ökonomischen und synoptischen Gesichtspunkten publizierte Informationen für ihre Benutzer sammelt, ordnet und verfügbar macht«.[3] Ihrem ordnungssystematischen Verständnis folgend tun Bibliotheken dies in der Praxis überwiegend pertinent. Bücher, Zeitschriften, Musik und audiovisuelle Medien werden thematisch gesammelt und aufgestellt. Das Ziel dieser Methode besteht darin, Nutzerbedürfnissen gerecht zu werden und sich damit Aushebungsarbeit zu erleichtern. In Zeiten analoger Zettelkästen sparte man sich zudem Querverweise. Aus der bildwissenschaftlichen Forschung ist jedoch bekannt, wie wichtig zusammenhängende, intakte Bestände sind. Es verbreitet sich die Erkenntnis, dass Bildbestände – wo dies möglich ist – für die Forschung in ihre ursprüngliche, provenienzorientierte, also herkunftbezogene, Form zurückgeführt werden sollten. Derzeit wirkt kurioserweise das Pertinenzprinzip in der digitalen Gegenwart fort. Aber wozu? Digitale Archive benötigen weder das Pertinenz- noch das Provenienzprinzip, relationale Datenbanken funktionieren »anders« – zum Auffinden der Information sind diese Strukturen nicht mehr notwendig, sie müssen in der digitalen Welt lediglich beide such- und darstellbar sein. Nach der Digitalisierung könnten also einst pertinent aufgestellte analoge Bestände in ihre Provenienz zurückgeführt werden, falls dies noch möglich ist.
Das Archiv hingegen kann als endgültiger Aufbewahrungsort für Dokumente definiert werden, welche aus Registraturen einzelner Institutionen hervorgegangen sind, in denen für aufbewahrenswert erachtetes Material gesichert, geordnet und verzeichnet wurde. Analoge Archivbestände werden, im Unterschied zu denen der Bibliotheken, möglichst provenienzorientiert überliefert und aufgestellt. Mit Blick auf die anzustrebende repräsentative Grundgesamtheit eines Datenbestands bietet diese Systematik den Vorteil, dass sich damit – in europäischen Archiven – 90 bis 95 Prozent der schriftlichen Überlieferungsbildung, bei vorausgesetzter Rechtssicherheit, kassieren lässt. In Abgrenzung dazu wird in Archiven unter »Sammlungen« solches Archivgut verstanden, »das ohne Berücksichtigung der Entstehungszusammenhänge unter inhaltlichen Gesichtspunkten zusammengestellt wird und die vorhandenen Bestände im Rahmen der aus der Geschichte des Sprengels entwickelten Dokumentationsziele ergänzt«.[4] Bildhafte Materialien werden im Normalfall als Sammlungsgut deklariert; sie werden in traditionellen Archiven meist nicht systematisch, sondern eher zufällig »gesammelt«. Häufig werden sie von ihren textlichen Kontexten getrennt und nach dem Pertinenzprinzip aufgestellt. Deshalb gingen Archive lange Zeit davon aus, dass die Bewertung von Fotobeständen den Aufwand nicht rechtfertige. Zumindest für Deutschland widerlegte der Historiker und Archivar Axel Metz diese Position.[5] Nun stehen wir vor analogen Bilderbergen und beschäftigen uns mit der Frage, wie diese zu bewältigen sind.
Es ist schwer vorstellbar, dass es eine Epoche gab, in der alles produzierte Bild- oder Schriftgut aufbewahrt wurde. Ungeachtet der durch Zufall und Katastrophen geschuldeten Verluste fragt man sich seit der Antike, welche Zeugnisse einer Zeit es »wert« sind, festgehalten und erinnert zu werden. Das dichotome Verhältnis zwischen Bewahren und Vernichten war und ist transitorischen Perspektiven kultureller wie diskursiver Wahrnehmung ausgesetzt, welche für die jeweilige Überlieferungsepoche prägend sind. Waren es einst Platznöte, die zu systematischen Bewertungsverfahren führten, so werden heute mögliche Lösungen unter dem Dogma chronischer Ressourcenarmut reflektiert. Fest steht: Der Kostenfaktor ist weniger die Digitalisierung eines Mediums selbst, sondern vor allem dessen wissenschaftliche Erschließung, die zur digitalen Vermittlung unumgänglich ist. Sie ist das qualitative Kernelement. Die hybride Strategie bedeutet zudem, dass die forschungsrelevante, analoge Erhaltung parallel weiterfinanziert wird. Klamme Kassen können jedoch nicht der primäre Maßstab aktueller Bewertungsentscheidungen sein; das grundsätzliche Ziel wird durch ein Sammlungskonzept oder einen gesetzlichen Dokumentationsauftrag definiert. Bewertungskriterien sind damit Hilfsmittel, welche dazu dienen, übergeordnete Ziele zu erreichen.
Letztendlich geht es in der Bewertungsfrage um die Beurteilung der Archivwürdigkeit. Auf der Suche nach einer Legaldefinition dieses Begriffs wird man in verschiedenen Gesetzgebungen fündig.[6] Beispielhaft genannt sei die Definition im Archivgesetz des Schweizer Kantons Zug. Sie ist umfassend, kurz und knapp: »Archivwürdig sind Unterlagen, die rechtlich, administrativ, politisch, wirtschaftlich, historisch, sozial oder kulturell wertvoll und für eine authentische Überlieferung wichtig sind.«[7] Aber sind solche Definitionen praxisrelevant, lässt sich damit überhaupt arbeiten? Wie sind sie auf audiovisuelle Kulturgüter anwendbar? Auf Bilder bezogen ließe sich vortrefflich darüber räsonieren, was eine »authentische Überlieferung« sein mag. Konsensfähig erscheint sicherlich, dass die digitale Kulturlandschaft auch die »Gegenbilder« des hegemonial determinierten Bilderkanons benötigt. Dies ist jedoch keine Frage der Bewertung, sondern eine Frage des Sammlungskonzepts und damit der Zielsetzung eines Archivs bzw. jeder Gedächtnisinstitution, die Fotografien sammelt.
Während Archive mit der Überlieferungsbildung bei provenienzorientierten Schriftgutbeständen viel Erfahrung haben, ist der Umgang mit Bildbeständen für Bibliotheken, Archive und Museen schwieriger. Hier fehlt es oft an konkret formulierten langfristigen Sammlungskonzepten. Die Bewertungsdebatte zur Fotografie wird in der Hoffnung geführt, Kosten zu sparen, da eine flächendeckende Digitalisierung der Bestände inklusive Erschließungsleistung unbezahlbar ist. Digitalisiert wird häufig das, was gefällt, nachgefragt wird oder publiziert werden kann. Andernorts nennt man diese ökonomische Strategie auch »Quote«. Die Zusatzkosten der Digitalisierung lassen sich damit rechtfertigen. Für die jeweils zu überliefernde Zeitperiode kann dies zwar zu keiner repräsentativen »visuellen Datengrundlage« führen. Das Vorgehen sagt jedoch sehr wohl etwas über die Gegenwart, über unsere Gesellschaft aus.
Der Museologe und Kulturwissenschaftler Gottfried Korff schreibt Zeichenträgern intrinsische Eigenschaften zur Veranlassung von Erinnerung und damit eine identitätsstiftende Funktion zu, eine »Erinnerungsveranlassungsleistung«.[8] Der Fotografie ist diese Leistung inhärent. Eine Fotografie belegt, dass etwas existiert(e), liefert jedoch keinen Aufschluss darüber, wie etwas existiert(e). Sie (re)präsentiert nicht Anwesendes und erzeugt eigenständige Bildereignisse, die weder Geschichte abbilden noch vergangene Momente zitieren. Aufgrund der komplexen Fähigkeit, zwischen mentalen und materialisierten Bildern zu vermitteln, erzählen Fotos keine Geschichte; vielmehr konstituieren sie diese. Bildinformationen können akkumuliert wahrgenommen, dekontextualisiert, mental erinnert oder latent vergessen werden. Bildinformationsträger werden demnach von Beobachtern mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen und interpretiert. Damit entstehen hohe Bewertungsanforderungen: erstens an die Überlieferungsbildung fotografischer Bestände, zweitens an das bewertende Personal, das sich der medieninhärenten Erinnerungsveranlassungsleistung nicht entziehen kann und sicherstellen muss, dass die Verdichtung zu keinen Bedeutungsverschiebungen innerhalb des zu bewertenden Bestands führt, die drittens für spätere Benutzer epistemologisch bedeutsame Folgen haben können. Die Erinnerungsveranlassungsleistung jeder Bildbeobachtung manifestiert sich im oszillierenden Prozess zwischen Rezeption und Perzeption.
Der kanadischen Fotohistorikerin und Archivarin Joan M. Schwartz war dieser Sachverhalt bereits vor 20 Jahren bewusst, als sie ihre Berufskollegen aufforderte: »[R]ecognize that archival value in photographs resides in the interrelationships between photographs and the creating structures, animating functions, programmes and information technology that created them.«[9] In dasselbe Horn blies einige Jahre später der langjährige Leiter des Historischen Archivs des Süddeutschen Rundfunks bzw. des Südwestrundfunks, Edgar Lersch, als er eine tiefe Kluft zwischen klassischen Archivstandards zur Überlieferungsbildung und denen von Medienarchiven konstatierte.[10] Die Aufgabe der Letzteren sei es, visuelle Zeichenträger so zu archivieren, dass das scheinbar Vergessene adäquat erinnert und erforscht werden könne – ohne die Erkenntnishorizonte visueller Quellen zu verengen, ja gar auf deren illustrative Funktion zu begrenzen. Lersch hielt fest, dass in diesem Sektor erhebliche Versäumnisse vorlagen, was er unter anderem auf die Tradition des bibliothekarisch-dokumentarischen Sammlungsgedankens einzelner isolierter Stücke zurückführte sowie auf die Tatsache, dass ganze Provenienzen nur sehr selten übernommen werden. Dadurch werden visuelle Datenträger nur auf eine fragmentarische Weise überliefert, welche den Herstellungsprozess und den breiteren Zusammenhang nicht adäquat dokumentiert.
Hiermit wird deutlich, dass die der Gesellschaft zur Verfügung stehende visuelle Datenbasis weder verzerrt noch inhaltlich eingeschränkt werden darf. Andernfalls ist das Erkenntnispotential nicht gegeben. Will man die realen Folgen von Bewertungskriterien bei Digitalisierungsprojekten beurteilen können, so erfordert dies neben klaren Überlieferungszielen auch den entsprechenden Sachverstand. Zusätzlich zur gängigen Archivtheorie und -praxis bedarf es qualifizierter Beobachter, die über profunde bildwissenschaftliche, fotohistorische und -konservatorische Kenntnisse verfügen. Erst damit ließen sich die Folgen valider und zuverlässiger Bewertungskriterien beurteilen. Empirische Studien zu diesem Thema sind, soweit ich sehe, nach wie vor ein Forschungsdesiderat. In Abgrenzung zu bunten Bildersammlungen wie Flickr oder Instagram, die einen wesentlichen Anteil an der populären Bildkultur haben, könnte die fundierte Darstellung wechselwirkender Kontext- und Bedeutungsschichtungen von Bilddokumenten ein Alleinstellungsmerkmal für Gedächtnisinstitutionen werden. Eine digitale Kulturlandschaft könnte damit mehr sein als die Summe ihrer Einzelteile: ein Mehrwert. Und erst damit lassen sich die steuerfinanzierten Digitalisierungsinvestitionen rechtfertigen.
Während sich angloamerikanische Archivare seit Jahrzehnten mit Überlieferungsstrategien für visuelle Kulturgüter beschäftigt haben,[11] wurde die Frage nach Bewertungskriterien im deutschsprachigen Raum nur selten gestellt. Überlieferungen wurden ganz oder gar nicht getätigt.[12] In der Folge entstanden Pflichtabgabeforderungen für Bilder und audiovisuelle Medien im Allgemeinen.[13] Solche Regelungen, wie sie aus dem Bibliotheksbereich bekannt sind, lösen das Bewertungsproblem jedoch nicht, sie verschieben es nur. Der Philosoph Manfred Sommer hat darauf verwiesen, dass sich der Gatherer vom Collector darin unterscheide, dass das Sammlungsschema des Collectors nicht allein subjektive Leistungen, sondern überdies objektive Bedingungen festlege.[14] Eben dieser feine Unterschied findet sich in angloamerikanischen Sammlungskonzepten wie der Documentation Strategy oder dem Macro-Appraisal-Ansatz.[15] Sie gehen von einer übergeordneten Sammlungshypothese aus, einem selbstgestellten Sammlungsauftrag. In einer spezifizierten Zeitperiode wird institutionsübergreifend (Gallery, Library, Archive, Museum, kurz: GLAM) auf die jeweilige Hypothese bezogen gesammelt, digitalisiert, erschlossen, vermittelt und archiviert.[16] Erfolgreiche Bewertungsstrategien beruhen damit auf der vorarchivischen Bedeutungszuweisung identifizierbarer Kontextualisierungsschichten. Gegenwärtig scheint jedoch nicht die Entwicklung konziser Sammlungskonzepte, sondern »Selektion« die auserkorene Methode zu sein, um den Herausforderungen der Bilderflut zu begegnen.
Die für schriftliche Bestände am häufigsten eingesetzte Methode zur Prüfung der Archivwürdigkeit basiert auf dem Verständnis des amerikanischen Archivars Theodore R. Schellenberg. Er ging davon aus, dass die Überlieferung einer Provenienz (die eine Person, eine Organisation oder Institution sein kann) aus ihren Handlungen, aus der Wahrnehmung ihrer Funktion oder aus der Verfolgung ihrer Ziele entstehe.[17] Schellenberg differenzierte zwischen einem Primärwert, welcher aus dem Wert eines Dokuments für die Provenienz hervorgehe, und dem Sekundärwert, welcher die längerfristige Bedeutung für den Benutzer umfasse. Letzterer erschließt sich durch den Evidenzwert und den Informationswert.[18] Der Evidenzwert wird anhand formaler Merkmale bestimmt, welche Aussagen über Abläufe und Verfahren der Ursprungsstelle zulassen: Ein Stempel auf dem Abzug, eine Signatur, das verwendete Fotopapier etc. können solche Merkmale sein. Sie sind für die Provenienz typisch und möglicherweise einzigartig. Sammlungs- und Überlieferungsgeschichten von Bildbeständen sind damit unentbehrlich. Zur Beurteilung des Informationswerts überprüft man die Aussagekraft im Hinblick auf Personen, Orte, Objekte und Ereignisse, die handlungsentscheidend waren. Die Analyse des Informationswerts umfasst den möglichen Unikatcharakter in Umfang und Zugänglichkeit, den physischen Erhaltungszustand sowie die Beurteilung der Information im historischen Kontext. Während der Evidenzwert etwas logisch Formales ist, ergibt sich der Informationswert eher aus einer Bedeutungszuweisung des Beobachtenden.[19] Ziel dieser Methode ist es, Parallelüberlieferungen auszuschließen und Dokumente systematisch auf ihre Werte zu überprüfen. (Bild-)Material, das dieser Prüfung standhält, kann anschließend durchdigitalisiert und erschlossen werden.
Verhältnismäßig geringe Mengen an fotografischen Beständen sind jedoch so intakt und so gut dokumentiert, dass sie sich mit dieser Methode bewerten lassen. Die als »Lückenfüller« überlieferten Bildersammlungen, die es vor der Digitalisierung zu bewerten gilt, weisen den dazu notwendigen archivischen Charakter meistens nicht auf. Was also tun? Vor einer möglichen Bewertungsentscheidung gilt es, die Überlieferungs- und Bestandsgeschichte in Erfahrung zu bringen, die vorliegende Bestandssystematik zu erkennen und zu verstehen. Sind die Bestände bereits in einem elektronischen Findmittel erfasst, so sind die möglicherweise bei der Überlieferung praktizierte Bewertungsmethode sowie deren Kriterien in Erfahrung zu bringen. Anzustreben ist Klarheit darüber, welche Dokumentationslücke durch die entsprechende Übernahme »gefüllt« werden sollte.[20] Ebenso relevant ist die Frage, was und warum nicht überliefert wurde. Ist diese Vorprüfung erfolgt, kann der zu digitalisierende Bestand ausgedünnt werden. Duplikate, wenn es denn wirklich solche sind, können kassiert werden. Praktisch wird das aussagekräftigere Exemplar erhalten, oder dasjenige, welches über den besseren Erhaltungszustand verfügt. Abzüge erstellte man nicht grundlos, man verfolgte eine Intention. Diese lässt sich oft aus der differenzierten Beobachtung zwischen Negativen und deren entsprechenden Abzügen herausarbeiten. Entscheidend wird dann die Frage sein, ob man Abzüge oder Negative digitalisiert, ob Letztere dem Benutzer negativ oder invertiert zur Verfügung gestellt werden sollen. Für Archive ist die Sachlage klar: Wer sich der Authentizität und Evidenz verpflichtet fühlt, wird Negative auch digital als Negative erstellen – so ist der Quellenwert gewahrt. Soll ein Digitalisierungsprojekt breitere Kommunikationszwecke erfüllen, wird man Negative wohl invertiert darstellen müssen. Damit manifestiert sich das eigentliche Dilemma, der Verwendungszweck. Als Quellen dienen Fotografien der Wissensgenerierung, gleichwohl wurden sie bisher überwiegend zur Illustration eingesetzt. Beide Verwendungszwecke sind legitim. Im Spannungsbogen zwischen diesen beiden inhaltsorientierten Polen sind »objektive«, reliable Bewertungskriterien eher unwahrscheinlich. Aus einer konstruktivistischen Perspektive betrachtet ist es wesentlicher, die Rahmenbedingungen und Beweggründe der Übernahmeentscheidung, deren Kassationsverfahren und Bewertungskriterien zu kennen. Sie sind nachvollziehbar zu dokumentieren. Auch das ist Zeitgeschichte; wir sprechen über die Deutungshoheit hinsichtlich der visuellen Datenbasis.
Was benötigt die Gesellschaft heute, und was wird sie einige Generationen später benötigen? Fotografische Bestände bieten künftigen Generationen einen affektiv geprägten Zugang, damit sie ihre Fragen an unsere Zeit verlässlich und im Kontext mit der schriftlichen Überlieferung beantworten können. Dazu ist es notwendig, dass visuelle und audiovisuelle Materialien in Gedächtnisinstitutionen mit ebensolcher Sorgfalt wie Schriftgut behandelt werden. Deren historische, soziale oder kulturelle Werte sind für die Gesamtüberlieferung sicherzustellen. Das heißt, dass nicht nur die Sammlungs-, Bewertungs-, Digitalisierungs- und Erschließungskriterien transparent gemacht, sondern auch aussagekräftige, nachvollziehbare Metadaten bereitgestellt werden müssen. Ein wesentlicher Beitrag zur Erhaltung unseres fotografischen Kulturerbes wird möglicherweise jedoch nicht in der endgültigen Klärung der Bewertungsfrage liegen, sondern in der Bereitstellung zukunftsweisender Datensätze. Linked Open Data bietet die Möglichkeit, Daten unabhängig von einer bestimmten Datenbank oder Kommunikationsplattform zu denken. Ein »nachhaltiger« Datensatz müsste seine semantischen Relationen selbst beherbergen. Wie dies genau aussehen könnte, wäre ein lohnendes Thema weiterer Debatten.
Anmerkungen:
[1] Peter Dusek, Das gefährdete audiovisuelle Erbe. Anmerkungen eines Medienhistorikers, in: International Council on Archives (Hg.), Basic Archival Problems. Strategies for Development, München 1999, S. 199-208, hier S. 203.
[2] In den letzten Jahren kam es in der Schweiz zu größeren Überlieferungen von Pressebildbeständen, etwa dem Ringier-Bildarchiv. Die 2013 gegründete Arbeitsgruppe Pressebildarchive (PBA) hat zum Ziel, mit ihren Beständen einen Beitrag zur Schweizer Memopolitik zu leisten. Vgl. <https://www.ag.ch/media/kanton_aargau/bks/dokumente_1/kultur/ringierbildarchiv_1/BKSRBA_2013-09-09_Ziel_und_Zweck_der_PBA_D.pdf>. Anm. der Red.: Siehe auch den Beitrag von Mirco Melone in diesem Heft.
[3] Gisela Ewert/Walter Umstätter, Die Definition der Bibliothek. Der Mangel an Wissen über das unzulängliche Wissen ist bekanntlich auch ein Nichtwissen, in: Bibliotheksdienst 33 (1999), S. 957-971, hier S. 966.
[4] Gunnar Teske, Sammlungen und nichtamtliche Überlieferung, in: Norbert Reimann/Brigitta Nimz (Hg.), Praktische Archivkunde. Ein Leitfaden für Fachangestellte für Medien- und Informationsdienste, Fachrichtung Archiv, Münster 2014, S. 143-167, hier S. 143 (meine Hervorhebung).
[5] Axel Metz, Nicht jedes Bild sagt mehr als tausend Worte – Ein Beitrag zur Bewertung von Fotobeständen, Transferarbeit im Rahmen der Ausbildung zum Höheren Archivdienst, Stuttgart 2007, URL: <http://www.landesarchiv-bw.de/sixcms/media.php/120/42632/Transferarbeit_Metz.pdf>.
[6] Für die Bundesrepublik Deutschland z.B. im Bundesarchivgesetz, siehe <https://www.bundesarchiv.de/bundesarchiv/rechtsgrundlagen/bundesarchivgesetz/index.html.de>.
[7] <http://bgs.zg.ch/frontend/versions/1329>, § 2 Abs. 2.
[8] Gottfried Korff, Bildwelt Ausstellung. Die Darstellung von Geschichte im Museum, in: Ulrich Borsdorf/Heinrich Theodor Grütter (Hg.), Orte der Erinnerung. Denkmal, Gedenkstätte, Museum, Frankfurt a.M. 1999, S. 319-335, hier S. 330.
[9] Joan M. Schwartz, »We make our tools and our tools make us«. Lessons from Photographs for the Practice, Politics, and Poetics of Diplomatics, in: Archivaria 40 (1995), S. 40-74, hier S. 50.
[10] Edgar Lersch, Historische Medienarchive: Überlegungen zur archivwissenschaftlichen Theoriebildung in der Medienüberlieferung, in: Der Archivar 53 (2000), S. 27-34, hier S. 28.
[11] Besonders hervorzuheben ist hier das frühe und einflussreiche Werk von Theodore R. Schellenberg, Modern Archives. Principles and Techniques, Chicago 1956.
[12] Vgl. Josef Zwicker, Erlaubnis zum Vernichten. Die Kehrseite des Archivierens, in: Arbido 19 (2004) H. 7/8, S. 18-21; Bodo Uhl, Bewertung von Archivgut. Der Wandel in der archivischen Bewertungsdiskussion, in: Der Archivar 43 (1990), S. 529-538.
[13] Vgl. z.B. das Interview mit Martin Körber, dem Leiter des Archivs der Stiftung Deutsche Kinemathek, in: Deutschlandradio, 9.1.2008, URL: <http://www.deutschlandradiokultur.de/koerber-pflichtabgabe-einer-kopie-fuer-filme-einfuehren.1013.de.html?dram:article_id=167583>.
[14] Manfred Sommer, Sammeln. Ein philosophischer Versuch, Frankfurt a.M. 1999, S. 47-52.
[15] Einen Überblick zur Entstehung der Documentation Strategy liefert Richard J. Cox, Archival Documentation Strategy, a Brief Intellectual History 1984–1994, and Practical Description, in: Janus 2/1995, S. 76-93. Den Macro-Appraisal-Ansatz beschreibt Terry Cook, Macro-Appraisal and Functional Analysis: Documenting Governance rather than Government, in: Journal of the Society of Archivists 25 (2004), S. 5-18.
[16] Mit der archivübergreifenden Bewertung beschäftigte sich in Deutschland vor allem der Archivar und Historiker Robert Kretzschmar, der den vergleichbaren Ansatz der »vertikale[n] und horizontale[n] Bewertung« in Baden-Württemberg praktiziert: Robert Kretzschmar, Archivübergreifende Bewertung. Zum Ertrag einer Tagung, in: Der Archivar 54 (2001), S. 284-290.
[17] Schellenberg, Modern Archives (Anm. 11).
[18] Angelika Menne-Haritz, Schlüsselbegriffe der Archivterminologie. Lehrmaterialien für das Fach Archivwissenschaft, 2. Aufl. Marburg 1999, S. 56.
[19] Kunsthistoriker/innen kennen hier die Befundsicherung, Verfahren der Zuschreibung, die Bildsprache oder den Duktus eines Werks. Die ikonographische Analyse ist mit der Ermittlung des Informationswerts vergleichbar.
[20] Dieser bedeutende Prozessschritt kann zeitaufwendig ausfallen und finanzielle Ressourcen binden; am Beispiel des Ringier-Bildarchivs wird dies besonders deutlich (vgl. Anm. 2). Das Projekt läuft bereits über 7 Jahre. Die erste Phase zur Sicherung und Evaluierung von 2009 bis 2013 kostete knapp eine Million Schweizer Franken.