- Einzelne Gliederungen in Gewohnheit vereint: Der Sängerumzug 1926
- Raumgreifen: Das SA-Sportfest 1933
- Ungewohntes als Kontinuität inszeniert: Das Erntedankfest 1933
- Einzelgliederung jenseits des großen Ganzen: Der Handwerkertag 1933
- Alte und neue Gemeinschaften vereint: Das Feuerwehrfest und der Kriegertag 1934
- Fazit
Nach Fotografie als Praxis im spezifischen historischen Kontext einer Diktatur zu fragen legt die Annahme nahe, dass das Fotografieren unter diktatorischen Regimen ein anderes sei als in demokratischen Systemen. Als die Nationalsozialisten im Januar 1933 die Macht im Deutschen Reich übernahmen, setzten sie die Fotografie zweifelsohne in ganz besonderer Form auf ihre politische Agenda: Auf die Einrichtung des Propagandaministeriums, das große Ressourcen für den Bereich Fotografie abstellte, folgte bald ein kulturpolitischer Plan, der die zusätzliche Vereinnahmung der Privat- und Amateurfotografie für die nationalsozialistische Idee vorsah.[1]
Bereits seit den späten 1920er-Jahren hatten breitere Bevölkerungsschichten infolge der Entwicklung neuer, erschwinglicher Kameras Zugang zur Fotografie und nutzten sie fortan als alltägliches Medium in unterschiedlichen sozialen Situationen.[2] Diese Bilder liegen uns heute als Rezeptionsquellen historischer Lebenswelten vor; in ihnen zeigt sich ein Verhältnis zu den Gegenständen und Szenen, die sie abbilden. Um die zeitgenössischen Bildpraktiken auf einen Niederschlag politikgeschichtlicher Zäsuren hin untersuchen zu können, erscheint es besonders lohnend, Schwellenmomente in den Blick zu nehmen, also jene historiographischen Bruchstellen, die den Übergang von der Demokratie in die Diktatur markieren. In den Aushandlungsprozessen, die sich um die neuen politischen Anforderungen auch und gerade an alltägliche Lebenswelten entsponnen, kommt der Fotografie – als Rezeptionsform[3] sowie aufgrund ihres spezifischen medialen Ordnungspotentials[4] – eine Schlüsselrolle zu: In Fotos setzten sich die Zeitgenossen und Zeitgenossinnen zu lebensweltlichen Veränderungen wie Kontinuitäten in ein Verhältnis und gestalteten diese aktiv mit.
Ein aussichtsreiches Untersuchungsfeld, um der Frage der Wirkmacht von Fotografie in lebensweltlichen Aushandlungs- und Aneignungsprozessen nachzugehen, bietet das Fest. Zum einen waren Feste bereits seit der Frühphase der Fotografie ein Anlass, Bilder zu machen; zum anderen diente Festkultur genau wie die Fotografie dem NS-Regime als Anknüpfungspunkt für die Einführung politischer Ideologie in private und lokale Lebenswelten. Als performative Selbstvergewisserungsakte boten Feste sozialen Gemeinschaften seit jeher die Möglichkeit, bestehende Konstellationen zu bestätigen oder neue zu proben.[5] Die Vereinnahmung der traditionellen lokalen Festbräuche durch den nationalsozialistischen Festkult, die sich in der Einführung eines neuen Festkalenders sowie konkreten Direktiven zur lokalen und regionalen Festgestaltung ausdrückte, gilt breiten Teilen der Forschung als erfolgreich.[6]
Albert Gehring, ein 1897 geborener Einwohner des Ortes Ditzingen, fotografierte in den Jahren 1924 bis 1935 das Kleinstadtleben seiner etwa 4.500 Einwohner zählenden schwäbischen Heimat. Ditzingen setzte sich aufgrund der agrarischen Lage und gleichzeitigen Nähe zur Industriestadt Stuttgart aus dem arbeiterschaftlichen sowie landwirtschaftlichen Milieu zusammen; darüber hinaus war die Bevölkerung des Ortes traditionell durch den Pietismus und dessen Riten geprägt.
Als Autodidakt, der in den frühen 1920er-Jahren zu einer Glasplattenkamera gekommen war, bescherte Gehring durch die Herstellung von Auftragsporträts dem Schreibwarenladen seines Vaters eine Nebeneinkunft.[7] Davon abgesehen galt sein fotografisches Interesse jedoch vor allem den lokalen Ereignissen seines Heimatortes – auch und besonders der Ditzinger Festkultur.[8] Sein Nachlass, der als Dachbodenfund in den 1990er-Jahren (und damit mehrere Jahrzehnte nach Gehrings frühem Tod 1938) ins örtliche Stadtarchiv gelangte, schließt offenkundig die Zäsur des Jahres 1933 ein – und lässt somit ein Vorher und Nachher des politischen Einbruchs der nationalsozialistischen Machtübernahme sichtbar werden.[9] In Gehrings Bildern, so meine These, drücken sich Positionen zu möglichen Veränderungen und Kontinuitäten der Ditzinger Festkultur aus – wobei »Position« hier sowohl konkret technisch-räumlich verstanden werden soll, als Standpunkt der Kamera, und zugleich als subjektive Haltung des Fotografen zum Geschehen.[10] Denn Fotografie ist immer auch visuelle Ausdrucksform und nicht allein Aufzeichnungsinstrument. Der vorliegende Aufsatz versteht sich als analytische Annäherung an die visuellen Positionen des Quellenbestandes. Unter Berücksichtigung der unaufhebbaren Polyvalenz von Bildmedien soll ein Beitrag zu einer Visual History der NS-Zeit geleistet werden. Wo liegen Potentiale und Grenzen wortwörtlicher Standortbestimmungen von Amateurfotografen für die Geschichtswissenschaft?
Albert Gehrings Festfotografien sind vielfältig. Wiederkehrend ist sein Interesse an der Abbildung der örtlichen Festumzüge: In den Jahren 1926 bis 1934, sowohl vor als auch nach der politischen Zäsur, fanden sich im schwäbischen Ditzingen zu verschiedenen feierlichen Gelegenheiten unterschiedliche Gruppen von Menschen zusammen, um gemeinsam durch die Straßen der Kleinstadt zu ziehen. Entlang einer jeweils festgelegten Route, mal von vielen, mal von wenigen Zuschauern flankiert, bewegten sie sich von einem Punkt zu einem anderen, trugen dabei Symbole zur Schau, musizierten oder übten sich im Gleichschritt. Die verschiedenen Feste, in deren Rahmen die Umzüge stattfanden, besaßen ganz unterschiedliche inhaltliche Implikationen. Und doch eint das gemeinschaftliche Durchschreiten des Raumes als spezifische Praxis die differierenden Anlässe.[11]
Bei der Praxis des festlichen Umzuges handelt es sich um ein Element von Festkultur, das nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in besonderem Maße neue politische Implikationen erhielt. Häufig ist es in der Literatur als die Grundform nationalsozialistischen Kultes und als erfolgreiches Mobilisierungsinstrument beschrieben worden.[12] Gehrings Fotografien lassen – auf exemplarischer, lokaler Ebene – eine differenzierte Perspektive auf die visuellen Aneignungsprozesse zu, die sich bei der Umdeutung der Praxis des Festumzuges durch den Nationalsozialismus entsponnen.[13] Haben sich die äußere Form der Umzüge, ihre Symbolik und Choreographie mit dem Machtwechsel 1933 verändert? Und geht mit dem möglichen Wandel auch eine veränderte Visualisierung durch den Fotografen Albert Gehring einher? Dies ist für den hier verfolgten Ansatz von besonderem Interesse. Die Ordnung des Bildes soll in ein Verhältnis zur Ordnung des Festes bzw. Festumzuges gesetzt werden, um somit Erkenntnisse über die Rolle von Fotografie in Prozessen von Mobilisierung und Partizipation an der Schwelle zur nationalsozialistischen Diktatur zu erlangen.
Dabei erweist sich der Umzug als Festform mit besonderem Ordnungsgrad als äußerst geeignet. Auch die ihm eigene Visualität, die besonders deutlich im Falle der Tableaux Vivants der Festwagen zu Tage tritt,[14] kann gewinnbringend ihrer Abbildung durch das Foto gegenübergestellt werden. Als öffentlicher Akt besitzt jeder Umzug per se eine politische Komponente. Im Durchschreiten des Raumes manifestieren sich politische Ansprüche und werden rituell sichtbar gemacht.[15] Doch sind diese Ansprüche keinesfalls monolithisch, ganz im Gegenteil: Es gibt Überlappungen von Interessen und Traditionen, die in Fotografien sichtbar werden können.
Theoretische Verbindungen zwischen Umzugs- und Fotopraxis lassen sich auf folgenden Ebenen ausmachen:
- Beide Praktiken teilen einen hohen Grad an Intentionalität – der Umzug hinsichtlich seiner absichtsvollen Gestaltung, was die Route, die Reihenfolge der Mitlaufenden und seinen Zeitpunkt anbelangt,[16] das Foto hinsichtlich der Bildgestaltung. Zugleich sind beide in ebenso hohem Maße vom Faktor der Kontingenz betroffen, von Zufall und Unregelmäßigkeit. So kann für beide Praktiken ein besonderes Spannungsverhältnis zwischen intendierter und empfangener Botschaft ausgemacht werden.
- Wie der Umzug den Raum definiert, den er durchschreitet, so besitzt auch das Foto eine Raum-ordnende Komponente: Es verbindet den Umzug auf bestimmte Weise mit seiner Umgebung – je nachdem, welche Perspektive, welcher Bildausschnitt gewählt wird. Während der Umzug aufgrund seiner Bewegung letztlich weniger räumlich als vielmehr zeitlich begrenzt ist, fixiert ihn das Foto, setzt ihm einen Rahmen und bindet ihn an seine punktuelle Umgebung.[17] Der Raum, den der Umzug durchschreitet, ist mit baulichen oder symbolischen Markierungen versehen und wird zugleich durch den festlichen Akt aufgeladen. Während es sich bei den baulichen Aspekten um konstante Phänomene handelt, markiert der Umzug das Temporäre, und die Fotografie hält die Zusammenkunft von Konstantem und Temporärem fest.[18] Der Raum, den der Umzug durchschreitet, ist zudem öffentlich – Öffentlichkeit ist eine notwendige Voraussetzung für jede Umzugspraxis. Fotografie setzt Öffentlichkeit fort, insofern sie meist gemacht wird, um später in unterschiedlichen Rahmen gezeigt zu werden.
- Das Foto kann Verhältnisse von Zuschauer- und Teilnehmerschaft abbilden, die Trennung, aber auch Vermischung von Beobachtern und Umziehenden.[19] Gleichzeitig markiert es stets selbst eine Zuschauerposition.[20]
45 Bilder aus dem Bestand Albert Gehring zeigen jeweils explizit einen Umzug in Bewegung. Neben dem Interesse an dieser speziellen Praxis kann durch die Eingrenzung auf einen motivischen Bildtypus eine Vergleichbarkeit gewährleistet werden. Methodisch soll eine Doppelbewegung erfolgen: Die dichte Beschreibung einzelner Fotos ermöglicht es, Perspektiven und Abbildungs-Stile herauszuarbeiten, die sich durch die Rückbindung an die jeweilige Serie, das heißt die gesamte Bildgruppe zum jeweiligen Umzug, reflektieren und validieren lassen.[21] Erkenntnisse werden demnach aus den Fotografien selbst herausgearbeitet, die hier nicht allein als Mittel der Tatbestandsaufnahme, als Lieferanten sozial- oder alltagsgeschichtlicher Informationen dienen sollen. Es gilt, ihre Qualität als technische Artefakte sowie als eigenwertige visuelle Formulierungen im Kontext sozialer Aushandlungsprozesse stark zu machen.[22]
1. Einzelne Gliederungen in Gewohnheit vereint:
Der Sängerumzug 1926
Als sich die Vereine des Strohgäuer Sängerbundes 1926 in Ditzingen zum Sängerfest versammelten, folgten sie damit einer langen Tradition. Seit ihrer Etablierung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts boten Sängerfeste einen Anlass für die Zusammenkunft lokaler Männergesangsvereine einer Region in einer jeweils ausgewählten Stadt. So durchquerten am 20. Juni 1926 verschiedene Sängergemeinschaften die Straßen des Gastgeberortes Ditzingen.[23] Vom Ablauf dieser Prozession geben Albert Gehrings Bilder einige Eindrücke. Vor allem jedoch nehmen sie eine spezifische Perspektive auf das Ereignis ein. Kamerastandpunkt und hochformatiger Bildausschnitt sind auf allen sechs Fotografien, die Gehring an diesem Tag anfertigte, gleich.[24]
Das erste Bild der Serie zeigt aus leicht erhöhter Perspektive einen Straßenzug, der durch eine Girlande und zwei zweigliedrige Banner geschmückt ist, deren Farben im Schwarz-Weiß-Bild nicht zu erkennen sind. Der Umzug kommt der Kamera entgegen, um dann links an ihr vorbei zu ziehen. Vorn läuft ein Spielmannszug aus 19 gleich gekleideten Musikern, die im Gleichschritt gehen, gefolgt von einem Auto mit offenem Verdeck und einer zweireihigen Gruppe von Frauen in weißer Kleidung, die auf der rechten Seite von zwei Männern in Frack, Zylinder und Schärpe flankiert werden.[25] Der Zug besitzt in diesem Bild, wie auch in allen fünf weiteren Bildern der Serie, kein sichtbares Ende; er könnte sich theoretisch noch weit in die Ferne ziehen, insofern er perspektivisch nach hinten verschwimmt und sich dadurch gewissermaßen in die Unendlichkeit verdichtet. Auffällig ist dagegen der freie Raum, den der Bildausschnitt vor der Kapelle eröffnet und der den Eindruck erweckt, es handle sich um die Spitze des Zuges. Hier scheint das Potential des Fotos als Imaginationsmedium auf, dessen Betrachterinnen und Betrachter stets über seine materiellen Ränder hinaus imaginieren, die Szene in ihrer Vorstellung fortsetzen. Das Foto liefert das Ziel des Zuges visuell nicht nur nicht mit, sondern lässt ihn in einen freien Raum schreiten. Dieser Bildeindruck wiederholt sich: Auch in anderen Bildern der Serie ist die der Kamera zuvorderst entgegenkommende Gliederung visuell nicht an den vorausgehenden Teil des Zuges angeschlossen, der Raum im Bildvordergrund bleibt frei.
Wie das im Ditzinger Stadtarchiv überlieferte Festbuch zum Sängerfest als komplementäre Textquelle verrät, vermischten sich im Festzug die regionalen Sängergruppen mit lokalen Vereinigungen aller Art.[26] Das Buch enthält die »Festzugs-Ordnung«, eine Liste mit den Gliederungen des Zuges und ihrer geplanten Reihenfolge. Es begegnen uns die Ditzinger Feuerwehr, der Radfahrer-Verein, ein Kriegerverein, Militärverein, Turn- und Sportverein sowie, last but not least, der Geflügelzuchtverein als marschierende Glieder des Zuges.
Was das Festbuch im Modus der Schriftlichkeit und der Präsentationsform der Liste als eindeutig vermittelt, zerfällt im Bild in disparate Versatzstücke.[27] Es muss ungewiss bleiben, zu welchen der Vereine und Gruppierungen die einzelnen Kapellen und Zugteilnehmer in den Bildern gehören, da sie sich zum Beispiel in ihrer Bekleidung kaum voneinander unterscheiden. Jenseits des Wer zeigen die Fotos ein Wie: Gehring stellt die verschiedenen Gliederungen des Zuges visuell frei, sie bleiben durch die unbesetzten Räume in den Bildvordergründen tendenziell unverbunden mit den ihnen vorangegangenen Zugteilen. So erscheinen sie einzeln, während sie – Richtung Bildhintergrund – zugleich sichtbar Teil des Zuges sind, der jedoch in keinem Foto als Ganzes erzählt wird. Gehrings fotografisches Interesse scheint mehr den Gliederungen als der Einheit des Zuges gegolten zu haben. Er schuf den einzelnen Vereinen, deren Embleme und Wimpel in den Fotos zwar für Uneingeweihte schwer erkennbar sind, von den Mitgliedern jedoch durchaus identifiziert worden sein dürften, einen Blick von außen auf ihren gemeinschaftlichen Marsch.
Dies berührt unmittelbar die Frage des Verhältnisses zwischen Teilnehmer- und Zuschauerschaft. Auffällig ist, dass Gehrings Bildserie eine Geschichte von äußerst wenigen anwesenden Zuschauerinnen und Zuschauern erzählt. Auf der rechten Straßenseite sind einige Kinder ins Bild gesetzt, die den Zug begleiten, sich ihm jedoch weder gestisch noch per Blick zuwenden. Auf der linken, gegenüberliegenden Straßenseite, weiter im Bildhintergrund und damit visuell deutlich weniger dominant als die Kinder, sind in allen sechs Bildern zwei Grüppchen erwachsener Menschen zu sehen, die sich eindeutiger als Zuschauer bestimmen lassen. Sie haben ihre Körper und Blicke auf den Zug ausgerichtet, dessen Vorbeimarsch sie beobachten. Aus einigen der Fenster, die zu sehen sind, lehnen sich Menschen und beobachten den Zug von oben herab. Unabhängig davon, ob an anderen Abschnitten des Zuges, an anderen Straßenecken mehr interessierte Beobachter gestanden haben mögen: Die Kameraposition ist so gewählt, dass nur wenige aufs Bild geraten.
Der Festzug zum Sängerfest am 20. Juni 1926 eignet sich die Straße, die er begeht, nicht an – so vermitteln es die Bilder. Dieser Eindruck resultiert einerseits aus der fotografischen Perspektive, die so gewählt ist, dass der Zug den Bildraum nicht ausfüllt, sondern vielmehr an den Rand gedrängt wird: Der Blickwinkel von schräg rechts lässt viel Platz zum rechten Straßenrand frei, er lässt den Zug schmal erscheinen und drängt ihn gewissermaßen perspektivisch an den Rand. Die Gebäude, die die Straße säumen, nehmen im Verhältnis genauso viel Platz ein wie die Straße selbst. Andererseits ist der Eindruck einer geringen räumlichen Dominanz des Zuges der Abwesenheit von sichtbaren Zuschauerinnen und Zuschauern geschuldet. Bei Umzügen, die anlässlich von Sängerfesten stattfinden, handelt es sich nicht um Ereignisse der Innerlichkeit, wie dies beispielsweise für Fronleichnamsprozessionen der Fall ist, die zwar die gleiche Form besitzen, doch in diesem Sinne nicht auf eine Zuschauerschaft ausgerichtet sind.[28] Die Sänger sowie Ditzinger Vereine dagegen scheinen sich durchaus zu zeigen; schon die Präsenz von Musik weist auf Kommunikation mit einem Außen hin. Dennoch wirkt es, als stelle der Festzug an diesem Tag vor allem eine selbstreferentielle Praxis dar. Gerade angesichts der Tatsache, wie viele verschiedene Gruppierungen der kleinstädtischen Gemeinschaft mitzogen, mag Teilnahme hier höherwertig gewesen sein als Zuschauen. Dies führt zuletzt zu der Frage, welche Form von Zuschauerschaft die Kamera repräsentiert. Die Perspektive der Bilder ist kaum personalisiert; im Foto bleibt unsichtbar, wo genau Gehring positioniert war, von wo er auf den Zug blickte. Seine Bilder schaffen gewissermaßen eine Öffentlichkeit, die sie – im Sinne der mangelnden sichtbaren Zuschauer – nicht abbilden. In chronistischer Manier bezeugt die Serie das Ereignis des gesamten Umzuges, während durch Gehrings fotografische Entscheidungen jedes Einzelbild zugleich eine mögliche separate Erinnerungsreferenz für die verschiedenen mitziehenden Vereine darstellt.
2. Raumgreifen: Das SA-Sportfest 1933
Ein Programm des SA-Sportfestes, das im Stadtarchiv Ditzingen archiviert ist, datiert das Ereignis auf den 17. September 1933.[29] Der Umzug, von dem vier Bilder existieren und der im Programm unter dem Begriff »Propagandamarsch« firmiert, sollte am Mittag stattfinden – nach einem morgendlichen Feldgottesdienst, der Verpflichtung der SA-Anwärter und Weihe der Sturmfahne, einem Handgranatenwerfen, einer Pause und einem Mittagessen sowie schließlich der Aufstellung der SA-Stürme für den Zug. An ihn schloss sich laut Plan eine Ansprache des Standartenführers an, gefolgt von mehreren Sportwettkämpfen und der Siegerehrung.[30]
Hatte Gehring den Umzug zum Sängerfest im Jahr 1926 von einer erhöhten Position aus fotografiert, so befand er sich nun auf Augenhöhe mit den Umziehenden. Es handelt sich um den gleichen Straßenzug, doch steht die Kamera an anderer Stelle; sie betrachtet Straße, Gebäude und Geschehen somit aus einer anderen Perspektive. Wieder ist sie am rechten Straßenrand positioniert, doch steht sie auf der Straße, wodurch die Umziehenden frontaler auf sie zukommen, um schließlich links an ihr vorbeizuziehen. Die Kamera setzt im querformatigen Ausschnitt die Gebäude auf beiden Straßenseiten mit ins Bild, die auf diese Weise eine Flucht formen, aus der der Zug hervortritt. Er erscheint hier visuell wie eine Welle, die aus der Häuserflucht der Kamera entgegenschwappt: Die Straße ist in der Breite vollkommen von Menschen ausgefüllt. Links gehen in ungeordneter Formation SA-Männer, von denen einige Trommeln tragen. Auf der rechten Seite, die im Schatten liegt, laufen Kinder, die die SA-Männer durch ihre große Menge und die gewählte Kameraperspektive beinahe an den Rand zu drängen scheinen. Viele der abgebildeten Personen sind in der Bewegung leicht verschwommen. Mehrere von ihnen schauen direkt in die Kamera, weil sie gut sichtbar auf der Straße platziert ist. In diesem Bild scheint sich der Zug die Straße anzueignen – er lässt keinen Raum zu den Rändern hin und würde Menschen, die dort stehen könnten, in seiner Bewegung mitreißen. In den anderen Bildern der Serie ist die Marschordnung der SA-Gliederungen und eines SS-Trupps ein wenig deutlicher erkennbar. Auch hier werden Kinder visualisiert, die ihren Zug begleiten. Eine der Fotografien zeigt wenige stehende Menschen am Straßenrand, die sich jedoch weit im Bildhintergrund befinden und vom Zug beinahe ganz verdeckt werden. Überwiegend erzählen Gehrings Bilder keine Geschichte von Zuschauern.[31] Fast alle potentiellen Zuschauer schließen sich dem Zug der SA an und rücken dabei nah an ihn heran, so dass sie letztlich als Teilnehmer visualisiert werden.
Die Ankündigung als »Propagandamarsch« im Festprogramm verdeutlicht bereits die gewünschte Außenwirkung des Umzuges, der zeitlich in die Hochphase der SA fällt. Der Marsch als solcher war nicht der erste dieser Art in Ditzingen. Bereits für den 1. sowie den 22. August 1931 ist ein Marsch des regionalen SA-Sturms durch den Ort in den Registraturakten des Stadtarchivs dokumentiert.[32] Letzterer fand unter der Auflage statt, dass er »ohne Lärm und in Zivilkleidung der Teilnehmer zu erfolgen« habe. Innerhalb des Ortes dürfe »nicht gesungen oder gelärmt werden«.[33] Beide Märsche, so ist ebenfalls vermerkt, seien ruhig verlaufen.[34] Im Jahr 1932 sind für den 3. sowie den 17. Juli ebenfalls SA-Märsche durch Ditzingen belegt. Während die Verantwortlichen in den Ersuchen zur Genehmigung ihrer Umzüge im Vorjahr noch von sich aus erklärten, dass man »ohne Armbinden, Abzeichen, Fahnen, u.s.w.« aufmarschieren werde,[35] kündigten sie 1932 »Musik, Trommeln und Pfeifen« an.[36]
Wie die SA als Untergliederung der NSDAP besaßen in den Jahren 1931/32 auch die Kommunisten im Ort durchaus Präsenz; sie hielten regelmäßig öffentliche Versammlungen ab und zogen ebenfalls durch die Straßen.[37] Als Gehring 1933 seine Fotos aufnahm, waren der KPD jedoch bereits »jegliche politischen Umzüge und Versammlungen [...] unter freiem Himmel und in geschl. Räumen verboten«, wie es in einem Schreiben vom 2. März aus dem Bürgermeisteramt an die Ortsgruppe der KPD in Ditzingen heißt[38] – angesichts der generellen Situation zu dieser Zeit wenig überraschend.
Gehrings Fotos vom SA-Umzug am 17. September 1933 scheinen die angestrebte Sichtbarkeit der nationalsozialistischen Gliederung und ihrer Aneignung des Raumes, der wenige Monate zuvor noch umkämpft gewesen war, visuell zu bestätigen. Der Raum selbst ist nicht oder noch nicht von nationalsozialistischer Emblematik gezeichnet. Zwar ist der Straßenzug beflaggt, jedoch nicht mit Symbolen der NSDAP: Aus dem Gebäude auf der linken Seite hängt das gleiche, vermutlich regionale Banner wie auf den Bildern des Sängerumzuges aus dem Jahr 1926; auf der rechten Seite, weiter im Bildhintergrund, weht ein anderes Banner, möglicherweise schwarz-weiß-rot. Die Blickposition der Kamera selbst erscheint nicht als diejenige eines Zuschauers, der das Geschehen von außen betrachtet. Dadurch, dass sie sich auf der Straße befindet, gerät die Kamera tendenziell ins Innere des Zuges. Die Unschärfe vieler abgebildeter Teilnehmer markiert Geschwindigkeit, die weniger auf eine routinierte Selbstpräsentation, ein Betrachtet-werden-Wollen zu verweisen scheint als auf eine Aneignung des Raumes und das Mitreißen von Menschen.[39] Der Marsch der SA trägt nationalsozialistische Emblematik in den visuell politisch unbesetzten Straßenraum der Kleinstadt und drückt somit einen politischen Anspruch aus. Der Umzug, der den gesamten Straßenraum und weite Teile des Bildraumes ausfüllt, erscheint visuell gewissermaßen konkurrenzlos.
3. Ungewohntes als Kontinuität inszeniert:
Das Erntedankfest 1933
Acht Fotografien des Erntedankumzuges von 1933 sind in Albert Gehrings Nachlass überliefert. In seiner Tradition als kirchliches Fest fand das Erntedankfest seit Mitte des 18. Jahrhunderts überregional und überkonfessionell am selben Tag statt, dem Sonntag nach dem Michaelistag. Das war 1933 der 1. Oktober, nur wenige Tage nach dem SA-Sportfest. In diesem Jahr der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde das Fest unter neue ideologische Vorzeichen gestellt. Der traditionelle Termin wurde zum gesetzlichen Feiertag erhoben, und auf dem Bückeberg bei Hameln inszenierte das Propagandaministerium das Reichserntedankfest als eines der drei großen nationalsozialistischen Massenfeste.[40]
Nicht auf den ersten Blick wird aus Gehrings Fotografien deutlich, dass sie aus der Zeit des Nationalsozialismus stammen. Das Banner, das groß am linken Rand aller acht Bilder zu sehen ist, ziert kein Hakenkreuz. Hakenkreuze und andere nationalsozialistische Symbole sind in den Bildern durchaus vorhanden, doch auf den ersten Blick wenig dominant. Das einzig Swastika-beflaggte Haus befindet sich weit im Bildhintergrund, dort, wo der Zug visuell seinen Anfang nimmt. Die Wimpel an Wagen oder Aufnäher auf Uniformen fallen gemessen am Bildraum sehr klein aus. Selbst auf dem Bild, das die SA-Ortsgruppe zeigt (siehe unten), hängt deren große Fahne schlaff hinunter, wodurch ihre Symbolik höchstens noch zu erahnen ist. Die Emblematik des Festumzuges verweist mit landwirtschaftlichen Maschinen und Heuwagen hingegen recht deutlich auf Bauernschaft. Religiöse Symbolik spielt keine Rolle in den Fotografien.
Wie die Bilder vom Sängerfest und vom SA-Sportfest sind alle acht Fotografien vom Erntedankumzug des Jahres 1933 aus beinahe derselben Kameraperspektive aufgenommen, die sich jedoch von den bisherigen Perspektiven noch einmal unterscheidet. Auch in den Erntedank-Bildern bewegt sich der Zug auf die Kamera zu, doch steht diese deutlich erhöht, höher noch als im Fall des Sängerumzuges. Gehring fotografiert, so zeigt der schemenhaft erkennbare Fensterladen im linken Bildrand, aus einem Gebäude heraus. Die Sichtbarkeit des Fensterladens markiert visuell deutlicher eine Beobachterperspektive, als dies in den Fotos vom Sängerumzug der Fall war. Dadurch, dass die Bilder einen örtlich gebundenen Rahmen erhalten, wird Gehrings Position weiter personalisiert – der Fensterladen markiert einen konkreten Zuschauer und eben keine schein-objektive Perspektive, die allein durch den materiellen Rahmen des Glasplattennegativs begrenzt wird.
Bis auf eine Ausnahme durchzieht der Festzug in allen Bildern der Serie den gesamten Bildraum. Auch aufgrund der höheren Position und des dadurch weiteren Blickwinkels fängt die Kamera stets mehrere Abschnitte des Zuges gleichzeitig ein und schneidet einzelne Gruppen von Umziehenden durch den unteren Bildrand an. Das fotografische Interesse scheint hier im Vergleich mit der Bildserie vom Sängerfest eher dem Ganzen und weniger dem Einzelnen zu gelten. Der Zug erscheint entsprechend nicht zergliedert, sondern als Kontinuum. Dazu trägt bei, dass auch in dieser Bildserie kaum Zuschauer visualisiert sind. Bis auf vereinzelte mitlaufende Kinder auf der rechten Seite des Zuges sowie eine kleine, über die Serie hinweg wechselnde Gruppe stehender Menschen im linken Bildvordergrund ist der Zug allein auf der Straße, die er mittig durchschreitet.
Die Aneignung christlich-religiöser Festtraditionen gehörte erklärtermaßen zum kulturpolitischen Plan des nationalsozialistischen Regimes, und gerade im Hinblick auf das Erntedankfest ist sie vielfach beschrieben worden.[41] In Ditzingen trafen mögliche neue Direktiven zur Festgestaltung[42] auf die Besonderheit des schwäbischen Pietismus, der traditionell keine Umzüge oder Prozessionen als religiöse Praxis kannte. Angesichts dessen erscheint es plausibel, dass laut dem »Leonberger Tageblatt«, welches am 4. Oktober 1933, kompiliert mit Fotografien vom Bückeberg, Berichte zu allen Erntedankfesten der Region veröffentlichte, in Ditzingen der »nachmittägliche Festzug [...] ein in seiner Art neues Bild für die Einwohner« bot.[43] Auch wenn sie aller Wahrscheinlichkeit nach anlässlich des Erntedankfestes zuvor noch nie umgezogen waren, war die Form des festlichen Durchschreitens der Stadt den Bürgerinnen und Bürgern aus anderen Kontexten durchaus bekannt.[44] Begreift man den Umzug als rituelle Sichtbarwerdung der Teilnehmenden im Stadtraum, so stellt sich auch hier die Frage, wem gegenüber die Umziehenden an diesem 1. Oktober 1933 sichtbar werden wollten. Die Fotografien zeigen wenig Präsenz eines zuschauenden Gegenübers. Und doch scheint, wenn man den für die pietistische Region bis dahin unüblichen Umzug als Folge der NS-Direktive begreift, durchaus ein Außen adressiert zu sein. Zweifellos schaffen Albert Gehrings Fotografien ein Außen, doch entspricht es nicht ohne weiteres dem ideologischen Außen des Nationalsozialismus; mit den Autoritäten der neuen Fest-Direktiven ist es nicht unmittelbar gleichzusetzen. Vielmehr markieren die Bilder eine Zuschauerposition, die einmal mehr einen chronistischen Anspruch zu verfolgen scheint. Gehrings Fotografien bezeugen den Zug als Kontinuum und bedienen damit, ob intendiert oder nicht, ein visuelles Muster, das sich an die nationalsozialistische Ideologie anschmiegt. Auch wenn die NS-Symbolik selbst nicht sehr dominant hervorscheint, erzählen die Bilder die Integration der Ditzinger Bürgerinnen und Bürger in eine größere Gemeinschaft.
4. Einzelgliederung jenseits des großen Ganzen:
Der Handwerkertag 1933
Während Gehring den Erntedankumzug aus der Vogelperspektive aufnahm, begab er sich zum Festzug des Handwerkertages des gleichen Jahres wieder auf Augenhöhe mit den Umziehenden. Der Festwagen der Bäcker, der von zwei Pferden gezogen wird, kommt der Kamera entgegen. Bewegung markiert in diesem Foto außerdem der nur schemenhaft erkennbare Torso eines Mannes oder Jungen im linken Bildvordergrund, der im Moment des Auslösens nah an der Kamera in Laufrichtung des Zuges vorbeigegangen sein muss. Die Kamera befindet sich auf der rechten Straßenseite, der Wagen zieht links an ihr vorbei. Sie steht deutlich am Rand der Straße, auf dem kopfsteingepflasterten Streifen, der sie säumt, und nicht etwa auf der Straße, wie dies während des Umzuges zum SA-Sportfest der Fall war. Hinter dem Wagen, also auf der der Kamera gegenüberliegenden Straßenseite, die hier von einer niedrigen Mauer begrenzt wird, sind Gebäude zu sehen. Außerdem spannt sich im rechten Bildhintergrund eine Girlande mit Wimpeln über die Straße, die aufgrund der Distanz in Unschärfe liegt.
Der Kutscher und vier weitere Personen auf dem Wagen, die in Bäckerskluft gekleidet sind, blicken in die Kamera, genau wie der einzig sichtbare Bäcker, der den Wagen zu Fuß begleitet. Einige von ihnen lächeln dabei, was sich als aktive Bezugnahme auf das künftige Gegenüber der Bildbetrachterinnen und -betrachter deuten ließe. Ein Junge, der am rechten Straßenrand läuft, hat den Blick über seine rechte Schulter auf den Wagen gerichtet. Die Blickregime in diesem Foto erweisen sich im Vergleich mit den vorangegangenen Bildern als kommunikativer: Die Bäcker beziehen sich eindeutig auf die Kamera. Und sie tun dies nicht nur im Sinne eines Blicks in Richtung des gut sichtbaren Apparats, wie es beim SA-Umzug der Fall zu sein scheint, sondern im Sinne einer Selbstpräsentation, die in ihrem Agieren auf dem Wagen ohnehin angelegt ist und die von der Kamera aufgenommen wird. Das Foto stellt den Wagen in visueller Unabhängigkeit vom Gesamtzug dar und inszeniert ihn als eigenes Ensemble.
Die weiteren drei Bilder der Serie bestätigen diesen Eindruck. Das Hochformat und die Augenhöhe der Kamera sorgen auch hier dafür, dass der Zug nicht in der Länge visualisiert, der Bildausschnitt vielmehr auf einen kurzen Straßenabschnitt beschränkt ist. Auf diese Weise werden auch die Wagen bzw. Umzugs-Gruppen von Friseuren, Mechanikern, Schneidern und Bäckern einzeln ins Bild gesetzt. Das jeweilige Gewerbe und seine Selbstdarstellung im Festzug werden visuell zentriert. So treten die sorgfältig geschmückten Wagen und Kostüme, die hier am Handwerkertag aus Arbeitskleidung bestehen, in den Fotografien hervor – oder sollen jedenfalls hervortreten: Da die Belichtung der Bilder recht dunkel ausfällt, bleiben sie teilweise hinter ihrem dennoch erkennbaren Visualisierungsanspruch zurück.
Die Wagen wie auch gehende Zuggliederungen warten neben der Kostümierung mit weiterer gewerbespezifischer Symbolik auf. Die Bäcker hantieren mit Schüsseln, den Wagen der Schneider ziert eine Schere. Auch in dieser Bildserie ist nicht gleich offensichtlich, dass sie aus der Zeit der NS-Diktatur stammt: Einzig im Foto vom Wagen der Schneider sind zwei kleine Hakenkreuze zu sehen, die das Gefährt schmücken.
Der Handwerkertag bestand im Deutschen Reich als Tradition, die lokal organisiert und nicht auf ein bestimmtes Datum festgelegt war, bereits vor 1933, doch strebte das nationalsozialistische Regime alsbald seine Nutzbarmachung zur Mobilisierung des Handwerks an.[45] In Gehrings Bildern setzt die Kamera die Selbstdarstellung der einzelnen handwerklichen Gewerbe visuell fort. Anders als in den Bildern der vorangegangenen Umzüge scheint zudem auch auf Seiten der abgebildeten Handwerker eine aktive Bildwerdung stattzufinden. Ihr Lächeln in die Kamera weist darauf hin, dass die Lebenden Bilder oder Tableaux Vivants der Wagen und Zuggliederungen sich hier bewusst sind, dass sie in diesem Moment zu fotografischen Dokumenten werden. Bildproduzent und Abgebildete scheinen zusammenzuarbeiten. Die Kamera interessiert sich weniger für den Raum, sie beobachtet nicht wirklich den Zug beim Durchschreiten seiner Umgebung, sondern fertigt gewissermaßen Porträts von Kleingruppen und gewerblichen Gemeinschaften, von Bäckern, Frisören, Schneidern und Schlossern in Bewegung an und inszeniert sie in ihren Eigenheiten.
5. Alte und neue Gemeinschaften vereint:
Das Feuerwehrfest und der Kriegertag 1934
Im Jahr 1934 setzte Albert Gehring einen Umzug ins Bild, der im Rahmen eines Feuerwehrfestes stattfand. Die Kamera blickt auf denselben Straßenzug wie schon in den Bildern zum Sängerfest und zum SA-Sportfest, jedoch aus einer neuen, dritten Perspektive. Wieder ist sie erhöht positioniert, aber diesmal nicht auf der rechten Straßenseite, sondern in einem Gebäude auf der linken Seite, das im Straßenzug vorsteht und es ihr ermöglicht, das Geschehen beinahe frontal aufzunehmen. Sie hat dadurch einen weiten Blick auf die sich nach hinten leicht krümmende Straße, durch die ihr die Umziehenden entgegenkommen. Links sind die Häuser zu sehen, die bereits aus den vorangegangenen Aufnahmen dieses Settings bekannt sind. Neu hingegen sind die Hakenkreuzfahnen, die an zwei Häusern befestigt sind und von denen die vordere in allen sechs Bildern der Serie gut zu sehen ist. Noch ein Stück weiter im Bildhintergrund, jedoch von deutlich größerer Dimension, flattert das schon bekannte Banner, genau wie auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Ähnlich wie beim Sängerfest scheint das Feuerwehrfest ein Anlass für die diversen Gruppierungen und Vereine der Kleinstadt gewesen zu sein, sich im Umzug zu präsentieren. Neben den Feuerwehrformationen selbst zeigen sich in den Bildern die SA, mehrere Musikkapellen, Männer in weißer Sportkleidung (die den Turnverein repräsentieren könnten), außerdem weitere Gruppen von Männern in Zivil.
Wieder einmal lassen die Bilder wenige Zuschauer erkennen, was mit dem gerade beschriebenen integrativen Charakter des Zuges zusammenhängen mag, der so viele Einzelgemeinschaften der Kleinstadt in sich aufnimmt und sie zu Teilnehmern macht. In fünf von sechs Bildern der Serie sind drei Personen mit Regenschirmen zu sehen, die von der Straßenecke im linken Bildvordergrund den Zug betrachten, doch werden sie zu einem großen Teil von einem Ast verdeckt, der sich hier in den Bildausschnitt schiebt. Auf allen Bildern steht ein einzelner Mann in einem Hauseingang auf der linken Straßenseite. Zwei der Bilder visualisieren einige Kinder, die, wie auch schon in allen vorangegangenen Bildserien, die Züge begleiten.[46]
In vier Bildern ist der Zug vorne angeschnitten, durchzieht demnach den gesamten Bildraum; aufgrund des weiten Blickwinkels erzählen ihn die Bilder in seiner großen Länge. Die Formation des Zuges zeigt sich als geordnet, nur selten lassen die Bilder ein leichtes Ausscheren nach links oder rechts sichtbar werden. Er bewegt sich aus Kameraperspektive entlang des rechten Straßenrandes, links bleibt die Straße in einem breiten Streifen leer. Neben einigen SA-Männern, die an der vermuteten Spitze des Zuges laufen, findet sich nationalsozialistische Symbolik in seiner letzten Gliederung. Bringt man die Bilder in eine vage Chronologie, so scheint der Zug mit einer Gruppe von behelmten Feuerwehrmännern zu enden. Ihnen voran, so sieht man im chronologisch vorletzten Bild (siehe oben, erstes Foto dieses Aufsatzes), fährt ein Wagen, dessen Schild mit der Aufschrift »Ständig alarmbereit« die Feuerwehr gewissermaßen ankündigt. Den Wagen und das Schild zieren Hakenkreuzfahnen und ein Reichsadler, doch ist der Wagen insgesamt im Bild nur schwer auszumachen, da er sich so weit im Bildhintergrund befindet. Das Bild, das die Gliederung der Feuerwehr zeigt, spart ihn ganz aus – Gehring drückte den Auslöser erst, als der Wagen bereits vorbeigezogen war.
Umzug und Raum zeigen in den Bildern vom Feuerwehrfest nationalsozialistische Symbolik, und zugleich behalten die einzelnen kleinstädtischen Gliederungen Ditzingens, die ihre alten Wimpel und Embleme zur Schau tragen, visuelle Wichtigkeit. Die Fotografien vereinen alte und neue Gemeinschaften durch die ihnen eigene Perspektive, die stets mehrere Zuggliederungen auf einmal ins Bild setzt.
Ähnliches geschieht in den Bildern vom Festzug zum Kreiskriegertag desselben Jahres. Mit 17 Fotografien ist dieser der am ausführlichsten dokumentierte Umzug im Bildbestand. Dem »Stuttgarter NS-Kurier« zufolge, dem Parteiorgan für Württemberg, fand er am 24. Juni statt. Festliche Zusammenkünfte regionaler Kriegervereine besaßen eine lange vornationalsozialistische Tradition: Seit dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 dienten sie den Vereinen dazu, Kameradschaft zu propagieren, Gefallene zu ehren und in Form verschiedener sinnstiftender Rituale die Erinnerung an Kriegserlebnisse zu pflegen.[47] Seit 1925 fand alle zwei Jahre ein Reichskriegertag statt – das erste Mal in Leipzig, und schon hier wurden die Festlichkeiten mit einem Umzug begangen.[48] Gehrings Fotografien zeigen eine gewisse Unabhängigkeit der lokalen Vereinspraxis von jenen reichsweiten Veranstaltungen: Der Reichskriegertag, der 1934 vom 7. bis 9. Juni in Kassel stattfinden sollte, wurde aufgrund des »Röhm-Putsches« abgesagt und auf das Folgejahr verlegt.[49]
Die Bilder zeigen einmal mehr den bekannten Straßenabschnitt und nehmen hier eine vierte Perspektive ein. Wie im Rahmen des SA-Umzuges anlässlich des Sportfestes steht die Kamera ebenerdig, diesmal jedoch ein Stück weiter vorn und etwas dichter am rechten Straßenrand. Diese Position ermöglicht es ihr, recht weit in die Ferne zu blicken und dadurch die Länge des Zuges einzufangen, der sich auch hier weit in den Bildhintergrund verdichtet. Das Haus im linken Bildvordergrund ist wie auch schon in den vorangegangenen Fotos dieses Settings festlich geschmückt, möglicherweise mit schwarz-weiß-rotem Banner. Außerdem ist wieder eine Girlande daran angebracht, die hier Wimpel mit Hakenkreuzen zieren. Ansonsten ist der Straßenzug – in diesen Bildern gut sichtbar – mit mehreren Partei-Flaggen der NSDAP ausstaffiert.
Alle Fotos der Serie erzählen Bewegung. Stets liegt vorne links im Bild eine gewisse Unschärfe auf denjenigen Personen, die im Moment des Auslösens direkt an der Kamera vorbeiziehen. Gerade die uniformierten Gliederungen gehen im Gleichschritt, der Zug ist gesättigt von unterschiedlicher Symbolik – auch und vor allem in Form von Fahnen, Schildern und Wimpeln, die die Umziehenden mit sich tragen. Im querformatigen Bildausschnitt laufen sie links an der Kamera vorbei, deren Blickposition deutlicher am Rand der Straße liegt, und nicht so im Geschehen selbst, wie es beim Umzug des SA-Sportfestes der Fall war. Die Augenhöhe sorgt hier dafür, dass einige der Marschierenden in die Kamera blicken; viele tun dies jedoch auch nicht, ihr Blick geht in Laufrichtung dem unbekannten Ziel des Zuges entgegen. Der dominanteste Blickwechsel der Serie spielt sich zwischen der Kamera und einer Zuschauerin ab. Ein Mädchen starrt über vier Bilder hinweg in die Linse; auf den weiteren Fotos wendet es den Blick schließlich dem Zug zu. Auch viele der anderen Kinder, die den Zug auf einigen Bildern links und rechts begleiten, schauen in die Kamera, die ihr Interesse auf sich zu ziehen scheint. Im unmittelbaren rechten Bildvordergrund visualisiert die Kamera außerdem auf allen 17 Fotografien eine Gruppe aus drei erwachsenen Personen – zwei Männern und einer Frau –, die nahezu unbewegt dastehen, die vorbeiziehenden Teilnehmer betrachten und die Kamera weitgehend ignorieren. Auch wenn es sich nur um wenige Menschen handelt: Wegen ihrer Nähe zur Kamera besitzen sie im Bild eine gewisse Dominanz und bieten dem Zug ein deutliches Gegenüber, markieren eine Öffentlichkeit. Ihre Blickposition liegt sehr nah an derjenigen der Kamera, die so die eigene Zuschauerperspektive noch einmal bildintern visualisiert.
Die zahlreichen Bilder, die vom Festumzug zum Kreiskriegertag existieren, dokumentieren seine vielfältigen Gliederungen: Auf Reiter in wilhelminischer oder zumindest vor-nationalsozialistischer Gardeuniform folgen Pferdewagen, eine große SA-Staffel, der Reichsarbeitsdienst, ein Reserveinfanterieregiment, eine HJ-Gruppe, Sportler (die möglicherweise den Ditzinger Turnerbund repräsentieren), außerdem weitere Kriegervereine sowie der Ditzinger Gesangsverein. In fast allen Fotos durchzieht der Zug den gesamten Bildraum, so dass mehrere Gliederungen gleichzeitig aufs Bild geraten, wobei Gehring zumeist in dem Moment auf den Auslöser gedrückt hat, in welchem die Fahnen- oder Schildträger einer neuen Gruppierung sich gerade mehr oder weniger im Bildvordergrund befinden. Er visualisiert demnach die alten wie neuen Gliederungen eigenständig und bindet sie zugleich visuell in den Zug ein, wodurch sie zu einer größeren Gemeinschaft verschmelzen.
Im Einführungstext zu seinem Sammelband »Das Dritte Reich im Fest« grenzt sich Werner Freitag von einer Top-Down-Perspektive auf die Durchsetzung nationalsozialistischer Festpraxis ab: Bei den von ihm untersuchten Festritualen in Westfalen handle es sich gerade nicht um einen »Ausdruck von NS-spezifischer Instrumentalisierung, sondern [um] eine kulturelle Ausdrucksform lokaler Gesellschaften, sich der Herrschaft Hitlers zu vergewissern und sie zu bejahen«.[50] Genau diese Ausdrucksformen sind uns in den Fotografien Albert Gehrings begegnet – durch seine Kameralinse blickten wir auf eine Phase der sozialen Neuordnung, die Sabine Behrenbeck in ihrer Periodisierung der nationalsozialistischen Festgestaltung als »Etablierungsphase« bezeichnet hat.[51] Die Analyse der Bildquellen vermochte dabei die These von Vergewisserung und Bejahung weiter auszudifferenzieren und sozialhistorische Erkenntnisse auf lokaler, exemplarischer Ebene zu erzielen. Zugleich, und darauf lag das Hauptaugenmerk der Untersuchung, zeigte sich eine ganz eigene und bislang vernachlässigte Qualität von Fotografie als historischer Quelle: Der Bildbestand erwies sich als Fundus visueller Haltungen zum Geschehen.
Die Ordnung der Fotografien wurde in einer analytischen Suchbewegung der Ordnung der Festumzüge gegenübergestellt, ihren Choreographien und ihrer Symbolik – und damit ihren gewünschten, teils disparaten Botschaften. Folgendes ließ sich feststellen: 1926 verlängerten die jeweiligen Einzelbilder, aufgenommen aus erhöhter, schein-objektiver Perspektive, die routinierte Performance der einzelnen Sängervereine, die ihre etablierte Zusammengehörigkeit im Sängerbund begingen. In chronistischer Manier hielt die Serie zugleich das Geschehen als verbindendes Ereignis der gesamten kleinstädtischen Gemeinschaft fest. 1933, als die SA die Straßen des Ortes erlief, begab sich Gehring auf Augenhöhe mit den Umziehenden. Durch diese wie weitere fotografische Entscheidungen entstand der Eindruck, die Bilder stellten sich in den Dienst der Idee von Wandel und Veränderung und repräsentierten visuell die Aneignung des Raumes durch die an Macht gewinnende nationalsozialistische Gliederung – zu einem Zeitpunkt, da die politische Opposition bereits bürokratisch ausgeschaltet war. Im Falle des Musterbeispiels nationalsozialistischer Aneignung von bereits bestehenden Festtraditionen, dem Erntedankfest, verschwiegen die Fotos (diesmal wieder von oben herab aufgenommen, jedoch als individuelle Perspektive erkennbar), dass es sich bei der Festzugspraxis zu diesem Anlass in Ditzingen um ein Novum handelte. Vielmehr erzählten sie Kontinuität, die Kontinuität des Umzuges, der lokalhistorisch eigentlich einen Bruch darstellte. Hinsichtlich des Handwerkertages dagegen verblieben sie narrativ im Spektrum dessen, was dieses Fest schon lange vor 1933 darzustellen suchte: die Selbstpräsentation einzelner Gewerbe in ihren Eigenheiten, jenseits eines großen Ganzen. Der Umzug wurde in den Bildern ausgespart, die Festwagen standen visuell für sich. Im Jahr 1934 visualisierte schließlich jedes einzelne Foto – sowohl im Falle des Feuerwehrfestes als auch zum Kreiskriegertag – die Vermischung von alten und neuen Gemeinschaften. In den Bildausschnitten reihten sich die Abschnitte des Zuges lückenlos aneinander, während zugleich die Symbole der jeweiligen Untergemeinschaften visuelle Wichtigkeit behielten.
Als Ergebnis dieser sorgfältigen Beobachtungen lässt sich festhalten, dass Albert Gehring die unterschiedlichen Bestrebungen der Gemeinschaftsbildung häufig visuell fortsetzte, indem er perspektivisch zwischen Einzelgruppe, Dorf- und Regionalgemeinschaft sowie deren in Symbolen und Praktiken anklingenden politischen Erweiterungen hin- und herpendelte. Seine Bilder affirmierten teilweise einen Wandel, während sie an anderer Stelle – und dies ist besonders bemerkenswert – die Veränderung jedoch auch visuell einebneten. Die Bilder weisen damit ihren Platz im Aushandlungsprozess um lebensweltliche Brüche im Übergang zur Diktatur aus.
Es liegt in der Natur des Mediums, dass die Bilder zum Teil von Zufällen wie auch von pragmatischen Entscheidungen beeinflusst gewesen sein mögen. Zugleich sind die bildbestimmenden Faktoren ernstzunehmen – vom Kamerastandort über die Wahl des Bildausschnitts bis hin zum Zeitpunkt des Auslösens. Sie sind es, die jede Fotografie zu einer visuellen Formulierung werden lassen, zum Ausdruck einer Position gegenüber den Ereignissen, die sie repräsentieren. Der hier erprobte methodische Vorschlag der Standortbestimmung schafft auch die Voraussetzung für einen lohnenden weiteren fotografiehistorischen Analyseschritt: die Untersuchung der nachträglichen Gebrauchsweisen der Bilder.
Diese deuteten sich bereits in der Analyse der verschiedenen visuellen Positionen an. Wo es um die Fotografien in ihrer Funktion als Erinnerungsreferenzen ging, ließ sich teilweise aus den Bildern selbst herausdestillieren, von wem das jeweils spezifisch gestaltete Bild später benutzt worden sein könnte. Auf Grundlage anderer Quellen wie Nachbestellungsblättern oder privaten Fotoalben wäre weitergehend zu überprüfen, auf welche Resonanz Bilder von lokalen Amateurfotografen bei Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohnern stießen, welche der angebotenen fotografischen Positionen sich wo durchsetzten und welche Fotos entsprechend den Status von Referenzpunkten für Gemeinschafen erlangten und so aktiv auf das Soziale zurückwirkten. Positionsanalysen, wie sie hier zum fotografischen Nachlass Albert Gehrings vorgenommen wurden, schaffen deshalb auch die Voraussetzung dafür, die nachträgliche Wirkmacht von Fotografie in Aushandlungsprozessen um lebensweltliche Veränderungen wie Kontinuitäten in den Blick zu nehmen.
Anmerkungen:
[1] Beispielsweise bot die NS-Organisation »Kraft durch Freude« den so genannten Volksgenossen und Volksgenossinnen gegen eine geringe Teilnahmegebühr Fotokurse an, auf deren Agenda Themen wie »deutsches Volkstum, deutsche Heimat und deutsche Arbeit« standen; vgl. H.E. Trieb, Beginn der Photokurse von Kraft durch Freude in Berlin, in: Photograph 9 (1936); zit. nach Timm Starl, Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980, München 1995, S. 101. In der Bewertung der Vereinnahmungsversuche der Privatfotografie durch das Regime stehen sich zwei wissenschaftliche Positionen gegenüber: Timm Starl hat im genannten Buch die Erfolglosigkeit des Unterfangens konstatiert, während Rolf Sachsse die »Erziehung zum Wegsehen« als erfolgreich beschreibt. Vgl. ders., Die Erziehung zum Wegsehen. Fotografie im NS-Staat, Berlin 2003.
[2] Zur Verbreitung der Amateurfotografie vgl. Starl, Knipser (Anm. 1), S. 95-98.
[3] Ulrike Pilarczyk und Ulrike Mietzner führen in ihrer Arbeit zur »seriell-ikonografischen Fotoanalyse« den Begriff der »visuellen Formulierung« ein und vermögen so ein Feld zwischen Erfahrung und Ausdruck aufzuspannen, das jenseits des Textlichen liegt; vgl. dies., Das reflektierte Bild. Die seriell-ikonografische Fotoanalyse in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften, Bad Heilbrunn 2005, S. 27.
[4] Als mediales Ordnungsinstrumentarium kompiliert Fotografie Formen auf einer Fläche – Formen, die einmal gegenständlich dagewesen sind, denen durch ihre Abbildung aber zugleich eine neue Ordnung hinzugefügt wird, die sowohl kreativ als auch kontingent ist. Vgl. Beate Fricke/Markus Klammer/Stefan Neuner, Pikturale Horizonte der Gemeinschaftsproduktion. Zur Einleitung, in: dies. (Hg.), Bilder und Gemeinschaften. Studien zur Konvergenz von Politik und Ästhetik in Kunst, Literatur und Theorie, München 2011, S. 11-35, hier S. 17. Außerdem Peter Geimer, Das Unvorhersehbare, in: Hans Belting (Hg.), Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München 2007, S. 101-118, hier S. 118. Geimer vermittelt in seinem Aufsatz zwischen Kontingenz und Konstruktion als wesensbestimmenden Merkmalen von Fotografie.
[5] Vgl. u.a. Lars Deile, Feste – Eine Definition, in: Michael Maurer (Hg.), Das Fest. Beiträge zu seiner Theorie und Systematik, Köln 2004, S. 1-17.
[6] Vgl. u.a. Werner Freitag, Der Führermythos im Fest. Festfeuerwerk, NS-Liturgie, Dissens und »100 % KdF-Stimmung«, in: ders. (Hg.), Das Dritte Reich im Fest. Führermythos, Feierlaune und Verweigerung in Westfalen 1933–1945, Bielefeld 1997, S. 11-77; Sabine Behrenbeck, Durch Opfer zur Erlösung. Feierpraxis im nationalsozialistischen Deutschland, in: dies./Alexander Nützenadel (Hg.), Inszenierungen des Nationalstaats. Politische Feiern in Italien und Deutschland seit 1860/71, Köln 2000, S. 149-170. Joe Perry fand einen Mittelweg zwischen Top-Down- und Bottom-Up-Perspektive auf Festkultur in der Zeit des Nationalsozialismus; vgl. ders., Nazifying Christmas. Political Culture and Popular Celebration in the Third Reich, in: Central European History 38 (2005), S. 572-605.
[7] Im Ditzinger Melderegister ist als Albert Gehrings Beruf »Fabrikarbeiter« angegeben. Er war ein für seine Zeit typischer Amateurfotograf, der seine Kamera auch, aber nicht überwiegend für einen Nebenverdienst nutzte. Vgl. Gemeinde Ditzingen, Einwohnermeldekartei, 1900–1971. Zeitgenössische Veröffentlichungen seiner Bilder sind nicht bekannt.
[8] Insgesamt umfasst der Bestand 1.001 Bilder, die als Glasplattennegative überliefert und vom Stadtarchiv Ditzingen sämtlich digitalisiert worden sind. Zeitgenössische Abzüge sind kaum vorhanden. Neben einer Vielzahl an Auftragsporträts ist ein Drittel der Bilder (333 Stück) im Kontext von Festveranstaltungen aufgenommen worden. Die Fest-Motive sind genau wie die Anlässe vielfältig; sie reichen von Gruppenporträts der Feiernden über weitwinklige Aufnahmen von Festplätzen bis hin zu den im Folgenden verhandelten Bildern von Festumzügen in Bewegung. Ich danke Herrn Dr. Herbert Hoffmann für den Zugang zum Bestand und für seine Unterstützung meiner Recherchearbeit.
[9] Gehrings Todesursache ist unbekannt. Er hatte keine Kinder; die Verbindung der Quellen zu ihrem einstmaligen Besitzer war zum Zeitpunkt des Fundes bereits lange abgerissen.
[10] Dabei werden die Fotos nicht etwa als Direktübersetzung der Intention des Fotografen in ein Bildergebnis begriffen. Vielmehr geht es darum, visuelle Muster auszumachen und somit die Aufmerksamkeit für Positionsverschiebungen zu schärfen. Das ausgewählte Fotokonvolut Albert Gehrings bietet sich hierfür besonders an, weil es einen seriellen Charakter besitzt und die Interaktion zwischen dem Fotografen und den Fotografierten nur eine geringe Rolle spielt. Vgl. des weiteren kritisch und informativ zum Positionsbegriff im Bereich der Kunst Tom Holert, Vom P-Wort. Der Positionsbegriff im Jargon der Kunstkritik, in: Texte zur Kunst 45 (2002), S. 50-59. Ein Austausch zwischen Geschichts- und Kunstwissenschaften erweist sich hier methodologisch einmal mehr als fruchtbar.
[11] Vergleichend sind ganz unterschiedliche Festzüge u.a. von Klaus Tenfelde untersucht worden, auch und gerade in Hinblick auf die Verknüpfung von Politik und Religion; vgl. ders., Adventus. Zur historischen Ikonologie des Festzugs, in: Historische Zeitschrift 235 (1982), S. 45-84. Ebenso betont ein Sammelband des Heidelberger DFG-Sonderforschungsbereichs »Ritualdynamiken« (2002–2013) die Einheitlichkeit der Form für differente Anlässe und strebt einen Vergleich an; siehe Jörg Gengnagel/Monika Horstmann/Gerald Schwedler, Einleitung, in: dies. (Hg.), Prozessionen Wallfahrten Aufmärsche. Bewegung zwischen Religion und Politik und Europa und Asien seit dem Mittelalter, Köln 2008, S. 3-15.
[12] Vgl. u.a. Klaus Vondung, Magie und Manipulation. Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, Göttingen 1971, S. 155.
[13] Die Potentiale lokal- und regionalgeschichtlicher Perspektiven wurden zuletzt etwa an folgender Stelle reflektiert: Dietmar von Reeken/Malte Thießen, ›Volksgemeinschaft‹ als soziale Praxis? Perspektiven und Potenziale neuer Forschungen vor Ort, in: dies (Hg.), ›Volksgemeinschaft‹ als soziale Praxis. Neue Forschungen zur NS-Gesellschaft vor Ort, Paderborn 2013, S. 11-33. Der Bildbestand Albert Gehrings aus Ditzingen wird im vorliegenden Aufsatz exemplarisch untersucht und die Kleinstadt als »Bedingungs- und Kräftefeld« ernstgenommen, welches spezifische Auswirkungen »auf die Durchsetzung der NS-Herrschaft, die Aneignung von NS-Deutungsangeboten« besaß, aber als kleiner Raum umgekehrt auch in spezifischer Weise durch die politischen Umwälzungen beeinflusst war; vgl. ebd., S. 16.
[14] Vgl. Tenfelde, Adventus (Anm. 11), S. 45, S. 47.
[15] Vgl. Gengnagel/Horstmann/Schwedler, Einleitung (Anm. 11), S. 11f.
[16] Ebd., S. 6-11.
[17] Der Zug ist durch Bewegung charakterisiert, die Fotografie stellt still, wenn auch die Fotoserie sich der Bewegung anzunähern sucht. Zur mediengeschichtlichen Verbindung zwischen dem Gehen und der Momentfotografie vgl. Michel Frizot, Der menschliche Gang und der kinematographische Algorithmus, in: Herta Wolf (Hg.), Diskurse der Fotografie, Frankfurt a.M. 2003, S. 456-478.
[18] Das Konstante und das Temporäre sind hier auch zu parallelisieren mit dem Begriffspaar Wandel und Stabilität, das für die Praxis des feierlichen Durchschreitens eine große Rolle spielt; vgl. Gengnagel/Horstmann/Schwendler, Einleitung (Anm. 11), S. 11.
[19] Die Prozession als Festpraxis galt Elias Canetti als »Massenkristall«; vgl. Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt a.M. 1980, S. 84ff., S. 182-186. Durch ihren Anblick werde in den Zuschauern der eigene latente Glaube aktiviert und die Lust, sich der Prozession anzuschließen; vgl. Vondung, Magie und Manipulation (Anm. 12), S. 157.
[20] In diesem Kontext von Interesse ist die Betonung des Affekts, der den Zuschauern von Festumzügen grundsätzlich zugeschrieben wird; vgl. Tenfelde, Adventus (Anm. 11), S. 65. Tenfelde beschreibt die Reaktion von Zuschauern bürgerlicher Umzüge im 19. Jahrhundert als »zwischen Staunen, Erregtheit und Belustigung angesiedelt«, die »einem tiefen Bedürfnis entsprach«. Der Festzug bot demnach »die Chance positiver Identifikation, die Gelegenheit des Sich-Wiedererkennens in einer neuen, aber nicht eigentlich weniger repräsentativen, bürgerlichen Öffentlichkeit« (S. 66).
[21] Der Aufsatz lässt sich damit von der Methode der »seriell-ikonografischen Fotoanalyse« inspirieren, die Ulrike Pilarczyk und Ulrike Mietzner in die Bildwissenschaft eingeführt haben; vgl. dies., Das reflektierte Bild (Anm. 3).
[22] Mein Beitrag sucht seine Position damit jenseits der noch immer bestehenden Gewohnheit der Geschichtswissenschaften, im Falle von Bildquellen den erkenntnisleitenden Fokus auf die Lebenswelt um die Fotos herum zu legen. Vgl. u.a. Ronald Berg, Die Photographie als alltagshistorische Quelle, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 187-198, hier S. 191. Berg spricht vom Erkenntniswert der fotografischen Quelle, der »umso höher« sei, »je mehr es gelingt, bildexterne historische Informationen mit dem Bildgeschehen zum Korrelieren zu bringen« (ebd., S. 194). Kontextinformationen zum Bestand Albert Gehring sind entsprechend seiner Geschichte als Dachbodenfund ohnehin spärlich gesät. Dank der rudimentären Beschriftungen der Glasplattenhüllen, die der Fotograf selbst vornahm, lassen sich die Bilder den entsprechenden stadtgeschichtlichen Ereignissen zuordnen.
[23] Das genaue Datum ließ sich dank des überlieferten Festbuchs zum Sängerfest ermitteln – eine der wenigen lokalhistorischen Textquellen, die im Folgenden noch eine Rolle spielen werden.
[24] Die Unbeweglichkeit der Kamera, die uns auch in den folgenden Bildserien begegnen wird, ist hier sicherlich der Fototechnik geschuldet. Plattenkameras waren große und vor allem schwere Apparate, die mit Stativ bedient werden mussten.
[25] Alle Richtungsangaben erfolgen aus Perspektive der BildbetrachterInnen.
[26] Stadtarchiv Ditzingen, Sgn. S 6.1/11 [Vereinsdrucksachen, Musikvereine], Festbuch zum Strohgäuer Sängerfest.
[27] Zur Komplementarität von schriftlicher und bildlicher Logik vgl. Martina Heßler/Dieter Mersch, Bildlogik oder Was heißt visuelles Denken?, in: dies. (Hg.), Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld 2009, S. 8-49.
[28] Vgl. dazu Gengnagel/Horstmann/Schwendler, Einleitung (Anm. 11), S. 4f. Dennoch handelt es sich auch bei Umzügen wie den Fronleichnamsprozessionen um Bekundungen gruppenspezifischer Werte; vgl. ebd.
[29] Stadtarchiv Ditzingen, Sgn. S 4/267 [Flugblätter und Wahlzettel].
[30] Alle Informationen entstammen dem Festprogramm.
[31] Zum nationalsozialistischen Ideal einer Auflösung der Grenze zwischen Teilnehmer- und Zuschauerschaft im Fest vgl. für den spezifischen Fall des historischen Festzuges Stefan Schweizer, »Unserer Weltanschauung sichtbaren Ausdruck geben«. Nationalsozialistische Geschichtsbilder in historischen Festzügen, Göttingen 2007, S. 110f.
[32] Stadtarchiv Ditzingen, Gemeinde Ditzingen, Registraturakten, Öffentliche Sicherheit und Ordnung, 6200 Versammlungen / 6210 Politische Parteien: Genehmigungsgesuch von Erwin Rühle, Feuerbach, vom 29. Juli 1931, sowie von Walter Fichtner, Feuerbach, vom 19. August 1931, beide an das Bürgermeisteramt Ditzingen.
[33] Ebd., Schreiben von Schutzmann Pfizenmaier an Herrn Walter Fichtner, Feuerbach, vom 20. August 1932.
[34] Ebd., zwei Aktennotizen von Schutzmann Pfizenmaier, den jeweiligen Ersuchen um Genehmigung der Märsche beigeordnet.
[35] Ebd., Ersuch um die Genehmigung eines Reisemarsches an das Bürgermeisteramt Ditzingen von Walter Fichtner vom 17. Juli 1931.
[36] Ebd., Schreiben an das Bürgermeisteramt Ditzingen zur Ankündigung eines Propagandamarsches der SA von Sturmführer Müller und Sturmbannführer Hagenmayer vom 11. Juli 1932.
[37] Ebd., verschiedene Veranstaltungsankündigungen und -bewilligungen aus den Jahren 1931 und 1932.
[38] Ebd.
[39] Die Unmittelbarkeit dieses Zuges im Gegensatz zum Vorangegangenen, die Abwesenheit einer weit zurückreichenden Routine, spiegelt sich gewissermaßen auch in der Schriftquelle, dem Festprogramm der SA, das sich medial und materiell deutlich vom Festbuch des Sängerfestes unterscheidet. Ein teils handschriftliches, teils maschinengeschriebenes Flugblatt steht hier einem mehrseitigen, gedruckten und gebundenen Heft gegenüber.
[40] Neben der Mai-Feier und den Reichsparteitagen; vgl. Bernhard Gelderblom, Das »Reichserntedankfest« auf dem Bückeberg bei Hameln 1933–1937, in: GedenkstättenRundbrief Nr. 172/2013, S. 42-51. Zur nationalsozialistischen Institutionalisierung außerdem Anette Blaschke, Die Reichserntedankfeste vor Ort. Auf der »Hinterbühne« einer nationalsozialistischen Masseninszenierung, in: von Reeken/Thießen, ›Volksgemeinschaft‹ als soziale Praxis (Anm. 13), S. 125-141.
[41] Vgl. u.a. Thorsten Schrumpf-Heidemann, Erst »begeistertes Bekenntnis zum Führer«, dann »Erstarrung in würdiger Form«. Die Erntedankfeste in Hagen 1933–1935, in: Freitag, Das Dritte Reich im Fest (Anm. 6), S. 127-134.
[42] Parteidirektiven sind für den Ort heute nicht mehr überliefert, da die entsprechenden Akten 1945 systematisch vernichtet wurden.
[43] Leonberger Tageblatt, 4.10.1933, unpaginiert.
[44] Das Fest verweist als Praxis stets auf historische, religiöse oder biographische Ereignisse, jedoch zugleich und vor allem auf vorangegangene Feste. Dies ist modifiziert auch hier der Fall, insofern eine bekannte Praxis in einen neuen Kontext transferiert wird. Der Umzug verweist hier nicht auf vorangegangene Erntedankumzüge, aber durchaus auf vorangegangene Umzüge anderen Inhalts.
[45] Vgl. Adelheid von Saldern, Leistungsdruck im Handwerk während der NS-Zeit, in: Thomas Großbölting/Rüdiger Schmidt (Hg.), Unternehmerwirtschaft zwischen Markt und Lenkung. Organisationsformen, politischer Einfluß und ökonomisches Verhalten, München 2002, S. 39-67, hier S. 48.
[46] Katrin Minner schreibt in ihrem Buch über westfälische Ortsjubiläen während der NS-Zeit auch über Kinder und Jugendliche als »Zukunftsträger der Gemeinschaft«. Während der bürgerliche Festzug des 19. Jahrhunderts keine Teilnahme von Kindern und Jugendlichen vorsah, sei die Möglichkeit dazu in den 1930er-Jahren durchaus gegeben gewesen; vgl. Katrin Minner, Erinnerung und Modernität. Westfälische Ortsjubiläen im Dritten Reich, Münster 1999, S. 80ff.
[47] Seit 1900 existierte der Kyffhäuserbund als Dachverband aller Kriegerverbände im Deutschen Kaiserreich. Lokal und reichsweit stieg die Zahl der darin zusammengeschlossenen Vereine in den 1920er-Jahren an. Genaue Gesamtmitgliederzahlen sind wegen wechselnder Vereinsstrukturen nur schwer auszumachen; nach Eigenangaben des Bundes beliefen sie sich 1929 jedoch auf 2,5 Millionen. Vgl. Frank Bösch, Das konservative Milieu. Vereinskultur und lokale Sammlungspolitik in ost- und westdeutschen Regionen (1900–1960), Göttingen 2002, S. 68.
[48] Vgl. das entsprechende Festprogramm, in: Ludwig Arndt, Militärvereine in Norddeutschland. Vereinsleben, Abzeichen, Auszeichnungen, Denkmäler, Norderstedt 2008, S. 234f.
[49] Vgl. »5. Deutscher Reichskriegertag des Kyffhäuserbundes in Kassel 6.–8. Juli 1935«, in: Zeitgeschichte in Hessen, URL: <http://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/edb/id/762>.
[50] Freitag, Der Führermythos im Fest (Anm. 6), S. 17. Seine Perspektive wird bestätigt bei Behrenbeck, Durch Opfer zur Erlösung (Anm. 6), S. 162.
[51] Ebd.