10 Jahre – 10 Thesen – 10 Minuten

Statement für die Veranstaltung »Zeitgeschichte digital – Geschichte schreiben im Netz«, 22. Mai 2014

  1. Zeitschriften reflektieren ihre eigene Zeit.
  2. Zeitschriften brauchen ihre eigene Zeit.
  3. Zeitschriften sind angewiesen auf Mäzene und Förderer.
  4. Zeitschriften sind soziale Organismen.
  5. Zeitschriften sind ein neues und ein altes Medium zugleich.
  6. Die Zeitschriftenlandschaft ist in den vergangenen 10 Jahren lebendiger und vielfältiger geworden.
  7. Gedruckte Zeitschriften werden durch das Internet nicht obsolet, haben in einem Umfeld überwiegend digitaler Medien aber veränderte Funktionen.
  8. Das Zeitschriftenmachen, sei es für den Druck oder für das Netz, ist (auch) ein Handwerk.
  9. Eine Zeitschrift muß eine intellektuelle Haltung und ein redaktionelles Ethos haben.
  10. Zeitschriften insgesamt und speziell die »Zeithistorischen Forschungen« werden in 10 Jahren noch einmal deutlich anders aussehen als heute. 

1. Zeitschriften reflektieren ihre eigene Zeit.

Jenseits der trivialen Tatsache, daß Zeitschriften durch periodisches Erscheinen definiert sind, müssen sie zugleich als »Zeit-Schriften« verstanden werden, die ihre jeweilige Epoche kommentieren und spiegeln. (Dies gilt zumindest für geistes-, sozial- und kulturwissenschaftliche Zeitschriften, auf die ich mich im folgenden primär beziehe.) Unsere Zeitschrift wird von späteren Historikergenerationen vielleicht dahingehend befragt werden, was zu Beginn des 21. Jahrhunderts als »Zeitgeschichte« eingestuft und diskutiert wurde. Dabei wird vermutlich auffallen, daß die »Zeitgeschichte als Streitgeschichte«, die noch in den 1990er Jahren akademisch und öffentlich dominierte, in der folgenden Dekade vielfach einer weiteren Spezialisierung Platz gemacht hat, einer mehr oder weniger freundlichen wechselseitigen Nichtbeachtung unterschiedlicher Forschungszweige. Als Hypothese läßt sich vorerst formulieren, daß es die zeithistorische Forschung als disziplinäre Einheit nicht mehr gibt (und vielleicht auch nie gegeben hat), sondern eher verschiedene Stränge mit diversen thematischen und methodischen Vorlieben. Der Anspruch der »Zeithistorischen Forschungen« ist es daher, bei aller Pluralität der Zugänge eine gemeinsame Plattform anzubieten, gewissermaßen die virtuelle Einheit des Fachs als Mosaik aus vielen Teilen, als Territorium mit offenen Grenzen und als Fortsetzungsgeschichte ohne Vollständigkeitsanspruch.

2. Zeitschriften brauchen ihre eigene Zeit.

Die Pragmatik des Redaktionsalltags ist vielfach banaler als der eben genannte makrohistorische Horizont. Viele Zeitschriften, so auch unsere, haben mit Verspätungen des Erscheinens zu kämpfen. Die Gründe können bei den Autoren liegen, bei der Redaktion oder auf beiden Seiten zugleich; sie sind individuell oft sehr verständlich, haben allerdings kumulative Effekte. Für die »Zeithistorischen Forschungen« ist selbstkritisch einzuräumen, daß von bislang 29 Heften exakt eines pünktlich erschienen ist: das allererste im Januar 2004. Vandenhoeck & Ruprecht, unserem Verlag, gebührt großer Dank für das trotz allem gewährte Vertrauen. Nun sind solche Verzögerungen nicht etwa ein Ausdruck nachlässiger Organisation oder fehlenden Engagements der Beteiligten; der Hinweis auf dieses Problem möge nicht als Publikumsbeschimpfung mißverstanden werden. Zu kritisieren sind vielmehr Schieflagen eines Wissenschaftssystems, das die Dauerbetriebsamkeit und die Redundanz mitunter stärker honoriert als das ungestörte Nachdenken, das konzentrierte Schreiben und das gezielte Publizieren.

3. Zeitschriften sind angewiesen auf Mäzene und Förderer.

Abgesehen von einigen wenigen geisteswissenschaftlichen Zeitschriften, die sich durch Abonnements und Anzeigen selbst tragen, wären die allermeisten Journale der Historiographie und ihrer Nachbarfächer unter reinen Marktbedingungen nicht überlebensfähig; sie sind vielmehr dauerhaft subventionsbedürftig. Dies gilt für die »Zeithistorischen Forschungen« als Open-AccessPublikation in besonderem Maße. In der Aufbauphase der ersten fünf Jahre war es die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die uns den Start ermöglicht hat. Im Anschluß war und ist es bekanntlich das Zentrum für Zeithistorische Forschung, seinerseits getragen durch die Leibniz-Gemeinschaft, das die Rahmenbedingungen gesichert hat. Es ist an dieser Stelle wohl nicht vermessen zu sagen, daß das Institut und seine Online-Angebote wechselseitig voneinander profitiert haben und weiter profitieren. Das ZZF bietet nicht nur die finanzielle Basis, sondern ebenso eine intellektuelle Heimat; dafür ist besonders Konrad H. Jarausch und Christoph Kleßmann, Martin Sabrow und Frank Bösch sehr zu danken. Daß wir ohne die besondere Energie von Jürgen Danyel heute alle nicht hier wären, dürfte sowieso klar sein. Freilich handelt es sich bei den »Zeithistorischen Forschungen« nicht um eine klassische Institutszeitschrift, die die Arbeit des ZZF abbilden würde. Den Herausgebern und der Redaktion ist immer bewußt gewesen, daß es außerhalb des ZZF im wahrsten Sinne des Wortes noch ganze Kontinente der Zeitgeschichte gibt, die in geeigneter Form auch in der Zeitschrift Raum erhalten müssen.

4. Zeitschriften sind soziale Organismen.

Heute abend kann nur ein kleinerer Teil all derjenigen dabei sein, die an den »Zeithistorischen Forschungen« bislang mitgewirkt haben – als Autorinnen und Autoren, als Redaktions- und Beiratsmitglieder, als Gutachterinnen und Gutachter. Gerade den Beteiligten der allerersten Jahrgänge sei für den Vertrauensvorschuß noch einmal herzlich gedankt. In den vergangenen 10 Jahren haben wir rund 400 Originalbeiträge veröffentlicht. Es handelt sich hier um individuelle und kollektive Leistungen gleichermaßen. Zeitschriften werden von konkreten Akteuren konzipiert und realisiert, die eng zusammenwirken – sei es im persönlichen Austausch, in der Korrespondenz oder auch indirekt im Archiv der Zeitschrift, wo sich ältere Beiträge mit neueren thematisch ergänzen. Der möglichst direkte Kontakt mit den Autorinnen und Autoren und die dadurch entstehende Verbindlichkeit sind mir selbst besonders wichtig. Nicht weniger wichtig für die »Zeithistorischen Forschungen« ist das wunderbare Redaktionsteam, das mit je eigenen Kompetenzen und Temperamenten, mit Energie und Ausdauer diese Zeitschrift erst möglich macht. Sehr dankbar bin ich auch dafür, daß so viele Redaktionsmitglieder diesem gemeinsamen Unternehmen über viele Jahre und persönliche Karriereschritte hinweg die Treue gehalten haben. All das ist nicht selbstverständlich und eine Erfahrung, die mich über manche Durststrecken hinweggetragen hat.

5. Zeitschriften sind ein neues und ein altes Medium zugleich.

Trotz aller technischen und inhaltlichen Neuerungen sind viele Grundelemente des wissenschaftlichen Publizierens durchaus ältere, in vieler Hinsicht medienunabhängige Kulturtechniken, die sich im digitalen Zeitalter eher graduell als prinzipiell verändert haben: Das Fragen, Konzipieren, Recherchieren, Analysieren und Synthetisieren, Dokumentieren, Erzählen, Kommentieren und Kritisieren bleibt für unser Fach zentral; es läßt sich auch kaum beschleunigen. Ähnliches gilt für den Austausch zwischen Autor und Lektor, für die vielfältigen Schritte auf dem Weg vom Manuskript zur Publikation. Den Reflexionswissenschaften ist eine Verlangsamung inhärent, und dies ist keine Schwäche, sondern ihre Stärke.

6. Die Zeitschriftenlandschaft ist in den vergangenen 10 Jahren lebendiger und vielfältiger geworden.

Trotz der Kontinuitäten ist unübersehbar, wie viel sich gerade in der Zeit seit 2004 verändert hat. Zum einen wurden und werden nach wie vor Zeitschriften neu gegründet, zum anderen wandeln sich ältere, etablierte Zeitschriften ganz erheblich. Dies hängt zunächst einmal mit innerfachlichen Trends zusammen – etwa mit der verstärkten Europäisierung und Globalisierung der historischen Forschung. Zudem wirken sich veränderte Gewohnheiten der Mediennutzung (gerade auch nichtwissenschaftliche Praktiken) auf die Ebene der fachlichen Kommunikation aus. Und schließlich ist offenkundig, daß Visualität und Audiovisualität rasant an Bedeutung gewonnen haben. Für die »Zeithistorischen Forschungen« gehörte dieser Trend zum Gründungsgedanken, und die Zeitschrift hat davon stark profitiert. Das ist allerdings kein Erfolg, auf dem man sich ausruhen könnte. Flexiblere und schnellere Darstellungsformen wie Blogs haben in mancher Hinsicht Funktionen übernommen, die früher an Zeitschriften gebunden waren. Das Rezensionswesen, das lange zu den wichtigsten Aufgaben von Zeitschriften zählte, hat sich ohnehin zu großen Teilen in Portale wie »H-Soz-Kult« und »sehepunkte« verlagert. Eine Besonderheit der »Zeithistorischen Forschungen« besteht nun darin – und dies ist weiter auszubauen –, daß unsere Zeitschrift zu einem Medienverbund der »digitalen Zeitgeschichte« gehört, der sich wechselseitig ergänzt. (»Medienverbund« heißt in der Praxis, daß Annette Schuhmann – Redakteurin von »Zeitgeschichte-online« – und ich in einem nicht gerade großen Büro ziemlich gut miteinander klarkommen.)

7. Gedruckte Zeitschriften werden durch das Internet nicht obsolet, haben in einem Umfeld überwiegend digitaler Medien aber veränderte Funktionen.

Die Frage, ob und in welchem Maße neuere Medien die älteren verdrängen, ist nicht erst mit dem Internet aufgekommen. Bekannt, wenn auch umstritten ist das von einem Altphilologen im Jahr 1913 formulierte so genannte Rieplsche Gesetz, demzufolge neuere Medien die älteren ergänzen und nicht ersetzen. Ohne in diese Diskussion näher einsteigen zu wollen, läßt sich zumindest für die »Zeithistorischen Forschungen« sagen, daß sich das zu Beginn recht ungewöhnliche »hybride« Modell für unsere Zwecke bewährt hat. Die offenkundigen Vorteile des Internet nicht zu nutzen wäre fahrlässig; andererseits hat das gedruckte Medium weiterhin seinen eigenen Wert: Unabhängig von Stromquellen, Akkulaufzeiten und den gelegentlichen Tücken des Digitalen ermöglicht es ein konzentriertes Lesen, zu dem auch die ästhetische und haptische Anmutung des bedruckten Papiers beiträgt. Die wenigen gedruckten Exemplare unserer Zeitschrift sind zweifellos ein Luxus, und heute abend gibt es die seltene Gelegenheit, einige dieser Sammlerstücke aus den ersten Jahrgängen mit nach Hause zu nehmen.

8. Das Zeitschriftenmachen, sei es für den Druck oder für das Netz, ist (auch) ein Handwerk.

Die Gestaltung einer Zeitschrift ist keine bloß äußerliche Angelegenheit – nicht nur das Gefäß, sondern das Gewand der Inhalte. In unserem Fall gibt das gedruckte Medium auf den ersten Blick gewisse Zwänge vor: Während im Internet beliebig viel Platz ist, soll ein Heft nicht viel mehr als 160 Seiten haben. Immer muß ausgewählt, oft gekürzt werden. Das bedeutet aber eine gesteigerte Prägnanz, die den Leserinnen und Lesern zugute kommt, denn die Aufnahmefähigkeit ist eben auch im Internet begrenzt. Im gedruckten Heft gibt es zudem den Seitenumbruch, der für die Präsentation der Bilder und Texte nicht ganz banal ist. Die Website-Gestaltung wiederum hat ebenfalls ihre eigenen handwerklichen Regeln. Gerade jetzt, mitten im Prozeß der Erneuerung von Druckausgabe und Website, ist uns dies sehr bewußt. Mit Christine Bartlitz und seit kurzem Jens Brinkmann für die Druckausgabe, mit Lieven Ebeling und lange Zeit auch Christoph Plath für die Website hatte und habe ich tolle Kollegen, die gerade für die handwerkliche Seite Sorgfalt und Leidenschaft mitbringen.

9. Eine Zeitschrift muß eine intellektuelle Haltung und ein redaktionelles Ethos haben.

Wenn ich die Funktion unserer Zeitschrift als offenes Forum und mediales Experimentierfeld betont habe, so soll dies keine inhaltliche Beliebigkeit bedeuten. Zwar dürfte eine geschichtswissenschaftliche Zeitschrift heute gut beraten sein, sich nicht zu eng an bestimmte Themen und Methoden zu binden, die durch die nächsten Turns rasch wieder überholt sein mögen. Aber ein Grundverständnis von »Zeitgeschichte als wissenschaftlicher Aufklärung«, das in der Tradition unseres Gründungs-Mitherausgebers Christoph Kleßmann historisch-kritische Gesellschaftsanalyse und Sensibilität für die geschichtliche Pfadabhängigkeit von Gegenwartsfragen mit Genauigkeit im Handwerklichen und einer Prise westfälischer Hartnäckigkeit verbindet, scheint mir nicht die schlechteste Richtschnur zu sein. Dabei kann sich »Zeitgeschichte als wissenschaftliche Aufklärung« heute nicht mehr vorrangig auf die Historisierung von Diktaturen und die Erziehung zur Demokratie beziehen, sondern muß auch die veränderten Problemkonstellationen etablierter Demokratien und die historischen Ambivalenzen neuer globaler Ordnungsmodelle einschließen

10. Zeitschriften insgesamt und speziell die »Zeithistorischen Forschungen« werden in 10 Jahren noch einmal deutlich anders aussehen als heute.

Wie sie aussehen werden, vermag vorerst niemand mit Sicherheit zu sagen. So möchte ich dazu keine weitere These formulieren, sondern nur einen Wunsch: daß uns die Autorinnen und Autoren, die Leserinnen und Leser mit Phantasie und Fleiß, mit Lob und Kritik weiterhin begleiten mögen. Nach dem Heft ist vor dem Heft. 

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