Pathosformeln des 20. Jahrhunderts

Kommentar zu Christian Geulen

Anmerkungen

Je weiter unser Abstand zum 20. Jahrhundert wächst, desto stärker wird das historiographische Bedürfnis, den gemeinsamen Handlungs- und Deutungsrahmen zu fassen, in dem der erbitterte Kampf um die gültige Ordnung der Moderne ausgetragen wurde. Was ließ Menschen in diesem 20. Jahrhundert nach einem erlösenden Messias rufen, die Allmacht ihrer jeweiligen Weltanschauung beteuern oder „Freiheit statt Sozialismus“ fordern? Die mit dem Namen von Reinhart Koselleck verbundene Untersuchung „Geschichtlicher Grundbegriffe“ liefert einen Zugang zur unsichtbaren Welt der Vorstellungen, die Wirklichkeit als Erlebnis- und Gestaltungsraum überhaupt erst konstituieren und gerade darum in ihrer gemeinsamen Prägekraft oft wirkmächtiger sind als die unterschiedlichen Geschehnisse und widerstreitenden Interpretationen der sichtbaren Welt. Es ist an der Zeit, dem auf die Herausbildung der Moderne gewidmeten Lexikon der geschichtlichen Grundbegriffe ein Archiv der zeitgeschichtlichen Leitbegriffe zur Seite zu stellen, das die Historizität der Moderne aus dem Blickwinkel ihrer Semantiken zu erfassen sucht.

Christian Geulen bietet einen Kanon von Begriffen an, die im Zentrum eines solchen Begriffsarchivs der Moderne stehen könnten. Sie bezeichnen wichtige Bewegungskräfte des 20. Jahrhunderts wie Konsum und Medien, sie bezeichnen zeitübergreifende Prozesse und Institutionen wie Bürokratie, Verkehr, Wissen, und sie bezeichnen (jeweils historisch geprägte) anthropologische Konstanten wie Sexualität, Glaube, Leben und Konflikt. Aber sie bezeichnen nicht das, was sich mit Aby Warburg als Pathosformeln einer Zeit fassen lässt: allgemeinverbindliche Gebärden und Ausdrucksformen der Weltverständigung, die in kultureller Aufladung zu unhintergehbaren und unbefragbaren Marken menschlicher und gesellschaftlicher Orientierung wurden – und diesen Rang unter Umständen auch wieder einbüßten. „Moderne“ markiert eine solche Pathosformel, die – gleichviel, ob in Zustimmung oder Ablehnung – den Denkstil des 20. Jahrhunderts ebenso strukturierte, wie „Globalisierung“ das Denken unserer Zeit beherrscht. „Volk“ und „Klasse“, „Fortschritt“ und „Gedächtnis“, „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“, „Emanzipation“ und „Menschenrechte“, „Freiheit“ und „Sicherheit“ markieren Wortfelder und Vorstellungen, die im 20. Jahrhundert handlungsmächtige Kraft entfaltet haben und in ihrer Gültigkeit zumindest zeitweilig der distanzierenden Reflexion kaum oder gar nicht zugänglich waren. Geulen selbst diskutiert weitere, weniger prominente Pathosformeln, so etwa die eindrucksvolle Karriere des Begriffs „Umwelt“, dessen suggestive Kraft am Ende des 20. Jahrhunderts sogar die festgefügten Mauern der kommunistischen Herrschaft in Ostmitteleuropa unterminieren half. Welch umfassende Normsetzungs- und Gestaltungskraft ebenso etwa die um den Begriff der „Rationalisierung“ organisierte Vorstellung einer effizienten Gesellschaft für die Geschichte der Großordnungen des 20. Jahrhunderts besitzt, zeigt die jüngste Beschäftigung der Forschung mit dem Thema „Fordismus“.1 In welchem Maße auch scheinbar belanglose Bedeutungsverschiebungen veränderte Sinnhorizonte anzeigen und zugleich erzeugen können, mag ein so harmloses Wort wie „Altstadt“ zeigen, das noch bis in die 1970er-Jahre das mit Enge und Verwahrlosung konnotierte Sanierungsquartier meinte und seit dem Europäischen Jahr des Denkmalschutzes von 1975 rasch zum Fluchtpunkt städtischer Identitätsbildung aufgestiegen ist.

Kulturelle Ausdruckskraft, diskursives Steuerungsvermögen und transpolitische Anerkennung als semantische Instrumente allgemeingültiger Doxa einer Zeit müssten in diesem Sinne wesentliche Auswahlkriterien eines Glossars der zeitgeschichtlichen Leitbegriffe sein, das auf epochale Sinnwelten zielt. Geulen verfährt anders, und hier setzt mein kritischer Einwand an: Seine Auswahl basiert auf dem Konzept einer Historischen Semantik, die nicht nur ein Forschungsfeld und eine Analysedimension darstellt, sondern eine „eigene historische Deutungsleistung“ erbringen will, also mit einem inhaltlichen Deutungsmodell verknüpft ist. Mir erscheint diese Koppelung schon aus pragmatischen Gründen unangebracht: Sie fesselt eine vielfältig erschließbare Subdisziplin an einen einzigen theoretischen Zugriff und engt das zu untersuchende Begriffsinventar auf eine Kerngruppe von Wörtern ein, die mehr nach ihrer Beweiskräftigkeit für den gewählten Ansatz als nach ihrer historischen Gestaltungsmacht hierarchisiert werden.

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Schwerer wiegt, dass auch Geulens fraglos origineller und gedankenreicher Ansatz selbst nicht unproblematisch ist. So suggestiv die These einer Verkehrung der Beziehung von Erwartung und Erfahrung als Kennzeichen der Gegenwart ist, so angreifbar ist sie auch. Immer schon verschränkten sich Erfahrungs- und Erwartungsorientierung, und immer schon strebte die die Moderne bestimmende Spannung zwischen der Gewissheit des Gestern und der Ungewissheit des Morgen nach Auflösung. Seit jeher wurde die Einspruchskraft historischer Erfahrung in den politischen Dienst der planenden Gegenwart gestellt und die Offenheit der Zukunft im Planungshorizont von Machbarkeitsstrategien eingehegt. Nicht die Gegenwart zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Zukunft in besonderem Maß als planbar und absehbar konzipiert. Dieses Charakteristikum kommt vielmehr der kommunistischen Eschatologie zu, die die geglaubte Rationalität ihrer Utopie als Gesetzlichkeit des historischen Fortschrittsdenkens fasste und im Falle der Sowjetunion sogar mit Verfassungsrang ausstattete.2 Auch der Nationalsozialismus bemächtigte sich auf der ideologischen Grundlage eines ganz anderen, vitalistischen Geschichtsdenkens der Zukunft als einer planbaren Größe, die jedenfalls zu Hitlers Lebzeiten Deutschlands Weg zur Weltbeherrschung freigebe und deswegen entschlossen in Angriff genommen werden müsse. Dass auf der anderen Seite – nach Geulen – historische Erfahrung heute anders als in der ‚ersten‘ Moderne kein Vetorecht mehr besitze, ist gleich in doppelter Hinsicht eine schwer haltbare These: Vordergründig verfehlt sie das Selbstverständnis der an der Shoa und der zweifachen deutschen Diktaturerfahrung ausgerichteten Vergangenheitsverständigung in der Gedächtnisgesellschaft unserer Tage, deren Aufarbeitungscredo ganz auf das Lernpotenzial einer unheilvollen Diktaturgeschichte abstellt. Als Charakteristikum historischer Selbstverständigung wiederum ist die Gegenwartsabhängigkeit des Geschichtsbildes keine zäsurenbildende Ausnahmesituation, sondern der Regelfall: Wann und wo wurde historische Erfahrung nicht geschichtspolitisch überformt und im Licht der sich verändernden Gegenwart immer wieder restrukturiert?

Auch die vier von Geulen vorgeschlagenen Exponenten des semantischen Strukturwandels in der Moderne überzeugen nur partiell. Verwissenschaftlichung und Popularisierung sind nicht erst Kinder des 20. Jahrhunderts, sondern prägten die Kultur des Politischen bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, wie sich etwa an Marxens Gesellschaftstheorie ebenso ablesen lässt wie am Erfolg von Ernst Haeckels Werken „Die natürliche Schöpfungsgeschichte“ (zuerst 1868) und „Die Welträthsel“ (zuerst 1899). Die wachsende Gebrauchsvielfalt und Bedeutungsunsicherheit von epochalen Leitwörtern ist kein Spezifikum des 20. Jahrhunderts, sondern ein Kennzeichen der Moderne überhaupt, die den Nationsbegriff ebenso wie den Revolutionsbegriff nicht weniger transformierte und verflüssigte als das 20. Jahrhundert Termini wie Frieden, Demokratie oder Freiheit. Gegen die These einer fortschreitenden Tendenz zur Verräumlichung der Zeit in der Moderne ist einzuwenden, dass Transformationsprozesse der europäischen Zeitgeschichte durchaus nicht in erster Linie topographisch konnotiert sind: Individualisierung, Gewalteinhegung, Medialisierung, Konsumorientierung bezeichnen tragende Strukturveränderungen der europäischen Lebenswelt(en) seit 1945, die vielfach ohne räumliche Zuordnung auskommen, ja räumliche Kategorien zum Teil gerade aufheben. Auch hier lassen sich die Großordnungen des 20. Jahrhunderts nur schwer über denselben Leisten schlagen oder gar mit der postsystemischen Gegenwartsgeschichte nach 1989 unter dasselbe Paradigma einer zunehmenden Verräumlichung ihrer Zeitsemantik fassen. Während die nationalsozialistische Vision einer organischen Moderne Raum und Zeit gleichermaßen umfasste, wenn sie die Versöhnung von Zukunft und Vergangenheit wie von Stadt und Land, Regionalität und Zentralität versprach, formulierte das kommunistische Fortschrittspathos eine überwiegend raumunabhängige Zukunftsgewissheit, die primär auf die Zeit abstellte.

Mir scheint, dass Geulens Diagnose einer verräumlichten Zukunftsvorstellung als Signatur der ‚zweiten‘ Moderne zu statisch und unelastisch ist, um den unterschiedlichen Entwicklungslinien der politischen Semantik im 20. Jahrhundert gerecht werden zu können. Die nationalsozialistischen Vernichtungslager bildeten nach 1945 nicht von vornherein den benennbaren Ort einer Erfahrung, die sich nie wiederholen dürfe, sondern entwickelten ihre politisch-kulturelle Zentralstellung erst in einem langwierigen Prozess, der vom Schweigekonsens der Nachkriegszeit bis zur Stockholmer Regierungskonferenz über die Bedeutung des Holocaust von 2000 reichte. Erwartungen, Illusionen und Visionen spielten in der europäischen Zeitgeschichte keineswegs eine linear abnehmende, sondern vielmehr eine unterschiedliche Rolle. So stand der „stillen Modernisierung“ in der Bundesrepublik in den 1950er-Jahren das ungezügelte Pathos der kommunistischen Fortschrittsgewissheit gegenüber, und dem visionären Modernisierungswillen der Ära Brandt in der Bundesrepublik entsprach ein vergleichbarer Reformeifer der SED-Führung in den letzten Jahren der Herrschaft Ulbrichts in der DDR. Kurz: Ich plädiere gegen Geulen dafür, den angenommenen Strukturwandel der mentalen Ordnung der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts nicht schon im Vorgriff in ein theoretisches Gehäuse zu bannen. Vielmehr sollte er neben der Wirkmächtigkeit das zweite Auswahlkriterium eines Glossars der zeithistorischen Leitbegriffe bilden, das offen ist für kulturelle Eigenlogiken, für räumliche Asynchronien und zeitliche Gegenläufigkeiten.

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Vorbehaltlos folgen aber möchte ich der Beobachtung einer ihres Sinngehaltes entkleideten Zukunft, die Geulens Konzept einer Historischen Semantik zugrunde liegt. Der von ihm skizzierte Begriffswandel geht vom dramatisch geschrumpften Sinnhorizont der Zukunft in der Gegenwart aus. Auch wenn einschränkend hinzuzufügen ist, dass diese Beobachtung allein für die westliche Hemisphäre gilt,3 bildet der säkulare Wandel des Zukunftshorizontes unstreitig ein zentrales Moment der politisch-kulturellen Selbstverständigung im Europa des 20. Jahrhunderts. Allerdings scheint es mir entscheidend darauf anzukommen, diesem Wandel keine historische Linearität und Einförmigkeit zuzumessen, sondern ihn in der Konkurrenz und Interaktion unterschiedlicher Zukunftshorizonte in den einzelnen nationalräumlichen und sozialen Sinnprovinzen und ihren Artikulationsebenen aufzusuchen – von der Sprache der Macht bis zur eigensinnigen Selbstverständigung der Beherrschten. Gleiches gilt für den Aufstieg des zeitlichen Komplementärbegriffs in Gestalt des Gedächtnisses, das im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts der verblassten Fortschrittsemphase die auratische Kraft des authentischen Zeugnisses entgegenzusetzen begonnen hat. Wie viele unterschiedliche Regionen eine Überblickskarte der europäischen Gedächtnislandschaft in unserer Zeit aufweist, lehrt die Literatur zum Konzept eines gemeinsamen europäischen Erinnerungsraums.4 Neben die räumliche tritt dabei die zeitliche Differenzierungsnotwendigkeit. Für die Zeit nach 1945 lässt sich etwa in Bezug auf DDR und Bundesrepublik von der gemeinsamen Veränderlichkeit eines allerdings sehr unter-schiedlichen Zukunftshorizonts sprechen, der im östlichen Fall als fortschreitende Rationalisierung und Ritualisierung eines immer weiter entkernten Fortschrittsdenkens zu fassen ist5 und im westlichen als Herausbildung einer umfassenden Planungseuphorie nach der Inkubationszeit einer stillen Modernisierung, die im Umbruch der 1970er- und 1980er-Jahre ihre Prägekraft einbüßte und in sektorale Zonen eines ungebrochenen Fortschrittsoptimismus in den Natur- und Technikwissenschaften und ihrer Anwendungsgebiete zurückgedrängt wurde.

Ein Glossar zeitgeschichtlicher Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts hätte zu erörtern, welche weiteren Pathosformeln in ihrer Veränderbarkeit eine gleiche Ordnungsmacht im 20. Jahrhundert erlangten. Gebührt dem sprachlich fassbaren Wandel der Gewalt in der politischen Kultur des 20. Jahrhunderts analoger Rang, und welche zeitprägende Kraft steckt in der Karriere von Leitvorstellungen wie Pluralität und Individualität auf der einen Seite, Konformität und Sicherheit auf der anderen? Hier öffnet sich ein weites Feld, und Christian Geulen hat mit dankenswertem Nachdruck darauf hingewiesen, dass wir es entschlossener als bisher betreten sollten.

Anmerkungen: 

1 Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 6 (2009) H. 2: Fordismus.

2 Zum Nüchternheitsstil der kommunistischen Zukunftsutopie: Martin Sabrow, Chronos als Fortschrittsheld: Zeitvorstellungen und Zeitverständnis im kommunistischen Zukunftsdiskurs, in: Igor Polianski/Matthias Schwartz (Hg.), Die Spur des Sputnik. Kulturhistorische Expeditionen ins kosmische Zeitalter, Frankfurt a.M. 2009, S. 117-134.

3 80 Prozent der Franzosen, 73 Prozent der Deutschen und 69 Prozent der Italiener glaubten 2008, dass die nächste Generation schlechter leben werde, aber nur sechs Prozent der Chinesen. Martina Löw, Soziologie der Städte, Frankfurt a.M. 2008, S. 184, unter Bezug auf: Pew Global Attitudes Project, http://www.pewglobal.org/reports.

4 Kerstin von Lingen, Erfahrung und Erinnerung. Gründungsmythos und Selbstverständnis von Gesellschaften in Europa nach 1945, in: Archiv für Sozialgeschichte 49 (2009), S. 149-184; Stefan Troebst, Der 23. August 1939. Ein europäischer Lieu de mémoire?, in: Osteuropa 59 (2009) H. 7-8, S. 249-256.

5 So verschwand seit den 1970er-Jahren das Jahr 2000 aus der Propagandawelt des SED-Staates immer mehr, je näher es rückte. Vgl. Rainer Gries, Zum „Geburtstag der Republik“, in: Universitas 54 (1999), S. 307-311; Martin Sabrow, Zukunftspathos als Legitimationsressource. Zu Charakter und Wandel des Fortschrittsparadigmas in der DDR, in: Heinz-Gerhard Haupt/Jörg Requate (Hg., unter Mitarbeit von Maria Köhler-Baur), Aufbruch in die Zukunft. Die 1960er Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel. DDR, CSSR und Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Weilerswist 2004, S. 165-184.

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