Hubert Jedin (Hg.), Handbuch der Kirchengeschichte, 7 Bde., Freiburg/Basel/Wien: Herder 1962–1979.
Hubert Jedin (1900–1980) gilt als einer der herausragendsten katholischen Kirchenhistoriker des 20. Jahrhunderts. Zu seinen größten wissenschaftlichen Leistungen gehören die vierbändige „Geschichte des Konzils von Trient“ (1949–1975) sowie die Herausgabe und Mitautorenschaft des siebenbändigen, zehn Teilbände umfassenden „Handbuchs der Kirchengeschichte“, bis heute ein Standardwerk des Faches. Zeitlich reicht es von der „Urgemeinde“ bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965), das Jedin als Peritus (Konzilstheologe) selbst miterlebte. Das Handbuch ist insgesamt eine Kirchengeschichte im Kontext des Konzils, sowohl zeitlich1 als auch inhaltlich. Der letzte, explizit zeitgeschichtliche Band erschien 1979 und stellte dieses Konzil programmatisch in den Mittelpunkt. Nur zwei Kapitel des letzten Bandes verfasste Jedin selbst, nämlich das zweite Kapitel des ersten Abschnittes: „Die Päpste Benedikt XV., Pius XI. und Pius XII. – Biographie und innerkirchliches Wirken“ (S. 22-36) sowie eben das vierte Kapitel: „Das Zweite Vatikanische Konzil“ (S. 97-151). Aber die Bedeutung des Konzils für das Handbuch ist mit diesem im Verhältnis zum Gesamtumfang doch eher knappen Kapitel nicht erschöpft. Wichtiger erscheint Jedins innerkirchliche Bewertung des Konzils, da sie ein Licht auf sein Kirchengeschichtsverständnis und seine Hermeneutik insgesamt wirft.
Wie beurteilte Jedin also das Zweite Vaticanum? Seine Darstellung ist in einem durchweg sachlichen Stil gehalten. Erst unter der Überschrift „Wirkungen“ findet sich in Fußnote 44 ein eindeutiger Hinweis auf Jedins persönliche Meinung (Bd. VII, S. 147): „Die Zurückhaltung, zu der ich mich unmittelbar nach dem Konzil bekannt habe, kann ich auch jetzt nicht aufgeben.“2 Diese Zurückhaltung, ja Skepsis zeigt sich an derselben Stelle auch im Haupttext, wo es heißt: „Zwar ist kaum zu bestreiten, daß es [= das Konzil] einen Wendepunkt in der Geschichte der Kirche darstellt. Vieles ist in ihr in Bewegung geraten, ihr inneres Gefüge ist aufgelockert, sie hat sich ökumenisch und zur Welt hin geöffnet. Ist diese Bewegung für die Sache Jesu Christi auf Erden Gewinn oder Verlust?“ Es folgen Argumente der Kritiker und der „Progressisten“, wie Jedin die vom Konzil Begeisterten nennt. Ein Ausgleich zwischen „Tradition und Fortschritt“ müsse aber noch gefunden werden, damit „die Identität der Kirche in einer sich verändernden Welt gewahrt“ werde (ebd., S. 148). Am Ende steht nicht zufällig ein Verweis auf das Trienter Konzil (1545–1563), für das sich Jedin uneingeschränkt begeistern konnte (ebd., S. 151): „Das Trienter Konzil hätte niemals seine Wirkung ausüben können, wenn es nicht von einer Welle der Heiligkeit getragen worden wäre. Auch die Wirkung des Zweiten Vatikanischen Konzils wird davon abhängen, ob die Kirche des 20. Jahrhunderts sich im Geiste Jesu Christi erneuert.“
Für Jedin war das Trienter Konzil grundsätzlich „nicht revisionsbedürftig, aber ergänzungsfähig“.3 Fürchtete er, dass mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Tradition, wie sie in Trient grundgelegt worden war, erschüttert werden könne? In seiner Autobiographie schrieb er dazu: „Nicht vorausgesehen hatten wir, daß unserem Werk eine Mission zur Stärkung des kirchlichen Bewußtseins zufallen werde, die weit über den wissenschaftlichen Bereich hinausgeht. Der Traditionsverlust, der im Zuge der großen Umwälzungen des Zweiten Vatikanischen Konzils einsetzte, ließ sich nur eindämmen, wenn die Geschichte der Kirche, in der ihre Tradition faßbar wird, wieder stärker ins Bewußtsein gerückt wird.“4 Das aber bedeutete, dass nicht allein das Konzil von Trient, sondern die ganze Geschichte der Kirche für das Verständnis der Tradition wesentlich sei, auch wenn das Konzil von Trient, mit dessen Aufarbeitung sich Jedin drei Jahrzehnte seines Lebens beschäftigte, einen kirchengeschichtlichen Höhepunkt bedeutete. Die Arbeit am „Handbuch für Kirchengeschichte“ wurde für den Herausgeber insofern auch ein Selbstvergewisserungsprozess in einer Zeit des beschleunigten Wandels.
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Dass Geschichtsschreibung identitätsstiftend wirken kann, ist keine neue Erkenntnis. Aber konfessionelle Identität, um die es hier ging, war nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil offenbar unterschiedlich definierbar. Nicht alle Mitarbeiter des Handbuchs teilten Jedins skeptische Auffassung vom Konzil. Deshalb erläuterte er zusammen mit Konrad Repgen 1979 (Bd. VII, Vorwort, S. VIf.): „Was schließlich die innere Ausrichtung des Bandes angeht, so war – wie bei den früheren Bänden des Handbuchs – der Grundsatz maßgebend, daß die Autoren für sich selbst sprechen und insbesondere für die abgegebenen Urteile selbst die Verantwortung tragen. Wir hielten uns nicht für berechtigt, in deren Urteilsbildung einzugreifen, und können uns infolgedessen auch nicht mit jedem hier ausgesprochenen Urteil identifizieren. Alle Mitarbeiter jedoch waren sich einig im Glauben an die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche, einig auch in der Überzeugung, daß Kirchengeschichte, auch kirchliche Zeitgeschichte, der historischen Methode zu folgen hat. Bei der Auswahl und Beurteilung haben wir uns an den Grundsatz gehalten, den Joseph Ratzinger jüngst so formuliert hat: ‚Die Kirche ist einerseits nie von ihrer konkreten Erscheinung abzutrennen, aber andererseits auch nie mit ihr voll gleichzusetzen.‘“
Der gemeinsame Nenner der Autoren bestand also im Glauben an die Kirche sowie im Bekenntnis zur historischen Methode. Darin spiegelt sich das Verständnis Jedins wider, Kirchengeschichte sei Geschichtswissenschaft und Theologie in einem. Das aber ist leichter behauptet als begründet. Victor Conzemius beispielsweise lehnte 1975 die Konfessionsgebundenheit als Voraus-setzung zum Schreiben von Kirchengeschichte explizit ab.5 Die Diskussion um den theologischen Gehalt der Kirchengeschichte ist bis heute aktuell. Es lohnt sich deshalb, auf das Kirchengeschichtsverständnis Jedins näher einzugehen.
Jedin gilt heute als Vertreter einer heilsgeschichtlichen Konzeption von Kirchengeschichte.6 Was ist damit gemeint? 1962 erläuterte er sein Verständnis so (Bd. I, Einleitung, S. 2; dortige Hervorhebung): „Der Gegenstand der Kirchengeschichte ist das Wachstum der von Christus gestifteten Kirche in Zeit und Raum. Indem sie ihren Gegenstand von der Glaubenswissenschaft empfängt und im Glauben festhält, ist sie theologische Disziplin und unterscheidet sich von einer Geschichte des Christentums.“ Die theologische Fundierung liegt also in der Doppeldeutigkeit des Begriffs „Kirche“, die einerseits unveränderlich sei (vom göttlichen Ursprung ihrer Stiftung durch Jesus Christus und ihrem Leitungsprinzip durch den Heiligen Geist) und andererseits geschichtlich von ihren Mitgliedern her geprägt werde. Diesen zweiten Aspekt betonend, versuchte Jedin, die Themen der Kirchengeschichte sehr breit anzulegen. Von den möglichen Inhalten her war der Weg zu einer Christentumsgeschichte bei ihm also nicht mehr weit, wohl aber vom konfessionellen Selbstverständnis her. Unberührt von diesem blieb die Forderung, die historisch-kritische Methode ohne Abstriche anzuwenden. So schrieb Jedin bereits 1952 in einem programmatischen Aufsatz, dass die Selbstentfaltung der Kirche in Zeit und Raum auf der Grundlage der historischen Methode beschrieben werden müsse. In der heilsgeschichtlichen Betrachtung sah er hier lediglich eine Art „Scheinwerfer, der den Dom der kirchengeschichtlichen Tatsachen anstrahlt“.7
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Jedins Bekenntnis zur historischen Methode erstreckte sich dabei auch auf normative Fragen. So habe der Historiker Leistung und Versagen der historisch handelnden Menschen zunächst nach den Aufgaben zu beurteilen, die ihnen in einer konkreten Situation gestellt worden seien. Schuldbekenntnisse seien hingegen eine Angelegenheit des einzelnen Menschen, der vor Gott stehe. Die Abneigung vor dem Moralisieren prägt auch das „Handbuch für Kirchengeschichte“ – Jedins Darstellung der Päpste Benedikt XV., Pius XI. und Pius XII. ist vom Verständnis für die jeweilige Situation gekennzeichnet. Zur umstrittenen Rolle Pius’ XII. heißt es lediglich (Bd. VII, S. 33): Während des Zweiten Weltkriegs „konnte der Papst, gestützt auf seine moralische Autorität, nur noch weiter zum Frieden mahnen und zur gerechten und humanen Behandlung der Zivilbevölkerung in den militärisch besetzten Gebieten auffordern“. Das Kapitel „Das ‚Schweigen‘ des Papstes“ schrieb Konrad Repgen, der ganz auf der Linie Jedins das Moralisierende am Ausdruck „Schweigen“ kritisierte und versuchte, das Verhalten Pacellis im Rahmen seines Handlungsspielraumes zu erklären (Bd. VII, S. 94ff.).
Für die Darstellung der Kirchengeschichte im „Handbuch“ hatte das heilsgeschichtliche Verständnis Jedins insofern relativ wenig Auswirkungen. Letztlich sind heilsgeschichtliche Aussagen des Kirchenhistorikers Glaubensaussagen und damit für die Reflexion über seinen eigenen Standort relevant. Der göttliche Heilsplan liegt nirgendwo zur Einsicht aus. Auch eine permanente Erfolgsgeschichte ist auf dieser Grundlage nicht zwingend. So kann Kirchen-geschichte nach Jedin auch Unheilsgeschichte und insofern „Kreuzestheologie“ sein. Als eine „ecclesia semper reformanda“ bedürfe sie ständiger Erneuerung.8 Im Unterschied zu den Arbeiten seines Schülers Erwin Iserloh, der vor dem Hintergrund eines stärker heilsgeschichtlichen Verständnisses für ein engagiertes moralisches Urteil plädierte,9 zeichnet sich Jedins „Handbuch“ insgesamt durch seine zurückhaltenden Bewertungen aus, ohne dabei optionslos zu sein. Jedins Glaube an „historische Fakten“ war mindestens so groß wie an die Heilsgeschichte. Noch kurz vor seinem Tod schrieb er: „Der Student der Theologie [...] soll die Kirche kennenlernen, nicht wie sie sein soll, sondern wie sie ist, geworden ist und wirklich ist.“10 Die Methodendebatte um die Konstruktivität aller Historiographie kam erst später in der Kirchengeschichte an.
1 So heißt es im Vorwort von Bd. I (1962, S. VIII): „Das Handbuch tritt seinen Weg an, während das Zweite Vatikanische Konzil versammelt ist.“
2 Jedin hatte sich über das Konzil zuvor in folgenden Beiträgen geäußert: Tradition und Fortschritt. Einige Erwägungen zum geschichtlichen Ort des Vaticanum II, in: Wort und Wahrheit 21 (1966), S. 731-741; Vaticanum II und Tridentinum. Tradition und Fortschritt in der Kirchengeschichte, Köln 1968; Das Vaticanum II und die Konzilsgeschichte, in: Klerusblatt 56 (1976), S. 53-56.
3 Hubert Jedin, Lebensbericht. Mit einem Dokumentenanhang, hg. von Konrad Repgen, Mainz 1984, S. 199.
4 Ebd., S. 190.
5 Victor Conzemius, Kirchengeschichte als „nichttheologische Disziplin“. Thesen zu einer wissenschaftstheoretischen Standortbestimmung, in: Theologische Quartalschrift 155 (1975), S. 187-197.
6 Relativiert hat dieses Bild Wolfram Hoyer, Kirchengeschichte als „Heilsgeschichte“? Zum Geschichtsbild Hubert Jedins, in: Angelicum 79 (2002), S. 647-709. Hoyer teilt die kirchengeschichtliche Reflexion Jedins in vier Phasen ein und betont, dass Jedin selbst nicht bei diesem Konzept stehengeblieben sei. Die „heilsgeschichtliche Phase“ setzt Hoyer für 1953 bis 1966 an.
7 Hubert Jedin, Zur Aufgabe des Kirchengeschichtsschreibers, in: Trierer Theologische Zeitschrift 61 (1952), S. 65-78, hier S. 67.
8 Vgl. Hoyer, Kirchengeschichte (Anm. 6).
9 Erwin Iserloh, Was ist Kirchengeschichte?, in: Raymund Kottje (Hg.), Kirchengeschichte heute. Geschichtswissenschaft oder Theologie?, Trier 1970, S. 10-32.
10 Hubert Jedin, Kirchengeschichte als Theologie und Geschichte, in: Internationale katholische Zeitschrift Communio 8 (1979), S. 496-507, hier S. 500f.