Gerhard Ritter, Europa und die deutsche Frage. Betrachtungen über die geschichtliche Eigenart des deutschen Staatsdenkens, München: Münchner Verlag 1948.
Nach einer langen Unterbrechung kehrte die „Geschichte Europas“ im Zweiten Weltkrieg mit Macht auf die Agenda der internationalen Geschichtsschreibung zurück. Erste Anzeichen hierfür hatte es bereits in der krisenhaften Zuspitzung der 1930er-Jahre gegeben.1 Nicht aber die Historiographie, sondern die Propaganda im weitesten Sinne bestimmte zunächst die Richtung. Als deutungsmächtig erwies sich in Großbritannien insbesondere die Stimme Robert Vansittarts, des ehemaligen beamteten Unterstaatssekretärs im britischen Außenministerium, der seit 1940 über den britischen Rundfunk ein düsteres Gesamtbild der deutschen Vergangenheit zeichnete. In sechs Radiosendungen mit dem Titel „Black Record“ listete er eine Geschichte der deutschen Aggressionen seit den Tagen des Tacitus auf.2
Mit diesen und vielen weiteren Einlassungen auch anderer Autoren kam somit bereits im Zweiten Weltkrieg eine breite Debatte über das „deutsche Problem“ in Gang, in der neben der Frage, ob der Nationalsozialismus als Bruch oder vielmehr als Erfüllung der deutschen Geschichte zu werten sei, die These eines deutschen Sonderwegs in den Mittelpunkt rückte. Direkt nach Kriegsende fand diese Diskussion eine nahtlose Fortsetzung, wobei aus der breiten deutschlandkritischen Literatur dieser Zeit vor allem A.J.P. Taylors „The Course of German History“ (1945) hervorsticht. „Gewaltsame Oszillationen“, meinte Taylor, hätten die deutsche Geschichte seit dem 16. Jahrhundert in einem Maße geprägt, dass der Untergang der politischen Selbstständigkeit Deutschlands eine „logische“ Entwicklung ergebe.3
Pauschale Urteile dieser Art bildeten den Hintergrund für den Versuch Gerhard Ritters aus dem Jahr 1948, historiographisch darüber Rechenschaft abzulegen, wie sich „die geschichtliche Eigenart des deutschen Staatsdenkens“ - so der Untertitel seines Buches - im Vergleich zu den anderen Nationen Europas eingestellt habe, d.h. hier vornehmlich im Vergleich zu Frankreich und Großbritannien. Das Ganze sollte in der Sichtweise Ritters die „deutsche Antwort“ auf die Bücher von „Röpke, Taylor, Thieme, Vermeil und viele[n] andere[n] [darstellen], die uns alle über die völlige Verfehltheit unserer Vergangenheit zu belehren versuchen“.4 Im Kern handelt es sich bei „Europa und die deutsche Frage“ um eine bis in das 16. Jahrhundert zurückblickende ideengeschichtliche Abhandlung, die in ihrer Hauptthese herausstellen wollte, dass die Deutschen tatsächlich „keinen hoffnungslosen Sonder- und Ausnahmefall unter den europäischen Nationen“ darstellten (S. 199). Im Gegenteil: Der Nationalsozialismus mit seinen „Gewaltmethoden“ bilde - so Ritter - keine spezielle Erblast der Deutschen, sondern gehöre „in ein Zeitalter des allgemeinen Kulturverfalls und des moralischen Nihilismus“. Dessen Anfänge gingen zurück auf die Verdrängung der Kirchen aus dem Mittelpunkt des öffentlichen Lebens in der Französischen Revolution, da hierüber der Weg in den modernen Totalstaat geebnet worden sei (S. 45). Erst im Laufe des Ersten Weltkriegs sei aber das „Gehäuse des uniformen Massenmenschentums“ (S. 178) geschaffen worden, das in der Vereinigung von Nationalismus und Sozialismus schließlich die einzige Lösung seiner akuten Probleme gesehen habe.
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„Europa und die deutsche Frage“ stellt, in Kurzform, den Versuch einer „Normalisierung“ der deutschen Geschichte im Vergleich mit der Geschichte Westeuropas dar. Obwohl der Autor eingangs die Absicht bekundet, eine „nüchterne, vorurteilsfreie Revision des deutschen Geschichtsbildes“ einzuleiten (S. 9), die sich gerade nicht in „hartnäckigem Trotz“ versteigen wolle, ist die apologetische Grundstruktur seiner Ausführungen nicht zu übersehen. Vor dem Hintergrund der kritischen Analysen zeitgenössischer ausländischer Historiker und unterschiedlichster Stimmen aus dem Exil ging es Ritter darum, die West- und Mitteleuropa verbindenden Gemeinsamkeiten und Parallelen in der allmählichen Entfaltung national geprägter politischer Kulturen herauszustellen. Überall da, wo die deutsche Entwicklung von derjenigen Westeuropas abgewichen sei, erkannte er regelmäßig mehr Positives als Belastendes. So stand für Ritter nicht die vielfach behauptete Obedienzgesinnung der protestantischen Predigt im Vordergrund, sondern die sozialpolitische Leistung des „christlichen Polizeistaates“ (S. 16). Noch wichtiger war für ihn die Feststellung, dass die Politisierung der Massen durch demagogische Schlagworte aus „spezifisch unpreußischen Voraussetzungen“ erwachsen sei (S. 32). Hierin lägen auch die Wurzeln der „inneren Opposition“ gegen Hitler begründet. Umgekehrt sah Ritter an all den Stellen, wo bedenkliche Zeichen eines aggressiven deutschen Nationalismus oder auch Militarismus zutage getreten waren, ähnliche Tendenzen im zeitgenössischen Westeuropa am Werk.
Um das Resultat von Ritters „Streitschrift“ über Europa - und um eine solche handelte es sich genaugenommen - verstehen zu können, ist eine nähere Kenntnis der Entstehungsgeschichte hilfreich.5 Ihre Anfänge reichen bis 1943 zurück, als Ritter zu Vorträgen an die Universitäten Istanbul und Ankara reiste, wo er unter anderem das Thema „Die geschichtlichen Eigenarten des deutschen Staatsdenkens“ behandelte. Noch im gleichen Jahr arbeitete er eine Denkschrift zur „geistigen Abwehr britischer Geschichtsfälschungen“ aus, um - so lautete das Anliegen des Auswärtigen Amts - den Pauschalurteilen eines seit jeher militaristischen und eroberungssüchtigen Deutschland entgegenzutreten. Als hektographierter Lehrbrief unter dem Titel „Deutschland und Europa“ fanden seine Ausführungen schon während des Krieges eine relativ große Verbreitung.
Dass diese Vorlagen nach Kriegsende zu einem regelrechten Buch ausgearbeitet wurden, verdankte sich einer Anfrage des „Büros für Friedensfragen“ vom September 1947, das Ritter den Auftrag erteilte, Materialien für eine eventuelle Friedensverhandlung mit den Alliierten zu sammeln. Ohne viel Zögern stellte sich der kriegs- und nachkriegserfahrene Historiker diesem „vaterländischen Anliegen“ zur Verfügung. Ausdrücklich betonte Ritter bei der Annahme der Aufgabe, dass er „den nach dem Kriege zu erwartenden Anschuldigungen“ schon in seiner Denkschrift von 1943 entgegengetreten sei, „ohne in irgendeiner Weise die nazistischen Ideen zu verteidigen“. Ähnlich lautete die Stoßrichtung von Ritters Ausarbeitung des Jahres 1948. Seine Streitschrift sollte gegen „die allzuvielen Schriften ausländischer Autoren über das deutsche Problem mitsamt all seinen Verzerrungen des deutschen Geschichtsbildes“ ein nüchternes Bild der deutschen Vergangenheit zeichnen. Was als eine Abhandlung sine ira et studio angekündigt wurde, erfüllte zwar die Erwartungen der Auftraggeber, aber selbst diese konnten sich kaum vorstellen, dass Ritters Ausführungen ungeteilte Zustimmung finden würden, „nicht einmal in Deutschland und sicher nicht im Auslande“. Gerade dort musste Ritter heftige Kritik einstecken, die sich vornehmlich gegen die Larmoyanz des nationalkonservativen Historikers richtete. Negative Reaktionen rief vor allem der apologetische Tenor des Buches hervor, das Ritter in der Art einer Gerichtsverhandlung auf Fürsprache und Widerspruch aufgebaut hatte. An deren Ende werden die bekannten Heroen der kleindeutschen Historiographie vom Vorwurf entlastet, den Aufstieg des Nationalsozialismus in irgendeiner Weise begünstigt zu haben. Demgemäß erscheinen nicht nur das Luthertum und das Preußentum in einem recht positiven Licht mit nur ganz wenigen Schattenseiten, sondern Ritter stilisierte vor allem Bismarck in hergebrachter Tradition zum Hauptvertreter der „nüchternen Staatsraison eines Militärstaates“ (S. 83, S. 85, S. 100). In einer Lage, in der sich Historiker des In- und Auslands darum bemühten, die strukturellen Vorbelastungen der deutschen Geschichte für die Entwicklung im „Dritten Reich“ herauszuarbeiten, mussten derartige Auslassungen geradezu provozierend wirken.
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Trotzdem: Das zeitgenössische Echo war nicht einhellig, und selbst der Ritter ansonsten keineswegs freundlich gesonnene Marburger Historiker Ludwig Dehio erkannte bereits 1948 an, dass Ritter mit seinem Buch „unserem Volk einen großen Dienst erwiesen [habe], wie so leicht kein anderer - dank Ihrer zugleich wissenschaftlichen und charakterlichen Autorität“. Zudem zeigt sich mit größerer zeitlicher Distanz bei genauer Lektüre des Buches, dass der Autor durchaus an vielen Stellen einen systematischen Vergleich Deutschlands mit den Hauptmächten des westlichen Europas anstrebte. Insbesondere der Blick auf die langfristigen Wirkungen des Aufkommens nationalreligiöser Gegensätze ist aufschlussreich. Da Ritter sich jedoch primär innerhalb der Grenzen einer traditionell verstandenen Ideengeschichte bewegte und konkrete politische und gesellschaftliche Umstände für den Aufstieg des Nationalsozialismus nicht berücksichtigte, konnten seine Ergebnisse schon in den 1960er-Jahren nicht mehr genügen.
Dennoch wollte Ritter noch Ende der 1950er-Jahre an der vorgegebenen Grundstruktur des Buches festhalten, weil es den Studierenden „vom Standpunkt der heutigen revidierten Geschichtsauffassung“ eine gut lesbare Übersicht der deutschen Geschichte biete. Das Buch sei mit der Veränderung der Weltlage seit 1945 keineswegs als „erledigt“ zu betrachten. Gleichwohl hielt Ritter die Formulierung „Europa und die deutsche Frage“ nun für einen „unglücklichen Titel“, unter dem sich schon früher niemand etwas habe vorstellen können. Er sei nur zu jener Zeit angebracht gewesen, als „‚das deutsche Problem‘ der Welt noch in einem ganz anderen Sinn erschienen ist als heute, nämlich als das Problem eines angeblich von jeher militaristischen und aggressiven Staates“. Das war in Ritters Sicht nach der politischen ,Normalisierung‘ der 1950er-Jahre ausdrücklich nicht mehr der Fall. Er stellte die Neuausgabe seiner Schrift 1962 daher unter den Titel „Das deutsche Problem“, um den Anspruch zu untermauern, dass darin „Grundfragen des deutschen Staatslebens historisch“ beleuchtet würden. Von Europa war keine Rede mehr, und das wohl zu Recht. Denn letztlich erweist sich Ritters Blick auf die europäische Geschichte von 1948 als ein instrumenteller. Europa diente nur als Folie für die Abwehr kritischer Sonderwegsvorstellungen über die deutsche Geschichte. In diesem Sinne ist „Europa und die deutsche Frage“ ein Beispiel für den allmählich einsetzenden Schwanengesang einer nationalkonservativen Historiographie in Deutschland, die nach 1945 zunächst auf der Suche nach einer neuen Wertorientierung war. Einen „historiographischen Persilschein“ allerdings wollte Ritter den Deutschen mit diesem Buch ebenso wenig ausstellen.
1 Vgl. hierzu Stuart Woolf, Europe and its Historians, in: Contemporary History Review 12 (2003), S. 323-337.
2 Vgl. Jörg Später, Vansittart. Britische Debatten über Deutsche und Nazis 1902-1945, Göttingen 2003, S. 9f., S. 430-434. Siehe dazu auch die Rezension von Henning Hoff: http://www.hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=3280
3 Alan J.P. Taylor, The Course of German History, London 1945. Siehe dazu Volker Berghahn, Deutschlandbilder 1945-1965. Angloamerikanische Historiker und moderne deutsche Geschichte, in: Ernst Schulin (Hg.), Deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945, München 1989, S. 239-272.
4 Bundesarchiv Koblenz, Nl. Ritter, N 1166/331, Brief Gerhard Ritters an Leonhard von Muralt vom 23.2.1948. Ritter meinte folgende Bücher: Wilhelm Röpke, Die deutsche Frage, Erlenbach-Zürich 1945; Karl Thieme, Gott und die Geschichte. 10 Aufsätze zu den Grundfragen der Theologie und Historik, Freiburg 1948; Edmond Vermeil, L’Allemagne. Essai d’explication, 15. Aufl. Paris 1945. Vgl. zum Weiteren Christoph Cornelißen, Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001, bes. S. 490-492, S. 495f. Alle folgenden Zitate sind dort nachgewiesen.
5 Siehe dazu Cornelißen, Gerhard Ritter (Anm. 4), S. 302, S. 307f., sowie Klaus Schwabe/Rolf Reichardt (Hg.), Gerhard Ritter. Ein politischer Historiker in seinen Briefen, Boppard am Rhein 1984, S. 382, Anm. 2.