Umkämpfte Interaktionen

Flucht als Handlungszusammenhang in asymmetrischen Machtverhältnissen

  1. (Um-)Wege
  2. Konzeptionelle Überlegungen
  3. Perspektiven und Erkenntnisse des Themenhefts
  4. Das Themenheft im Kontext der Flüchtlings- und Migrationsforschung

Anmerkungen

1. (Um-)Wege

Seit 2015 macht sich eine Vielzahl von Männern, Frauen und Kindern in Italien auf den Weg, um die Alpen zu Fuß in Richtung Frankreich zu überqueren. Dazu reisen sie in der Regel über Turin mit dem Zug in das italienische Bardonecchia, warten dort den Einbruch der Dunkelheit ab und brechen anschließend zum Marsch über die Berge auf.[1] Meist handelt es sich um Menschen aus Afrika, die bereits viele Wochen, wenn nicht Monate unterwegs sind und anders, als es die sogenannte Dublin-Verordnung[2] vorschreibt, nicht in ihrem Ersteinreiseland Italien, sondern in Frankreich oder anderswo Fuß fassen bzw. Asyl beantragen wollen. Den strapaziösen und risikoreichen Weg über die Berge nehmen sie nicht zuletzt deshalb auf sich, weil sie der französischen Grenzpolizei (Police aux frontières, PAF) entgehen wollen, die seit den Terroranschlägen vom 13. November 2015 in Paris und St. Denis die französischen Staatsgrenzen erneut kontrolliert.[3]

Die Männer, Frauen und Kinder aus Afrika sind nicht die ersten, die die Rotta Alpina zu Fuß überqueren. Tatsächlich handelt es sich um eine Route, die auch Menschen aus Europa in der Vergangenheit immer wieder in die eine oder andere Richtung beschritten.[4] Mit der Überquerung der Alpen zu Fuß erneuern die aus Afrika Kommenden somit eine Route, die sich historisch bewährt hat – sie gehen ähnliche Wege wie diejenigen, die in den 1930er- und 1940er-Jahren über die Pyrenäen oder vor einigen Jahren (wieder) über den Balkan flüchteten.[5]

Sowohl auf italienischer wie auf französischer Seite hat die Bevölkerung Maßnahmen ergriffen, um den Menschen zu helfen, die in den Alpen unterwegs sind. Beispielsweise hinterlegen Bewohner/innen des Briançonnais, einer im Département des Hautes-Alpes gelegenen, an Italien angrenzenden Region in Südostfrankreich, in Berghütten (refuges) regelmäßig Lebensmittel, Getränke und warme Kleidung und patrouillieren nachts auf den Alpenpässen.[6] Aus Solidarität mit den »Snow People«, wie die über die Alpen kommenden Menschen aus Afrika in deutlicher Anlehnung an die Bezeichnung »Boat People« für die über das Meer Flüchtenden in der italienischen Presse genannt wurden,[7] bildeten sie Ende 2017 in den Bergen zudem eine Menschenkette, die ein solidarisches Band (cordée solidaire) repräsentieren und auf die schwierigen Bedingungen der Alpenüberquerung im Winter aufmerksam machen sollte.[8] Dabei setzen sich die Helfer/innen ebensolchen Gefahren aus wie diejenigen, denen sie helfen. Zum einen können auch sie bei ihren nächtlichen Runden in Not geraten. Zum anderen riskieren sie, für ihr Engagement bestraft zu werden. Denn Menschen auf der Flucht zu helfen ist in Frankreich verboten und kann mit Gefängnis- und hohen Geldstrafen geahndet werden.[9] Dass sie dieses Risiko in Kauf nehmen, begründet Philippe Zanetti, ein Bergführer aus dem Dorf Névache und einer der Hauptakteure der dortigen Hilfsmaßnahmen, damit, dass für die Helfenden das Risiko nicht so groß sei wie die Gefahr für das Leben dieser Menschen.[10] Und Denis Feuillassier, ein anderer Bergführer, erklärt, in den Bergen wie auf dem Meer dürfe niemand in Not gelassen werden.[11]

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Einer der sogenannten »Snow People« auf dem Fluchtweg in den französisch-italienischen Alpen bei Bardonecchia,
Januar 2018
(picture alliance/ZUMA Press/Danilo Balducci)

Neben denjenigen, die den über die Alpen Kommenden helfen, gibt es jene, die sie kontrollieren oder gar aufzuhalten versuchen – allen voran die Vertreter/innen des französischen Staates, neuerdings aber auch Mitglieder der rechtsextremen Gruppe »Génération identitaire«, die unter dem Banner »DEFEND EUROPE« im April 2018 Patrouillen organisierten, um, wie sie verkündeten, an der Seite der staatlichen Sicherheitskräfte die Grenze zu kontrollieren.[12] Rechtlich seien sie befugt zu intervenieren, behauptete der Sprecher der Gruppe, Romain Espino, und berief sich dabei auf Artikel 73 der französischen Strafprozessordnung, wonach jeder Staatsbürger berechtigt ist, Straftäter festzunehmen und den Justizbehörden zu übergeben.[13] Damit suggerierte er, dass sich diejenigen, die die Grenze zu passieren versuchen, strafbar machen.

2. Konzeptionelle Überlegungen

Die aktuellen Entwicklungen in den italienisch-französischen Alpen sind für das Thema Flucht in doppelter Hinsicht aufschlussreich. Zum einen werfen sie ein Licht auf die unterschiedlichen Akteure, die in Italien und Frankreich in die Flucht über die Berge verwickelt sind. Zum anderen führen sie vor Augen, dass diese Akteure – an der Schnittstelle von Gewalt und Herrschaftsordnungen, von internationalen Rechtsnormen und nationalen Interessen, von Solidarität, informeller Ökonomie und existenzieller Bedrohung – in einem Handlungszusammenhang stehen, den vielfältige und grundsätzliche Machtasymmetrien prägen. Dieser Zusammenhang wird von dem Spannungsverhältnis zwischen der »Kunst des Handelns« (Michel de Certeau)[14] und den Regimen, die aus Grenzsicherung, Migrationskontrolle und -verwaltung, Flüchtlingshilfe und Lagerorganisation, wirtschafts- und bevölkerungspolitischen Zielen etc. hervorgehen, gleichermaßen konstituiert, vorangetrieben und offengehalten.[15] Zentral ist dabei der internationale Rechtsstatus des Flüchtlings, weil er nicht nur Flucht nachträglich legitimiert, sondern zugleich Geflüchteten Schutz bietet (u.a. vor Abschiebung) und ihnen Zugang zu sozialen Rechten gewährt – ihnen also Handlungsspielräume eröffnet und dadurch nicht anders als die Staatsbürgerschaft einen »Schlüssel zur Verteilung von Lebenschancen« darstellt.[16]

Ein Zugang, der sich dafür anbietet, den Handlungszusammenhang Flucht zu untersuchen, ist Georg Simmels Machtkonzept. Simmel hat Macht als eine Form der Vergesellschaftung beschrieben, die durch Prozesse der »Über- und Unterordnung« sowie durch Wechselwirkungen zwischen beiden generiert wird, wobei er das Verhältnis zwischen Über- und Unterordnung im Unterschied etwa zu Max Weber als Konflikt versteht.[17] Auf der Seite derjenigen, die Macht über das Handeln anderer ausüben, beruht die Macht laut Simmel maßgeblich darauf, »daß das Handeln oder Leiden, der positive oder negative Zustand des Andern sich dem Subjekt [d.h. dem Herrschenden] als das Erzeugnis seines Willens darbietet«.[18] Auf der Seite der Beherrschten gründe Macht dagegen – »[s]elbst in den drückendsten und grausamsten Unterworfenheitsverhältnissen« – auf dem Bestreben, dem Willen der Machthabenden zu entgehen und jenen das eigene Handeln zu entziehen.[19] Gewalt und Zwang markieren in Simmels Konzept von Macht Momente, die die gesellschaftliche Form von Über- und Unterordnungsprozessen prägen. Sie stehen insofern zugleich für den Kampf über die Begrenzung bzw. Ausweitung von Handlungsspielräumen und damit für Scheitern oder Erfolg von Handlungen. »Wo die Bedeutung der einen Partei«, so Simmel, »auf einen Punkt sinkt, an dem eine von dem Ich als solchem ausgehende Wirkung nicht mehr in die Beziehung eintritt, kann man von Gesellschaft so wenig reden, wie zwischen dem Tischler und der Hobelbank.«[20]

Für die Untersuchung des Handlungszusammenhangs Flucht ist Simmels Machtkonzept nicht zuletzt deshalb geeignet, weil es die Möglichkeit bietet, Grenz- und Aufnahmeregelungen, Lagereinrichtungen, Verwaltungsverfahren usw. auf das Handeln von flüchtenden Menschen sowie von anderen Personen zu beziehen respektive die verschiedenen Dimensionen des Beziehungsgeflechts zu untersuchen, ohne die Wirkmächtigkeit von Migrations-, Flüchtlings- und Grenzregimen auszublenden.[21] Auf diese Weise rücken nicht nur die Beziehungen zwischen Instrumenten der Überordnung (z.B. Grenzkontrollen oder Einreise- und Aufenthaltsbeschränkungen) und Prozessen der Unterordnung in den Fokus. Räumliche Dimensionen und Dynamiken von Flucht kommen ebenfalls zum Vorschein. Insbesondere werden Räume sichtbar, die Menschen auf der Flucht physisch durchqueren oder in denen sie sich (vorübergehend) aufhalten und vergesellschaften. Diese Räume, die auf politischen Landkarten meist nicht zu finden sind und in der politischen Geographie als Gegen-Topographie bezeichnet werden,[22] sind in doppelter Weise ambivalent. Einerseits werden sie von politischen Ordnungen hervorgebracht und fordern diese zugleich heraus. Andererseits sind sie ephemer – und können dennoch verstetigt werden. Die zahlreichen Flüchtlingslager, die weltweit seit Jahrzehnten existieren, führen das eindrücklich vor Augen.

Diese Frau, die 2008 aus Somalia nach Kenia geflüchtet ist, betreibt im Lagerkomplex Dadaab einen Schönheitssalon. Im Jahr des Fotos, 2012, leben in Dadaab nach Angaben des UNHCR weit über 400.000 Menschen – manche von ihnen schon seit Anfang der 1990er-Jahre. In solchen großen Agglomerationen sind im Laufe der Zeit eigene Ökonomien und soziale Infrastrukturen entstanden. Inzwischen ist die Zahl der Bewohner/innen von Dadaab gesunken, aber viele Menschen können oder wollen nicht nach Somalia zurückkehren.(Wikimedia Commons, Oxfam East Africa, Inside the beauty salon (7550608684), CC BY 2.0)
Diese Frau, die 2008 aus Somalia nach Kenia geflüchtet ist, betreibt im Lagerkomplex Dadaab einen Schönheitssalon. Im Jahr des Fotos, 2012, leben in Dadaab nach Angaben des UNHCR weit über 400.000 Menschen – manche von ihnen schon seit Anfang der 1990er-Jahre. In solchen großen Agglomerationen sind im Laufe der Zeit eigene Ökonomien und soziale Infrastrukturen entstanden. Inzwischen ist die Zahl der Bewohner/innen von Dadaab gesunken, aber viele Menschen können oder wollen nicht nach Somalia zurückkehren.
(Wikimedia Commons, Oxfam East Africa,
Inside the beauty salon (7550608684), CC BY 2.0)

Abgesehen von Kausalitäten und Räumen kommt mit Simmels Machtkonzept die Fähigkeit zum Handeln in den Blick – nicht nur die Fähigkeit, zu flüchten oder auf der Flucht zu helfen, sondern ebenfalls »die Fähigkeit, die Handlungsmöglichkeiten Anderer einzuschränken, sei es durch Restriktionen oder Internationales Recht«.[23] Ferner treten Handlungsspielräume und -grenzen der einen wie der anderen zutage, die in der historischen Flüchtlingsforschung bislang noch kaum vermessen wurden, wie Philipp Ther in seinem Buch über »Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa« zu Recht bemängelt.[24] Zuletzt rücken die Handlungen selbst in den Vordergrund und können im Hinblick auf ihre jeweilige Wirkungskraft für die asymmetrischen Machtverhältnisse analysiert werden.

Ein Instrument, das sich für die Untersuchung dieser Handlungen eignet, ist Michel de Certeaus Handlungskonzept, zumal es die Möglichkeit bietet, mit den Handlungen zugleich das »Strukturelle« zu erfassen, das in diese »eingelassen ist«, wie es Thomas Welskopp einmal formulierte.[25] De Certeau versteht Handlung als eine doppelte Bewegung – als die Nutzung oder auch Anwendung einer Ordnung und damit gleichzeitig als einen transformierenden Eingriff in ebendiese Ordnung. Weiter gliedert er Handlungen in Strategien, die das Handeln der Machthabenden bezeichnen, und in Taktiken, die »die Kunst des Schwachen« sind und »mit dem Terrain fertigwerden [müssen], wie es das Gesetz einer fremden Gewalt organisiert«.[26] Taktiken lassen das Terrain, auf dem sie sich bewegen, sprich das Macht- und Ordnungsgefüge, nicht unbeeinflusst – ganz im Gegenteil. Sie können sowohl aktive als auch reaktive Handlungen sein.

3. Perspektiven und Erkenntnisse des Themenhefts

Ausgehend von diesen konzeptionellen Überlegungen verfolgen die aus der Geschichts-, Kultur- und Politikwissenschaft, der Soziologie und Anthropologie sowie der Literaturwissenschaft und Literatur stammenden Beiträge des vorliegenden Hefts den Handlungszusammenhang Flucht in verschiedenen geographischen und historischen Konstellationen.[27] Anhand von Deutungsmustern sowie von mündlichen, schriftlichen und audiovisuellen Zeugnissen diskutieren die Beiträge zudem epistemologische Möglichkeiten, das Handeln von Menschen auf und nach der Flucht zu erforschen. Dabei arbeiten sie eine Reihe von Perspektiven und Erkenntnissen über Flucht als Prozess der Über- und Unterordnung (im Verständnis Georg Simmels) heraus, von denen im Folgenden nur einige genannt seien.

Erstens werfen die Beiträge ein Licht auf die Herausbildung von Begriffen und Instrumenten, die solche Prozesse der Über- und Unterordnung verursachen. Anhand der Unterschiede in der statistischen Erfassung von Migration und Flucht im Deutschen Kaiserreich um 1900 sowie in der Bundesrepublik nach 1990 verdeutlicht Léa Renard, wie die Bevölkerung durch bestimmte Kategorisierungspraktiken auf je eigene Weise geordnet und hierarchisiert wurde. Dabei verweisen die von ihr herausgearbeiteten Praktiken auf ein unterschiedliches Selbstverständnis im Umgang mit Migration und Migranten: Während das Kaiserreich primär Auswanderungsbewegungen diskutierte und statistisch erfasste, versteht sich die Bundesrepublik seit der deutschen Einheit – mit auffälliger Phasenverschiebung gegenüber der tatsächlichen Migrationsgeschichte – mehr und mehr als Einwanderungsland, in dem der »Migrationshintergrund« als Persönlichkeitsmerkmal gesehen wird. Im Vordergrund der statistischen Erfassung steht die Abgrenzung »sesshafter Bevölkerungsgruppen« von Immigranten und Geflüchteten, während ihre Migrations- und Fluchtbewegungen, deren Ursachen und Folgen nicht näher betrachtet werden.

Zweitens bringen die Beiträge Strategien und Taktiken im Sinne Michel de Certeaus zur Sprache; sie verweisen zugleich auf Wechselwirkungen zwischen diesen Handlungen sowie auf davon ausgelöste Dynamiken.[28] Und solche Dynamiken wiederum verdeutlichen, dass Strategien nicht versus, sondern mit Taktiken zu sehen sind, d.h. als integrale Bestandteile von Vergesellschaftungsprozessen. So skizziert Julia Eichenberg aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive die Fluchtwege von Monarchen, Politikern, Intellektuellen und Militärs vor dem Nationalsozialismus und der deutschen Besatzungsmacht nach London. Indem sie die Etablierung europäischer Exilregierungen in der britischen Hauptstadt zwischen 1940 und 1944 rekonstruiert, arbeitet sie nicht nur die Performanz von »Macht auf der Flucht« heraus, sondern veranschaulicht ebenso, wie europäische Regierungseliten losgelöst von der Kontrolle über ihre Hoheitsgebiete nationale Souveränitätsansprüche geltend machten, die Topographie der britischen Hauptstadt veränderten und auf der Basis miteinander geteilter Erfahrungen Zukunftsvisionen für die politische Organisation Europas entwickelten. Anna Greshake richtet den Fokus demgegenüber auf die urdusprachige Minderheit in Bangladesch seit den 1970er-Jahren und in dieser Hinsicht auf die konkurrierenden Nationalstaatsprojekte in Südasien nach der britischen Kolonialherrschaft. Die Kultur- und Politikwissenschaftlerin beschreibt die multiplen und heterogenen Zugehörigkeitskonstruktionen dieser Minderheit. An den Verflechtungen solcher Konstruktionen mit den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, unter denen die Urdusprachigen in Bangladesch leben – Staatenlosigkeit, eine zum Dauerzustand gewordene Existenz in großen Flüchtlingslagern und gesellschaftliche Stigmatisierung – verdeutlicht sie die Potentiale von Gemeinschaftsimaginationen für die Entwicklung sozialer, ökonomischer oder politischer Handlungsmacht. Die Ergebnisse ihrer Studie reichen über die Beschreibung eines südasiatischen Falls hinaus, weil die Autorin auch generelle Bedeutungen von Dekolonialisierung und Diasporakulturen aufzeigt.

Der Ethnologe und Anthropologe Michel Agier untersucht in seinem für das vorliegende Themenheft aus dem Französischen übersetzten und aktualisierten Essay die Herausbildung einer Lager-Gesellschaft an der nördlichen Ärmelkanalküste Frankreichs. Er unterscheidet zwei differente Modi, »in der Zeit zu sein«: die Betriebsamkeit der Hilfe und die gedehnte Zeit des Wartens. Agier beschreibt nicht nur die prekären, für westeuropäische Maßstäbe skandalösen Lebensbedingungen in den Camps, die in Außenbezirken von Calais und zwischen dortigen Autobahnen seit dem Ende der 1990er-Jahre zu finden sind. Indem er die unterschiedlichen Strategien betriebsamer Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und die Taktiken wartender Lagerbewohner aufeinander bezieht, thematisiert er die sozialen Funktionen der Camps und die politische – von NGOs und den Lagerbewohnern etablierte – Organisation des »Dschungels von Calais«, der im Oktober 2016 geräumt und zerstört wurde.[29]

Mit dieser Beschreibung in Wort und Bild beginnt die Chronik der Zeichnerin Lisa Mandel und der Soziologin Yasmine Bouagga – eine Art ethnographisches Tagebuch in Form einer bande dessinée –, in welcher sie mit einer gehörigen Portion Humor über ihren mehrmonatigen Aufenthalt im »Dschungel von Calais« berichten. Die Zeichnung stellt ihren ersten Entwurf der Topographie des Lagers dar.(aus: Lisa Mandel/Yasmine Bouagga, Les Nouvelles de la Jungle de Calais, Brüssel 2017, S. 40; © Editions Casterman S.A./Lisa Mandel und Yasmine Bouagga; mit freundlicher Genehmigung des Verlags – alle Rechte vorbehalten)
Mit dieser Beschreibung in Wort und Bild beginnt die Chronik der Zeichnerin Lisa Mandel und der Soziologin Yasmine Bouagga – eine Art ethnographisches Tagebuch in Form einer bande dessinée –, in welcher sie mit einer gehörigen Portion Humor über ihren mehrmonatigen Aufenthalt im »Dschungel von Calais« berichten. Die Zeichnung stellt ihren ersten Entwurf der Topographie des Lagers dar.
(aus: Lisa Mandel/Yasmine Bouagga,
Les Nouvelles de la Jungle de Calais, Brüssel 2017, S. 40;
© Editions Casterman S.A./
Lisa Mandel und Yasmine Bouagga;
mit freundlicher Genehmigung des Verlags –
alle Rechte vorbehalten)

Drittens beleuchten die Beiträge räumliche und soziokulturelle Dynamiken des umkämpften Handlungszusammenhangs Flucht. Zum einen untersuchen sie temporäre oder verstetigte, aus Strategien und Taktiken hervorgegangene und Gegen-Topographien konstituierende gesellschaftliche Räume. Das gilt für die von Michel Agier und Anna Greshake betrachteten Flüchtlingslager ebenso wie für die britische Hauptstadt in Julia Eichenbergs Aufsatz. Zum anderen werfen die Beiträge ein Licht auf imaginierte, visualisierte oder erinnerte Erfahrungsräume. Kirsten von Hagen betrachtet in ihrem literaturwissenschaftlichen Essay Räume, die mit den Mitteln der literarischen Fiktion in neueren deutschen und französischen Romanen geschaffen werden – teils auch mit autobiographischen Bezügen zu den Lebenswegen der Verfasser/innen. Lisa Regazzoni untersucht erinnerte oder visualisierte Räume von Geflüchteten aus Afrika, die in Italien ankamen. Verena Boos geht in ihrem literarischen Essay einem Weg über die Pyrenäen nach, der in den 1930er-Jahren zunächst als Fluchtroute nach Frankreich bekannt war, in den 1940er-Jahren dann zur Flucht in die entgegengesetzte Richtung diente und heute als Verweis auf einen der namhaftesten Begeher Ruta Benjamin genannt wird. »Nachgehen« besitzt in diesem Zusammenhang eine doppelte Semantik: Einerseits verweist es darauf, dass die Autorin die Route selbst physisch erwandert hat. Andererseits spielt es darauf an, wem sie dabei nachgegangen ist bzw. in ihrem Text nachgeht – Walter Benjamin und seiner Fluchtgeschichte, die heute am Wegesrand mithilfe touristischer Beschilderung erzählt und von Boos sukzessive dekonstruiert wird.

Viertens schließlich diskutieren die Beiträge erkenntnistheoretische Fragen und eröffnen anhand mehrdeutiger zeithistorischer Quellen Wege zur konzeptionellen Erkundung von Fluchthandlungen. Ulrike Jureit skizziert in ihrem Essay Handlungskonzepte der Kultur-, Sozial- und Geschichtswissenschaften und befragt sie auf ihren Erkenntniswert für die Erforschung von Handlungen in komplexen Herrschaftsordnungen, speziell im Kontext von Migration und Flucht. Insbesondere setzt sie sich mit dem geschichtswissenschaftlichen Eigen-Sinn-Konzept sowie dem sozial- und kulturwissenschaftlichen Ansatz »Autonomie der Migration« auseinander. Unter der Prämisse, dass jede Handlung frei sei, solange die Möglichkeit bestehe, sich auch anders zu entscheiden, stellt sich für sie nicht das Problem, ob jemand autonom, eigensinnig oder unterwürfig handele, sondern welche Handlungsoptionen er oder sie habe, wahrnehme, sich aneigne oder geltend machen könne. Eine mögliche Antwort auf dieses Problem der Handlungsoptionen liegt für Jureit in einer Analyse, die sich auf die von Michel de Certeau beschriebenen Praktiken der Raumaneignung stützt.

In Nikola Tietzes Relektüre von Albert O. Hirschmans Buch »Abwanderung und Widerspruch. Reaktionen auf Leistungsabfall bei Unternehmungen, Organisationen und Staaten« (engl. 1970, dt. 1974) werden Fluchthandlungen als Rational Choice deutlich. Fasst man Flucht mit Hirschman als einen Ausgangspunkt für gesellschaftliche – organisationsinterne, politische wie auch ökonomische – Dynamiken, werden diejenigen, die migrieren oder fliehen, als Akteure sichtbar, mit konkreten Wirkungen auf die Stabilität oder Fragilität von Herrschaftsordnungen. Hirschmans Buch ist nicht zuletzt ein gutes Beispiel für den Einfluss von Fluchterfahrungen auf wissenschaftliches Arbeiten. Es verweist insofern auf die Notwendigkeit, Erfahrungen und Erinnerungen des 20. Jahrhunderts im wissenschaftlichen Wirken zu berücksichtigen. Das unterstreicht auch Sebastian Muschs Relektüre des Buches »The Jewish Refugee«, das Arieh Tartakower und Kurt R. Grossmann während des Zweiten Weltkrieges aus der Binnenperspektive einer Flüchtlingshilfeorganisation – des World Jewish Congress – verfassten und veröffentlichten. Sie thematisierten darin unter anderem das Scheitern bzw. die enttäuschenden Ergebnisse der internationalen Flüchtlingskonferenzen von Evian 1938 und Bermuda 1943. Darüber hinaus veranschaulicht die Relektüre den Einfluss internationaler Interessen und Organisationen auf Flucht als Handlungszusammenhang. Ferner rückt der Beitrag aktuelle Konflikte über Fluchthilfe, Grenzschließungen, staatliche Aufnahme von Flüchtlingen etc. in eine historische Perspektive.

Lisa Regazzoni hebt in ihrem Beitrag die Relevanz von Erfahrungen aus der Perspektive von Geflüchteten in der Gegenwart hervor. Anhand des Archivio Memorie Migranti, das seit einiger Zeit in Rom aufgebaut wird, diskutiert sie die Rolle von Geflüchteten als Zeugen. Dabei belegt sie aus quellenkritischer Perspektive, wie wichtig die Produktionsbedingungen für die Deutung dieser Zeugnisse sind, und verweist zugleich auf die zentrale Rolle, die Zeithistorikern und Zeithistorikerinnen als Koproduzenten und -produzentinnen solcher Dokumente zukommt. Ihre geschichtstheoretischen Reflexionen über die Generierung von Quellen sind daher nicht nur für die Flucht- und Migrationsforschung relevant, sondern für eine gegenwartssensible Historiographie insgesamt.

4. Das Themenheft im Kontext der Flüchtlings- und Migrationsforschung

Die Erforschung von Flucht steht nicht erst seit dem »langen Sommer der Migration«[30] auf der wissenschaftlichen Tagesordnung.[31] Vielmehr hat sie – das heben die Herausgeber der 2017 lancierten »Zeitschrift für Flüchtlingsforschung« zu Recht hervor – eine »lange Tradition«.[32] Mit der Reflexion über Flucht als Handlungszusammenhang in asymmetrischen Machtverhältnissen fügt sich das vorliegende Themenheft demzufolge in ein interdisziplinär wie international stark beforschtes Feld ein.[33] Inhaltlich knüpft es vor allem an fünf wissenschaftliche Diskussionsstränge an: erstens an die Untersuchung von historischen Kategorien und Zuschreibungen, die für Menschen auf der Flucht verwendet werden,[34] zweitens an die Erforschung von Handlungen unterschiedlicher Akteure vor, während und nach der Flucht, darunter auch Handlungen von Personen wie Fluchthelfer/innen,[35] drittens an die Analyse von Räumen wie Fluchtrouten,[36] Flüchtlingslagern[37] oder Städten;[38] viertens an die Erforschung von Fluchterfahrungen und -erinnerungen, etwa bezüglich ihrer Bedeutung in der bzw. für die Wissenschaft;[39] schließlich fünftens an methodische Debatten über wissenschaftliche Analysekategorien, allen voran über den Flüchtlingsbegriff.[40]

In Form einer Speisekarte mit einem internationalen Menü zeichnete der Schriftsteller und Übersetzer Erich Arendt (1903–1984) die Stationen seines Fluchtwegs. Er war 1933 aus Berlin nach Ascona in die Schweiz geflüchtet und von dort 1934 weiter nach Mallorca. Ab 1936 beteiligte er sich am Spanischen Bürgerkrieg. Nach der Niederlage der Republikaner im März 1939 gelang ihm die Flucht über die Pyrenäen nach Frankreich, wo er nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Bassens bei Bordeaux interniert wurde. Durch die Lager-Bekanntschaft mit einem Koch des kolumbianischen Konsuls vermochte er gemeinsam mit seiner Frau 1942 nach Kolumbien auszureisen, wo im Februar 1943 in Bogotá die »Speisekarte« entstand. 1950 kehrten die Arendts nach Deutschland zurück und ließen sich in der DDR nieder.(Akademie der Künste, Berlin, Erich-Arendt-Archiv, Nr. 1153)
In Form einer Speisekarte mit einem internationalen Menü zeichnete der Schriftsteller und Übersetzer Erich Arendt (1903–1984) die Stationen seines Fluchtwegs. Er war 1933 aus Berlin nach Ascona in die Schweiz geflüchtet und von dort 1934 weiter nach Mallorca. Ab 1936 beteiligte er sich am Spanischen Bürgerkrieg. Nach der Niederlage der Republikaner im März 1939 gelang ihm die Flucht über die Pyrenäen nach Frankreich, wo er nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Bassens bei Bordeaux interniert wurde. Durch die Lager-Bekanntschaft mit einem Koch des kolumbianischen Konsuls vermochte er gemeinsam mit seiner Frau 1942 nach Kolumbien auszureisen, wo im Februar 1943 in Bogotá die »Speisekarte« entstand. 1950 kehrten die Arendts nach Deutschland zurück und ließen sich in der DDR nieder.
(Akademie der Künste, Berlin,
Erich-Arendt-Archiv, Nr. 1153)

Abgesehen davon nimmt das Themenheft auch die Methodendiskussionen über die Erforschung von Migration sowie die Reflexion über neue Praktiken der Generierung und Tradierung relevanter Zeugnisse auf. Zum einen knüpft es an Debatten über die Konzeptualisierung menschlichen Handelns im Kontext von Migration an, die in den Sozial- und Kulturwissenschaften seit einigen Jahren geführt werden und an denen sich die Geschichtswissenschaft bislang kaum beteiligt hat.[41] Zum anderen steht es in einem Zusammenhang mit den Bemühungen von Museen, Archiven und Wissenschaft, Zeugnisse über und von Migranten und Migrantinnen zu produzieren und zu sammeln – das Spektrum reicht von Schriftstücken und Objekten bis zu mündlichen Überlieferungen wie Oral-History-Interviews und Musik. Ziel dieser Bemühungen ist es nicht zuletzt, Migration sowohl in der Gegenwart erfahrbar als auch in Zukunft erschließbar zu machen.[42] In dieser Hinsicht ist das vorliegende Heft nicht nur als ein Beitrag zur Erforschung von Flucht, sondern zugleich als einer zur Erforschung von Migration zu verstehen. Damit ist die Hoffnung verbunden, dass Wissenschaft – hier besonders die Disziplin Zeitgeschichte – die tagesaktuellen Debatten und Entscheidungszwänge durch eigene Perspektiven und Erkenntnisse bereichern, womöglich auch moderieren oder korrigieren kann. Geschichts- und Sozialwissenschaftler/innen sind letztendlich selbst Teil des umkämpften Handlungszusammenhangs, den Flucht darstellt, weil sie das Verhältnis von reflexiver Distanz und engagierter Kritik, von Vergangenheitsdeutung und Gegenwartsbezug immer neu zu gewichten haben.[43]

Anmerkungen:

[2] Die Dublin-Verordnung besteht aus drei aufeinanderfolgenden Übereinkommen, kurz Dublin I, II und III genannt. Im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) regelt sie die Kooperation der EU-Mitgliedstaaten bei der Zuständigkeit für und Bearbeitung von Asylanträgen. Wenn sich ein Mitgliedstaat »in Bezug auf die Durchführung dieses materiellen Asylverfahrens für unzuständig« hält, »nachdem er Adressat eines Antrags geworden ist«, »muss er in einem geordneten und kooperativ angelegten Verfahren den zuständigen Mitgliedstaat bestimmen, bevor er die betreffende Person dorthin überstellen kann (Art. 20 ff. Dublin-III-VO)«. So Tobias Brings/Anuscheh Farahat/Maximilian Oehl, Von wegen »Rückkehr zum Recht«: Warum die deutsche Grenzpolitik den Maßgaben des Dublin-Systems entspricht, in: VerfBlog, 9.3.2016. Einen Überblick zur Entwicklung der Dublin-Verordnung bietet folgende Informationsbroschüre: Europäische Kommission, Das Gemeinsame Europäische Asylsystem, Luxemburg 2014.

[3] Nach diesen Anschlägen proklamierte die französische Regierung den état d’urgence (Ausnahmezustand), den das französische Parlament sechs Mal erneuerte (vgl. <http://www.vie-publique.fr/actualite/faq-citoyens/etat-urgence-regime-exception/>). Die Regierung schränkte in diesem Zusammenhang u.a. die europäischen Freizügigkeitsregeln ein und verschärfte die Grenzkontrollen. Diese Maßnahmen werden trotz der Proteste von Bürgerrechts- und Flüchtlingshilfevereinen auch nach dem Ende des état d’urgence am 1. November 2017 aufrechterhalten und im Rahmen des am 3. Oktober 2017 erlassenen Antiterrorismus-Gesetzes gerechtfertigt. Zur Geschichte der Anwendung des état d’urgence siehe u.a. Florent Guénard, Contre le terrorisme, la législation d’exception? Entretien avec François Saint-Bonnet, in: La Vie des idées, 23.11.2015. Im Hinblick auf den Weg über die Berge ist nicht bekannt, wie viele Menschen bei der Überquerung der Alpen in den vergangenen Jahren umkamen, während für die Anzahl der Personen, die auf See den Tod fanden, zumindest Schätzungen vorliegen. Zu den Schätzungen der 2015 und 2016 im Mittelmeer Ertrunkenen siehe Philipp Ther, Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa, Berlin 2017, S. 23.

[4] Beispielhaft dafür sind die vielen tausend Italiener/innen, die nach dem Zweiten Weltkrieg über die Alpenpässe nach Frankreich wanderten, ohne sich im Rahmen der französisch-italienischen Vereinbarungen staatlich vermitteln zu lassen. Siehe u.a. Yvan Gastaut/Philippe Hanus, Migrants italiens à destination des Alpes françaises après 1945: une mobilité sous surveillance?, in: La pierre et l’écrit 22 (2011), S. 183-207; ferner Bettina Severin-Barboutie, Migration als Bewegung am Beispiel der Städte Stuttgart und Lyon nach 1945, Habilitationsschrift Justus-Liebig-Universität Gießen 2018, S. 95-102.

[5] Zu Fluchtrouten über die Pyrenäen siehe u.a. den Beitrag von Verena Boos in diesem Heft; ferner Florian Schneider, Der Fluchthelfer, in: Eva Horn/Stefan Kaufmann/Ulrich Bröckling (Hg.), Grenzverletzer. Von Schmugglern, Spionen und anderen subversiven Gestalten, Berlin 2002, S. 41-57; Eva Horn, Der Flüchtling, in: ebd., S. 23-40; Corinna von List, Die Fluchthilfenetzwerke Marie-Claire und Marie-Odile. Zwei Gründerinnen, eine überlebte Geschichte, in: Francia 43 (2016), S. 227-247; Joseph Calvet, Las montañas de la libertad. El paso de evadidos por los pirineos durante la Secunda Guerra Mundial 1939–1944, Madrid 2010, v.a. S. 36-39; Anna Seghers, Transit [1944/48], 17. Aufl. Berlin 2017; zur Route über den Balkan siehe Navid Kermani, Einbruch der Wirklichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa, München 2016; David Lagarde u.a., Traversée des Balkans, parcours de migrants: être en cours de route en Bosnie-Herzégovine (épisode 1), in: Réseau Migrations, 7.11.2015; Traversée des Balkans, parcours de migrants: être en cours de route en Bosnie-Herzégovine (épisode 2), in: Réseau Migrations, 7.11.2015; sowie Parcours de réfugiés syriens entre la Jordanie et l’Allemagne, in: Conflits et migrations. Réflexions sur les catégories et la généalogie des migrations au Moyen-Orient, 17.10.2016.

[6] Zum Teil haben sich die Helfer und Helferinnen sogar institutionell zusammengeschlossen. Beispielhaft ist die im September 2015 ins Leben gerufene Bewegung »Pas En Notre Nom Briançon«, die heute den Namen »Tous migrants« trägt. Siehe <https://tousmigrants.weebly.com>; ferner Julien Duriez, Le Briançonnais secourt les migrants qui traversent le col enneigé de l’Échele, in: La Croix, 14.12.2017. Zur Hilfe und Unterstützung auf italienischer Seite siehe folgende Zeitungsartikel: Floriana Rullo, Maltempo, 5 migranti tentano passaggio in Francia nelle neve e finiscono congelati, in: Corriere Torino, 11.12.2017; Massimiliano Peggio, Dieci migranti salvati dall’assideramento al confince francese. Un cartello: risciate la morte, in: La Stampa, 11.12.2017.

[7] Francesci Battistini, A piedi nudi nel ghiaccio: è sulle Alpi l’ultima rotta dei migranti, in: Corriere della Sera, 18.12.2017.

[8] Kim Hullot-Guiot, Migrants: de plus en plus dur, in: Libération, 17.12.2017.

[9] Maryline Baumard, Aide aux migrants: le délit de solidarité pourrait être »adapté«, in: Le Monde, 21.4.2018.

[10] Lourdes Picareta, Grenzrebellen. Flüchtlingsretter in den französischen Alpen (frz.: La frontière solidaire. Secourir les migrants sur la route des Alpes), ausgestrahlt auf Arte am 5.3.2018.

[12] Militants identitaires dans les Alpes: les autorités dénoncent »une opération de communication«, in: Le Monde, 30.4.2018. In den sozialen Medien behaupteten Anhänger sogar, der Polizei vier illegale Personen übergeben und dafür gesorgt zu haben, dass weitere sieben von der Grenzpolizei festgenommen worden seien (vgl. ebd.).

[13] Ebd.

[14] Michel de Certeau, Kunst des Handelns [1980], Berlin 1988.

[15] Aus der umfangreichen internationalen Forschung zu Grenz- und Kontrollregimen siehe auf Deutsch u.a. folgende historische Studien: Jochen Oltmer (Hg.), Handbuch Staat und Migration in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, Berlin 2016; Henrik Bispinck/Katharina Hochmuth (Hg.), Flüchtlingslager im Nachkriegsdeutschland. Migration, Politik, Erinnerung, Berlin 2014; Agnes Bresselau von Bressensdorf, Das globale Flüchtlingsregime im Nahen und Mittleren Osten in den 1970er und 1980er Jahren, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 66 (2016) H. 26-27, S. 32-39; ferner folgende sozialwissenschaftliche Studien: Sonja Buckel, Managing Migration – Eine intersektionale Kapitalismusanalyse am Beispiel der Europäischen Migrationspolitik, in: Berliner Journal für Soziologie 22 (2012), S. 79-100; Monika Eigmüller, Grenzsicherungspolitik. Funktion und Wirkung der europäischen Außengrenze, Wiesbaden 2017; Steffi Marung, Die wandernde Grenze. Die EU, Polen und der Wandel politischer Räume, 1990–2010, Göttingen 2013; Vassilis Tsianos/Serhat Karakayali, Transnational Migration and the Emergence of the European Border Regime: An Ethnographic Analysis, in: European Journal of Social Theory 13 (2010), S. 373-387; Sabine Hess/Bernd Kasparek (Hg.), Grenzregime. Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa, Berlin 2010; Katharina Inhetveen, Die politische Ordnung des Flüchtlingslagers. Akteure – Macht – Organisation. Eine Ethnographie im südlichen Afrika, Bielefeld 2010; siehe ferner Didier Fassin, Vom Rechtsanspruch zum Gunsterweis. Zur moralischen Ökonomie der Asylvergabepraxis im heutigen Europa, in: Mittelweg 36 25 (2016) H. 1, S. 62-78; sowie Albert Scherr, Die Abschwächung moralischer Empörung. Eine Analyse politischer Reaktionen auf zivilgesellschaftliche Proteste gegen Gesetzesverschärfungen und Abschiebungen, in: Zeitschrift für Flüchtlingsforschung 1 (2017), S. 88-105.

[16] Dieter Gosewinkel, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2001, S. 15. Aus der rechtswissenschaftlichen Forschung siehe u.a. Kay Hailbronner/Daniel Thym, Grenzenloses Asylrecht? Die Flüchtlingskrise als Problem europäischer Rechtsintegration, in: JuristenZeitung 71 (2016), S. 753-763; zum Flüchtlingsstatus in historischer Perspektive: Gérard Noiriel, Représentation nationale et catégories sociales. L’exemple des réfugiés politiques, in: Genèses 26 (1997), S. 25-54; Lutz Raphael, Zwischen Duldung, Einbürgerung und Privileg. Die Zugehörigkeitsrechte Fremder in der europäischen Rechts- und Sozialgeschichte der Neuzeit, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 129 (2012), S. 183-213; in sozialwissenschaftlicher Perspektive: Norbert Cyrus, Die Flüchtlinge und ihr Status. Praktische Implikationen einer defizitären Rechtsstellung, in: Cinur Ghaderi/Thomas Eppenstein (Hg.), Flüchtlinge. Multiperspektivische Zugänge, Wiesbaden 2017, S. 113-127; Insa Breyer, Keine Papiere – keine Rechte? Die Situation irregulärer Migranten in Deutschland und Frankreich, Frankfurt a.M. 2011.

[17] Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe, Bd. 11, hg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt a.M. 2013, S. 160ff. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie [1922], Tübingen 1972, S. 28, definiert Macht als »Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen«. Im Vordergrund seiner Macht-Konzeptualisierung stehen die Einflüsse derjenigen, die Macht ausüben, nicht aber, wie bei Simmel, die Interaktionen in einem von Machtasymmetrien strukturierten Handlungszusammenhang.

[18] Simmel, Soziologie (Anm. 17), S. 160, Hervorhebung im Original.

[19] Ebd., S. 161.

[20] Ebd.

[21] Über das Verhältnis zwischen Mikro- und Makroebene in Migrationsprozessen hat die geschichts-, kultur- und sozialwissenschaftliche Forschung in den vergangenen Jahren wiederholt diskutiert. Zuletzt hat Anne Friedrichs für eine relationale Migrationsgeschichte plädiert und Vorschläge gemacht, wie man diese schreiben könnte. Siehe Anne Friedrichs, Placing Migration in Perspective. Neue Wege einer relationalen Geschichtsschreibung, in: Geschichte und Gesellschaft 44 (2018), S. 167-195; dies., Das transatlantische Migrationssystem und ein Bergmann in Westfalen. Wie schreibt man eine relationale Migrationsgeschichte?, in: dies. u.a. (Hg.), Migration. Gesellschaftliches Zusammenleben im Wandel, Paderborn 2018, S. 175-196.

[22] Siehe Sophie Hoffmann, Politische Gegen-Topographie internationaler Migration, in: Berliner Debatte Initial 28 (2017) H. 4, S. 66-73, bes. S. 67-69.

[23] J. Olaf Kleist, Über Flucht forschen. Herausforderungen der Flüchtlingsforschung, in: Peripherie 35 (2015), S. 150-169, Zitat S. 160.

[24] Ther grenzt in diesem Zusammenhang existenzielle Flucht, die »die einzige Chance darstellt, sich vor schwersten Misshandlungen und vor dem Tod zu retten«, von prädeterminierter Flucht ab, die auf Vertreibung oder »ethnische Säuberungen« zurückgeht. Ihm zufolge verändern sich die Handlungsspielräume substantiell im Fall proaktiver Flucht, die mit der Hoffnung verbunden ist, sich vor Gefahren in Sicherheit zu bringen, und im Fall optionaler Flucht, die in einer bestimmten Situation eine unter anderen Handlungsmöglichkeiten darstellt. Damit verweist er das Handeln von Flüchtenden sowie ihre Partizipation an dem asymmetrischen Handlungszusammenhang Flucht – wenn auch unausgesprochen – auf eine Rational-Choice-Entscheidung, d.h. auf die subjektive Hoffnung, mit der Flucht die Macht über die eigene Handlungsfähigkeit zu vergrößern. Siehe Ther, Außenseiter (Anm. 3), S. 289-291. Ther macht es daher zu einem zentralen Ziel seines Buches, »Faktoren zu identifizieren, die darüber entscheiden, wann für Flüchtlinge gute, wann eher schlechte Bedingungen herrschen und wie sich dieser Wandel erklären lässt« (S. 15).

[25] Thomas Welskopp, Der Mensch und die Verhältnisse. »Handeln« und »Struktur« bei Max Weber und Anthony Giddens, in: Thomas Mergel/Thomas Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft, München 1997, S. 39-70, hier S. 45.

[26] De Certeau, Kunst des Handelns (Anm. 14), S. 21-26, S. 85-92, Zitat S. 89.

[27] Einen Überblick zu Fluchtbewegungen in Europa im 20. Jahrhundert bietet Marcel Berlinghoff, Europa ohne Flüchtlinge? Flucht und Gewaltmigration in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, in: Berliner Debatte Initial 28 (2017) H. 4, S. 29-40.

[28] Wegen derartiger Wechselwirkungen und Dynamiken erkennen zum Beispiel Ayşe Çağlar und Nina Glick Schiller in Migration einen integralen Bestandteil von und einen »Beitrag zu sozialen, historischen und politischen Prozessen«. Vgl. dies., Wider die Autonomie von Migration: Eine globale Perspektive auf migrantische Handlungsmacht, in: Zeitschrift für Kulturwissenschaften 5 (2011) H. 2, S. 147-150, hier S. 148.

[29] Zum »Dschungel von Calais« siehe ferner Thomas Müller, Raum und Grenze des Jungle von Calais. Eine politisch-geographische Skizze, in: Andreas Fickers u.a. (Hg.), Jeux sans Frontières? Grenzgänge der Geschichtswissenschaft, Bielefeld 2017, S. 95-108.

[30] Bernd Kasparek/Marc Speer, Of Hope. Ungarn und der lange Sommer der Migration, 7.9.2015, URL: <http://bordermonitoring.eu/ungarn/2015/09/of-hope/>.

[31] Seither sind zahlreiche Publikationen über Flucht erschienen, darunter auch eine Reihe von Zeitschriften-Themenheften. Siehe u.a. Argument 58 (2016) H. 4: Migration und städtisches Leben. Zur Dialektik der »Flüchtlingskrise«; Aus Politik und Zeitgeschichte 65 (2015) H. 25: Flucht und Asyl; Aus Politik und Zeitgeschichte 66 (2016) H. 14-15: Zufluchtsgesellschaft Deutschland; Aus Politik und Zeitgeschichte 66 (2016) H. 26-27: Flucht historisch; Berliner Debatte Initial 28 (2017) H. 4: Flüchtiges Europa; Comparativ 27 (2017) H. 1: Modern Refugees as Challengers of Nation-State Sovereignty. From the Historical to the Contemporary; Erich Maria Remarque Jahrbuch 27 (2017): Menschenbeben. Ursachen, Formen und Folgen von Flucht; Global Humanities 3 (2016): Migration and State Power; Hungarian Historical Review 6 (2017) H. 3: Migration and Refugees; Kritische Justiz 49 (2016) H. 2: Flüchtlingsrecht; Kursbuch 183 (2015): Wohin flüchten?; leibniz 2/2016: Flucht; Mittelweg 36 25 (2016) H. 1: Wandern. Zur Globalgeschichte der Migration; Mittelweg 36 26 (2017) H. 2: Neues Deutschland; Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 28 (2017) H. 2: Flucht & Asyl; Peripherie 35 (2015) H. 2: Dis-Placement: Flüchtlinge zwischen Orten; Prokla 183 (2016): Ökonomie der Flucht und der Migration; WZB Mitteilungen 151 (2016): Flucht, Aufnahme, Abwehr. Die herausgeforderte Gesellschaft.

[32] Marcel Berlinghoff u.a., Editorial, in: Zeitschrift für Flüchtlingsforschung 1 (2017), S. 3-8, Zitat S. 3.

[33] Eine systematische Zusammenschau jüngster Entwicklungen bietet Kleist, Über Flucht forschen (Anm. 23).

[34] Siehe etwa Sylvie Aprile/Delphine Diaz, L’Europe et ses réfugiés politiques au XIXe siècle, in: La Vie des idées, 15.3.2016; hommes & migrations 1321 (2018): Les mots de l’exil dans l’Europe du XIXe siècle; Catherine Gousseff, L’exil russe. La fabrique du réfugié apatride (1920–1939), Paris 2008.

[35] Siehe etwa Schneider, Fluchthelfer (Anm. 5); von List, Fluchthilfenetzwerke (Anm. 5).

[36] Siehe u.a. Gousseff, L’exil russe (Anm. 34), S. 19-40; Calvet, Las montañas (Anm. 5); sowie die geographische Studie von David Lagarde, Sur les routes de l’exil syrien. Récits de vie et parcours migratoires des réfugiés de Deir Mqaren, Diss. Universität Toulouse 2018. Wir danken Catherine Gousseff für diesen Hinweis.

[37] Die internationale und interdisziplinäre Forschung ist sehr umfangreich. Siehe aus der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft u.a. Mathias Beer, Die deutsche Nachkriegszeit als Lagergeschichte. Zur Funktion von Flüchtlingslagern im Prozess der Eingliederung, in: Bispinck/Hochmuth, Flüchtlingslager im Nachkriegsdeutschland (Anm. 15), S. 47-71; Jeannette van Laak, Einrichten im Übergang. Das Aufnahmelager Gießen (1946–1990), Frankfurt a.M. 2017; ferner aus der sozialwissenschaftlichen Forschung in Deutschland: Inhetveen, Die politische Ordnung des Flüchtlingslagers (Anm. 15).

[38] Vgl. etwa Karl Schlögel, Das Russische Berlin. Ostbahnhof Europas, ergänzte u. aktualisierte Neuausg. München 2007.

[39] Aus der Vielzahl an Publikationen sei hier nur verwiesen auf Peter Burke, Exiles and Expatriates in the History of Knowledge, 1500–2000, Waltham 2017, und auf den Forschungsschwerpunkt »Migration und Wissen« des Deutschen Historischen Instituts in Washington.

[40] Siehe etwa Berlinghoff u.a., Editorial (Anm. 32), S. 4f.; Kleist, Über Flucht forschen (Anm. 23), S. 158f.; ferner jüngst Christoph Kalter, Rückkehr oder Flucht? Dekolonisierung, Zwangsmigration und Portugals retornados, in: Geschichte und Gesellschaft 44 (2018), S. 250-284, der sich für eine Ausweitung des Flüchtlingsbegriffs stark macht.

[41] Exemplarisch dafür sind die Auseinandersetzungen über das Konzept der »Autonomie der Migration«, mit dem sich Ulrike Jureit im vorliegenden Heft beschäftigt.

[42] Verschiedene Städte haben sogar Projekte lanciert, um die Dokumentation der eigenen urbanen Migrationsgeschichte sicherzustellen. Eine Vorreiterrolle hat in diesem Zusammenhang München gespielt, mit dem Projekt »Migration bewegt die Stadt«. Anderswo sind Speicherorte entstanden oder im Entstehen begriffen. So hat die Stadt Salzburg vor einigen Jahren gemeinsam mit der dortigen Universität und dem Stadtarchiv im Haus der Stadtgeschichte ein »Migrationsarchiv« eingerichtet, in welchem Material über Ein- und Auswanderung gesammelt wird. Siehe Wolfgang Gratzer (Hg.), Salzburg: Sounds of Migration. Geschichte und aktuelle Initiativen, Wien 2016; Sylvia Hahn/Sabine Veits-Falk (Hg.), Migrationsstadt Salzburg. Kommen, Gehen, Bleiben. Dokumentation zu den Ausstellungen »Migrationsstadt Salzburg – Teil 1« (23. Mai – 1. Juli 2013), »Migrationsstadt Salzburg – Teil 2« (23. Mai – 6. Juli 2014), Salzburg 2014. Auf Lampedusa ist vor einigen Jahren ein musealer Raum eingerichtet worden, in welchem Objekte zu sehen sind, die an den Stränden der Insel gefunden werden. Siehe das Interview mit Giacomo Sferlazzo, Objekte von Migranten von der Müllhalde ins Ausstellungsregal. Der Raum Porto M auf Lampedusa als politische Erinnerungspraxis, in: Lisa Regazzoni (Hg.), Schriftlose Vergangenheiten. Geschichtsschreibung an ihrer Grenze – von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart, Berlin 2019, S. 327-339 (im Erscheinen). Zur Bedeutung und Entwicklung von Migration in Museen und Archiven siehe ferner IMIS-Beiträge 51 (2017): Die Szenographie der Migration. Geschichte. Praxis. Zukunft; sowie Roland Deigendesch/Peter Müller (Hg.), Archive und Migration. Vorträge des 73. Südwestdeutschen Archivtags am 21. und 22. Juni 2013 in Stuttgart, Stuttgart 2014.

[43] Zum Verhältnis zwischen Forschenden und ihren Forschungsobjekten siehe u.a. Michael Werner/Bénédicte Zimmermann, Beyond Comparison. Histoire Croisée and the Challenge of Reflexivity, in: History and Theory 45 (2006), S. 30-50.

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