Die Urschrift

Zur Originalurkunde des Versailler Vertrages von 1919

  1. Ein Frieden verschwindet
  2. Entscheider und Schreiber
  3. Im Druck

Anmerkungen

1. Ein Frieden verschwindet

Auf den Beginn des Zweiten Weltkrieges reagierten die Archivare des französischen Außenministeriums mit kühlem Realismus. Angesichts der Tatsache, dass man auf der anderen Seite des Rheins seit zwei Jahrzehnten gegen das »Diktat von Versailles« zu Feld gezogen war, lag es auf der Hand, dass die am Quai d’Orsay verwahrte Original­urkunde des Friedensvertrages vom 28. Juni 1919 vor jedwedem Zugriff deutscher Eroberer in Sicherheit gebracht werden musste. Noch während der Mobilisierungsphase im September 1939 wurden darum ältere Pläne der Bestandssicherung aktiviert und die Pariser Friedensverträge zusammen mit anderen zentralen Unterlagen in geheime Depots an der Loire verlagert.1

Aus juristischer Perspektive ließe sich zwar nüchtern feststellen, dass eine deutsche Beschlagnahme des Dokuments an der rechtlichen Gültigkeit des Friedensvertrages ebenso wenig etwas geändert hätte wie die bereits zuvor erfolgten Verstöße oder der durch Hitler einseitig erklärte Rücktritt von einzelnen Bestimmungen.2 Doch welche Bedeutung hatte die im Juni 1919 angefertigte Urschrift von Versailles dann? Wie hingen Symbolkraft und Rechtskraft zusammen? Die nachstehenden Überlegungen versuchen, sich anhand der Originalurkunde des Friedensvertrages einem Rechtstext anzunähern, dessen normativer Gehalt zwar allgemein bekannt zu sein scheint, dessen individuelle Ausfertigung und materielle Gestalt jedoch nicht so einfach zu fassen sind: Wie entstand die »Urschrift« des Versailler Vertrages, und inwiefern ist es überhaupt sinnvoll, hier von einem Original zu sprechen?

Unterschriften und Siegel des Versailler Vertrages,
28. Juni 1919
(bpk/Staatsbibliothek zu Berlin)

Im Sommer 1940 zeigte sich jedenfalls, dass die französische Sorge vor einem zielgerichteten Zugriff des Kriegsgegners auf die Bestände des Quai d’Orsay berechtigt gewesen war. Nachdem deutsche Truppen ab dem 10. Mai die Niederlande, Belgien und Luxemburg überrannt hatten, standen sie kaum einen Monat später vor den Toren von Paris. Während sich das diplomatische Führungspersonal mit der Regierung über Tours nach Bordeaux zurückzog, wurde der imposante Bau des Außenministeriums am 14. Juni 1940 von der einrückenden Wehrmacht in Besitz genommen. Dass sich kaum noch relevante Unterlagen zusammentragen ließen, verhinderte nicht eine ausgedehnte Plünderung. »Jede Tür aufgebrochen, jeder Schreibtisch geknackt«, so bilanzierte ein deutscher Besucher wenig später die gespenstische Atmosphäre der menschenleeren Büros. »Kläglich hängen die Schubladen aus den pompösen ›Bureau d’acajou‹. Ströme von Briefen haben sich zur Erde ergossen […].«3

Als der Verfasser dieser Zeilen, der junge Wehrmachtsgefreite und Historiker Felix Hartlaub, das Ministerium zu Jahresbeginn 1941 erstmals besuchte, war der Dokumentenschatz des Quai d’Orsay jedoch bereits in deutschen Händen. Am 28./29. Juni 1940 waren die Auslagerungsorte in der Nähe von Tours entdeckt worden. Entgegen geltendem Kriegsrecht wurden sämtliche Akten beschlagnahmt und teils nach Berlin, vor allem aber zurück nach Paris transportiert, wo sich Hartlaub mit anderen Historikern und Archivaren im Dienste des Auswärtigen Amtes daran machte, die Bestände auszuwerten. Nicht wenige Veröffentlichungen stützten sich in der Folge auf die französischen Akten, um mit mehr oder minder propagandistischem Zungenschlag die Entstehung und den Niedergang der Versailler Ordnung aus deutscher Sicht darzustellen.4 Wichtiger war jedoch, dass in den bei Tours entdeckten Unterlagen auch die Originale der Friedensverträge von Versailles und Saint Germain auftauchten. Im August 1940 kamen sie unter der Obhut des Leiters des deutschen Beschlagnahmekommandos, Eberhard Freiherr von Künsberg, in Berlin an, wo sie mutmaßlich Adolf Hitler und Außenminister Joachim von Ribbentrop präsentiert wurden, dann aber in einem Safe des Auswärtigen Amtes in der Wilhelmstraße verschwanden.5

Über den weiteren Verbleib der Versailler Originalurkunde liegen kaum gesicherte Erkenntnisse vor. Eine Präsentation im Rahmen eines Propagandafilms wurde zwar erwogen, verlief aber im Sande.6 Als Trophäe des deutschen Sieges wurde das Dokument jedenfalls nie genutzt, ganz im Gegensatz zum Eisenbahnwaggon von Compiègne, in dem sowohl 1918 als auch 1940 der Waffenstillstand unterzeichnet worden war und der anschließend mehrfach in Berlin ausgestellt wurde.7 Man mag darüber spekulieren, ob sich die Symbolkraft des »Schandvertrages« angesichts des bald eskalierenden Zweiten Weltkrieges verbraucht hatte und die NS-Führung inzwischen in ganz anderen, planetarischen Dimensionen dachte, vor denen die deutsch-französische Feindschaft auf eine Fußnote des 19. Jahrhunderts zusammenschrumpfte.8 Nach 1941 verliert sich die Spur des Friedensvertrages im Schattenreich der Weltgeschichte. Zwar lassen sich weder eine heimliche Verwahrung irgendwo im damaligen Reichsgebiet noch eine spätere Verbringung in die Sowjetunion ausschließen. Eine Vernichtung in den Berliner Feuerstürmen am Ende des Krieges ist jedoch nach wie vor am wahrscheinlichsten.9

2. Entscheider und Schreiber

Wie konträr wirken demgegenüber die Anfänge: Jeder Schritt in der Entstehung des Versailler Vertrages schien im hellen Licht der Weltöffentlichkeit zu erfolgen, vom feierlichen Auftakt der Friedenskonferenz am 18. Januar 1919 in Paris und der Übergabe des Entwurfs an die deutsche Delegation am 7. Mai bis hin zur Unterzeichnung im Spiegelsaal des Versailler Königsschlosses am 28. Juni. Es handelte sich um sorgfältig inszenierte, vom internationalen Publikum aufmerksam verfolgte Ereignisse, in denen sich bereits die neuen Kräfteverhältnisse des massenmedialen Zeitalters ankündigten – vom Druck der öffentlichen Erwartungen über den Einsatz neuer Medien wie des Films bis hin zum kalkulierten Spiel der Entscheidungsträger mit der Presse.10

Doch man sollte sich von Lichterglanz und Medienresonanz nicht blenden lassen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich rasch, dass die Entstehungsgeschichte der Versailler Originalurkunde kaum besser ausgeleuchtet ist als ihre Verlustgeschichte in den Wirren des Zweiten Weltkrieges. Die pauschale Feststellung, dass der Frieden durch die in Paris versammelten Siegermächte ausgearbeitet worden sei, ist für sich genommen nichtssagend. Wohl geben die Protokolle der Verhandlungen einen guten Einblick, wie erbittert hinter den Kulissen gerungen wurde, und es ist auch bekannt, dass nicht wenige Streitfragen erst in direkten Gesprächen zwischen den »Großen Vier«, den Regierungschefs der alliierten Hauptmächte Georges Clemenceau, David Lloyd George, Vittorio Orlando und Woodrow Wilson, entschieden werden konnten. Doch wie aus dieser dynamischen Kommunikationssituation zunächst ein kohärenter Vertragstext, sodann eine authentische, rechtsverbindliche Urschrift entstand, lässt sich nicht einfach sagen. Weder über die Ausformulierung einzelner Artikel noch über die praktische Herstellung der Urkunde, die eigentlich ein voluminöser Foliant von mehr als 400 Druckseiten war, liegen sonderlich viele Informationen vor.

Der erste Schritt zur Entscheidungsfindung erfolgte innerhalb der Kommissionen der Friedenskonferenz, in denen die über 1.000 Delegierten einzelne Sachfragen des Friedens berieten.11 Die dabei erzielten Ergebnisse wurden jedoch nicht nur in einem Abschlussbericht festgehalten, sondern sollten auch schon als Artikelentwürfe ausformuliert werden. Das war ein unübliches Verfahren, beruhte aber auf der optimistischen Vorstellung, dass sich diese einzelnen Entwürfe umstandslos zu einem Gesamtvertrag würden addieren lassen. Demnach wäre der Friedensvertrag gleichsam automatisch aus den Empfehlungen der Kommissionen erwachsen, die nur noch summarisch von der Plenarversammlung bestätigt oder, im Einzelfall, angepasst worden wären. Eine solche Rationalisierung der Beschlusswege entpuppte sich indes rasch als Illusion, und zwar nicht nur, weil die »Großen Vier« in allen umstrittenen Punkten eine alleinige Entscheidungskompetenz reklamierten. Vielmehr hatte sich schon während der Beratungen in den Kommissionen gezeigt, dass Empfehlungen und Entwürfe oftmals nicht eindeutig ausfielen, sondern – je nach Interessenlage, politischer Konstellation und sozialer Dynamik – beträchtliche Interpretationsspielräume ließen.

Entscheidend war darum, wie mit solchen unbestimmten Beschlüssen, aber auch mit den wechselnden Begrifflichkeiten, Überschneidungen und Lücken der Vorlagen umgegangen wurde. Als Herausforderung erwies sich zudem, dass der Vertragstext sowohl in englischer wie in französischer Sprache maßgeblich sein sollte. Die Ausformulierung und Kollationierung fiel nach den Konferenzstatuten einem fünfköpfigen Redaktionskomitee zu, das mit Juristen aus den Delegationen der alliierten Hauptmächte besetzt worden war. In der Forschung vielfach unbeachtet geblieben oder als bessere Sekretäre abgetan, entpuppten sich diese Rechtsexperten bald als die eigentlichen Architekten des Friedensvertrages. Unter dem Vorsitz von Henri Fromageot – der als Rechtsberater des Quai d’Orsay sozusagen das Hausrecht besaß – kam das Redaktionskomitee nahezu täglich im Obergeschoss des französischen Außenministeriums zusammen, um die politischen Entscheidungen der Konferenz möglichst geräuschlos in einen soliden Rechtstext zu überführen und den eigentlichen Wortlaut der meisten Artikel zu formulieren.12

Das war, trotz aller Anmutung einer bloß technischen Aufgabe, eine eminent heikle Angelegenheit. Einerseits verbanden sich damit oftmals Eingriffe in die Vorschläge der Sachkommissionen, die teilweise ihre eigenen Beschlüsse später kaum mehr wiedererkannten.13 Andererseits geriet das Redaktionskomitee in die Rolle eines formalistischen Widerparts auch zu den »Großen Vier«. Was die Regierungschefs dilatorisch behandelten oder nach ermüdenden Diskussionen in allenfalls vage Kompromisse gießen konnten, kam von den Juristen nicht selten schon am nächsten Tag mit pedantischen Rückfragen zurück. Trotzdem konnten sich die Regierungschefs den Hinweisen ihrer subalternen Schriftführer selten entziehen. Allen Beteiligten war bewusst, dass ein systematischer Überblick unverzichtbar war, um aus den verstreuten Beschlüssen und inkonsistenten Begrifflichkeiten einen kohärenten Vertrag zu erstellen. Diese Herkulesaufgabe brachte nicht nur die verantwortlichen Juristen bis an ihre Belastungsgrenze, sondern ließ am Ende ein imposantes Gesamtkunstwerk von 440 Artikeln nebst zahlreichen Anhängen und Anlagen entstehen; schon Zeitgenossen erschien der Versailler Vertrag als »the most exhaustive and remarkable document of its kind that the world has ever seen«.14

Dass diese untergründige Kopplung von Entscheidungsfindung und Verschriftlichung in der Forschung oft ignoriert wird, hängt vermutlich mit dem Rechts­verständnis moderner Gesellschaften zusammen, welches sich auf die normative Kraft abgeschlossener Texte gründet. Demnach waren die näheren Umstände einer Vertragsentstehung – ausgenommen vielleicht die Ausübung eines unmittelbaren Zwangs auf eine Partei – ebenso zu vernachlässigen wie heimliche Motive der Vertragspartner. Allein die mit Unterschriften bezeugte Einverständniserklärung der Rechtssubjekte verlieh einer Urkunde ihre juristische Qualität. Vor der egalitären Majestät des Rechts waren die realen Autoren des Versailler Vertragstextes daher ebenso bedeutungslos wie die physische Beschaffenheit der Originalurkunde oder die Art und Weise ihrer Herstellung.

3. Im Druck

Eine solche Privilegierung des Inhaltlichen entsprach den seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert rasch wachsenden Möglichkeiten der Drucktechnik. Schreibmaschine, Hektographie und Matrizenabzug, Linotype und Offsetdruck trugen dazu bei, die Vervielfältigung von Geschriebenem zu schematisieren und zu beschleunigen.
Je einfacher sich Texte reproduzieren und in die ganze Welt übermitteln ließen, desto mehr Eigenständigkeit gewann der eigentliche Wortlaut und desto unwichtiger wurde das zugrundeliegende Schreibmedium. Die Notwendigkeit, eine Urschrift durch besondere Verfahren der Authentisierung abzusichern, die korrekte Überlieferung zu verbürgen oder einen Textinhalt durch Äußerlichkeiten nochmals zu bestätigen, nahm ab oder wurde jedenfalls auf wenige, stark formalisierte Merkmale – wie die eigenhändige Unterschrift eines bevollmächtigten Vertreters – beschränkt. Eine Diplomatik neuzeitlicher Staatsverträge, welche der Materialität der Urkunden besondere Beachtung schenkt, findet sich im 20. Jahrhundert demgegenüber kaum noch.15

Die Ausfertigung des Versailler Vertragsoriginals war in dieser Hinsicht ein typisches Beispiel. Von einer besonderen Urkunde war während der Beschlussfassung und Niederschrift kaum irgendwo die Rede. Stattdessen folgte bereits die Ausformulierung der rationalisierten Herstellungsweise eines massenhaften Druckerzeugnisses. Die Papierstapel, die sich im Arbeitsraum des Redaktionskomitees türmten, bestanden aus den meist über Nacht gesetzten Abzügen einzelner Vertragsabschnitte, welche die jeweils letzten Änderungen enthielten und in die wiederum neue Korrekturen eingetragen wurden; in einzelnen Nachlässen finden sich zuweilen noch nicht aufgeschnittene Druckbögen mit dem Wortlaut in seinen einzelnen Stadien.16 Angesichts des ungeheuren Regelungsbedarfs überrascht es nicht, dass keine besondere Debatte darüber geführt wurde, ob der Vertrag überhaupt in gedruckter Form ausgefertigt werden könne oder, wie es der Tradition hochpolitischer Staatsangelegenheiten entsprochen hätte, in handschriftlicher Form auf Pergamentpapier niedergelegt werden müsse. Die rechtliche Qualität des Vertragswerkes hing davon nicht ab, sodass nur noch am Rande eine handschriftliche Ausfertigung erwartet wurde. Die Londoner »Times« hatte beispielsweise im Vorfeld darüber spekuliert, wie es einem Kopisten des Quai d’Orsay angesichts des enormen Umfangs gelingen könne, »to deprive the Peace Treaty of the barbarity of a printed document by transcribing its terms in a fair hand upon parchment«17 – und zwar ein Exemplar für jede Vertragspartei!

Letztlich wurde für die Druckfassung zwar hochwertiges Büttenpapier ausgewählt. Doch die Probleme lagen zunächst woanders. Der hektische Abschluss des Vertragsentwurfs vom 7. Mai war mit dem Preis eines überhastet fertiggestellten, stark fehlerbehafteten Wortlauts erkauft worden. Es waren darum vermutlich nicht allein die deutschen Delegierten, die sich in den folgenden Wochen mit verzweifelter Miene über den Text beugten, sondern ebenso die Mitglieder des Redaktionskomitees. Das Verzeichnis der zu korrigierenden Flüchtigkeits-, Satz- und Druckfehler wurde immer länger; es umfasste am Ende stolze 15 Seiten.18 Daneben mussten ab Anfang Juni die inhaltlichen Zugeständnisse eingearbeitet werden, welche die alliierten Regierungen nach den deutschen Gegenvorschlägen vom 29. Mai einzuräumen bereit waren. Für diese Änderungen wurde keine neue Fassung gedruckt – vielmehr wurde ein Exemplar des originalen Entwurfs aus dem Mai mit roter Tinte handschriftlich ergänzt, damit die Änderungen sofort sichtbar wären. Nachdem dieser speziell präparierte Band am 16. Juni zusammen mit einer Mantelnote übergeben worden war, lag der authentische Wortlaut auf alliierter Seite jedoch nur noch in Form eines einzelnen Arbeitsexemplars der Juristen vor. Er müsse unverzüglich eine weitere Abschrift der gemachten Änderungen anfertigen, schrieb William Malkin vom Redaktionskomitee am nächsten Tag nach Hause: »[T]here are now only two complete copies of the Treaty in existence, one of which is presumably now at Weimar and the other in my room here [...].«19

Die deutsche Seite war zwar über die geringen inhaltlichen Zugeständnisse empört, monierte aber zunächst formale Unstimmigkeiten zwischen der Mantelnote und dem Vertragstext. Da zudem nur ein einziges Exemplar übergeben worden sei, habe man diese Fassung noch nicht »Wort für Wort« mit dem Entwurf vom 7. Mai überprüfen können; allerdings seien jenseits der handschriftlichen Zusätze bereits Divergenzen in den vorgelegten Druckfassungen aufgefallen.20 Von alliierter Seite wurden daraufhin 200 Exemplare der nunmehr gesetzten und gedruckten Endfassung übergeben sowie wenig später die Liste der bis dahin stillschweigend korrigierten Errata. Angesichts der deutschen Drohung, vor jeder Unterschrift den Vertragstext nochmals in seiner Gesamtheit nachzuprüfen, gab Clemenceau überdies die offizielle Erklärung ab, dass die zur Unterzeichnung vorgelegte Fassung mit den übersandten Exemplaren textidentisch sein werde.21

Andere Delegationen sorgten sich ebenfalls um den exakten Wortlaut. Die britischen Gesandten hatten schon Mitte Juni die Anweisung erhalten, unverzüglich 200 Exemplare für den akuten Bedarf nach London zu schicken, sobald der Vertragstext endgültig feststehe. Zwar wurden für die Beratungen im britischen Parlament wenigstens 2.000 bis 3.000 Exemplare veranschlagt. Diese sollten jedoch durch das Foreign Office in Großbritannien gedruckt werden, auch weil die Imprimerie nationale in Paris, die sämtliche Drucksachen der Friedenskonferenz besorgte, den anderen Vertragsnationen stattliche 17 Francs für jedes Exemplar berechnete.22

Wie aber ließ sich aus diesem seit ungefähr Mitte Juni zirkulierenden Druck des Vertragstextes eine authentische Originalfassung herstellen? Um ein einzelnes Exemplar als Urschrift ausweisen zu können, war der Rückgriff auf vormoderne, aber etablierte und übliche Praktiken der Authentisierung unumgänglich: Neben der eigenhändigen Unterschrift der bevollmächtigten Vertreter sollte eine Beglaubigung durch ihre Siegel erfolgen. Kurzfristig wurde entschieden, diese Besiegelung aus Zeitgründen und mit Blick auf den erforderlichen Aufwand jedoch nicht während der eigentlichen Unterzeichnungszeremonie in Versailles vorzunehmen. Am 26. Juni forderte der französische Protokollchef die Sekretäre der jeweiligen Gesandtschaften vielmehr auf, sich schon am kommenden Nachmittag, dem Vorabend der Vertragsunterzeichnung, am Quai d’Orsay einzufinden, um das zur Urfassung bestimmte Exemplar mit dem persönlichen Siegel zu versehen. Das war leichter gesagt als getan, denn damit gerieten all jene Delegierten in Aufruhr, die kein persönliches Siegel führten oder es zumindest nicht nach Paris mitgebracht hatten. Dies traf besonders auf die Gesandten der britischen Dominions zu, die sich am späten Abend und mit großem Getöse noch Siegelringe und vergleichbare Utensilien besorgen mussten; den vielfach kolportierten Erzählungen zufolge fiel die Wahl auch auf provisorisch umfunktionierte Uniformknöpfe und Münzen.23

Die Vertreter des französischen Außenministeriums mussten am Folgetag gleichfalls improvisieren. Obwohl der Salle d’Horloge, der repräsentative Versammlungsraum der Friedenskonferenz im Außenministerium, für die Prozedur feierlich hergerichtet worden war, stellte sich zu Beginn heraus, dass dort keine Steckdose vorhanden war, um das offenbar eigens angeschaffte elektrische Schmelzgerät für den Siegellack anzuschließen. Die versammelten Delegationsvertreter mussten erst in einen kleineren Nachbarraum umziehen, bevor sie ihre Siegelstöcke in das rote, heiß aufgebrachte Wachs drücken konnten – die Farbe verwies auf den souveränen Rang der vertragsschließenden Parteien. Für den amerikanischen Delegationssekretär Joseph Grew handelte es sich um einen brenzligen Vorgang: »It was indeed a breathless moment when the first drop of melted wax was allowed to drop beside the place reserved for President Wilson‘s signature; it might have run, it might have burnt a hole in the treaty!«24

Realiter war die Besiegelung wohl nicht ganz so dramatisch. Zwar hätte die Druckerei nur mit Mühe noch rechtzeitig eine neue Kopie in gleicher Ausstattung herstellen können. Doch die Siegel wurden zunächst auf einem separaten Bogen angebracht, dessen leere Seiten – gleich dem übrigen Vertragstext – einen roten Rahmen aufwiesen. Dort sollten die Delegierten am nächsten Tag ihre Unterschriften leisten. Vor dem Anbringen der Siegel war durch drei Löcher im Papier ein rotes Siegelband gezogen worden, sodass es naheliegt, dass dieser Bogen erst im Anschluss mit dem übrigen Vertragswerk verbunden wurde.25

Damit war das Originaldokument soweit vorbereitet, dass es am Folgetag, dem 28. Juni 1919, nach Versailles gebracht werden konnte. Inmitten der zahlreichen Staats- und Ehrengäste trug ein Beamter des französischen Außenministeriums die Lederschatulle mit dem Friedensabkommen feierlich durch die Eingangspforte herein. Im Herzen der Spiegelgalerie und an drei Seiten von den Tischen der Delegierten umgeben, war ein kleiner Tisch im barocken Stil mit rotgepolstertem Stuhl platziert worden. Dort wurde der Vertrag mit zwei weiteren Dokumenten zur Unterschrift bereitgelegt.26 Damit war gleichsam der Nullpunkt der Versailler Friedensordnung gesetzt, um den sich nun die Bevollmächtigten der Vertragsparteien zur Unterschrift versammelten. Den Anfang machten kurz nach 15 Uhr die hereingerufenen deutschen Delegierten, woran sich die Gesandten der anderen Nationen in alphabetischer Reihenfolge anschlossen. Zeitweilig drohte die Zeremonie zwar im Durcheinander umherlaufender Menschen und eines anschwellenden Stimmengewirrs unterzugehen. Doch in weniger als einer Stunde war sie vorbei. Die deutschen Gesandten wurden durch einen Seiteneingang nach draußen geleitet, während sich die Vertreter der Siegermächte im Schlossgarten öffentlich feiern ließen. Von der Urschrift des Versailler Vertrages wurde noch eine Reihe offizieller Fotos der Unterschriftenseiten gemacht, bevor sie – wenngleich nur für rund 20 Jahre – in den Archiven des Quai d’Orsay verschwand.

Am Ende war der Versailler Vertrag, so der Konsens der jüngeren Forschung, besser als sein Ruf. Aber welche Bedeutung hatte er jenseits der inhaltlichen Bestimmungen? Während sein Erregungspotential und seine aufwühlende Kraft für die Weimarer Öffentlichkeit häufig diskutiert werden, sind materielle Aspekte eher selten in den Blick geraten. Das Schicksal der Versailler Originalurkunde, ihre Entstehung und ihr Verlust, verweist deshalb vor allem darauf, wie selten die dingliche Grundlage von Rechtstexten in der Moderne noch eine Rolle spielt. Für die Gültigkeit der friedensvertraglichen Bestimmungen war das unterschriebene und gesiegelte Exemplar, zu dem ein halbes Jahr später auch die Ratifikationsurkunden und das entsprechende Protokoll über ihren Austausch gefügt wurden, beinahe irrelevant. Eine politische Konstellation, in der ein Rückgriff auf das Original beweisrechtlich notwendig gewesen wäre, lässt sich kaum vorstellen; bereits die millionenfache Reproduktion des Vertragstextes, vom Abdruck des vollen Wortlauts in der »New York Times« schon am 10. Juni 1919 bis zu mehreren deutschen Volksausgaben, unterlief jede Notwendigkeit, einzelne Artikel im Original nachzuprüfen. Trotzdem war der Versailler Frieden ohne die Existenz einer Urschrift, welche den Bindungswillen aller Vertragsparteien juristisch dokumentierte, nicht vorstellbar. Dass die NS-Diktatur der Vertragsurkunde um jeden Preis habhaft werden wollte, unterstreicht die Symbolkraft weit über alle inhaltlichen Bestimmungen hinaus. Insofern lässt sich resümieren: Auch wenn der normative Geltungsanspruchs des modernen Rechts imma­teriell, omnipräsent und auf eine unüberschaubare Menge von Sprechakten und Handlungen gegründet ist, so bleibt es immer noch an einzelne, symbolhafte Objekte gebunden.


Anmerkungen:

1 Vgl. Vincent Laniol, Des archives emblématiques dans la guerre: le destin »secret« des originaux des traités de Versailles et de Saint-Germain pendant la seconde guerre mondiale, in: Guerres mondiales et conflits contemporains 229 (2008), S. 21-41, hier S. 22-27.

2 Vgl. Adolf Hitler, Erklärung der Reichsregierung vom 30.1.1937, in: Verhandlungen des Reichstages. Stenographische Berichte, Bd. 459, Berlin 1938, S. 2-17, hier S. 10C.

3 Felix Hartlaub, Das eroberte Ministerium, in: ders., Kriegsaufzeichnungen aus Paris, Berlin 2011, S. 104-112, hier S. 107.

4 So unter anderem Kurt Egon Freiherr von Turegg, Die alliierten und assoziierten Hauptmächte. Rechtsform einer gescheiterten Weltordnung, Berlin 1942. Siehe aber auch spätere Verwendungen wie Ludwig Zimmermann, Frankreichs Ruhrpolitik von Versailles bis zum Dawesplan, Göttingen 1971; Erwin Hölzle, Die Selbstentmachtung Europas. Das Experiment des Friedens vor und im Ersten Weltkrieg. Unter Verwertung unveröffentlichter, zum Teil verlorengegangener deutscher und französischer Dokumente, Göttingen 1975.

5 Vgl. Ulrich Pfeil, Archivraub und historische Deutungsmacht. Ein anderer Einblick in die deutsche Besatzungspolitik in Frankreich, in: Francia 33 (2006) H. 3, S. 163-194, hier S. 170-187.

6 Vgl. ebd., S. 188f.

7 Vgl. Hermann Schäfer, Deutsche Geschichte in 100 Objekten, München 2015, S. 401-405.

8 Vgl. Pfeil, Archivraub (Anm. 5), S. 167, mit Verweis auf Hagen Schulze, Versailles, in: Etienne François/Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München 2001, S. 407-421, hier S. 421.

9 Vgl. Laniol, Des archives emblématiques (Anm. 1), S. 39f.; Daniel Schranz, Der Friedensvertrag als Beutestück. Zum Schicksal der Originalurkunde des Versailler Vertrages im Zweiten Weltkrieg, in: Gerd Krumeich (Hg.), Versailles 1919. Ziele, Wirkung, Wahrnehmung, Essen 2001, S. 342-348, hier S. 346f.

10 Vgl. Jörn Leonhard, Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923, München 2018, S. 681-687; daneben etwa Verena Steller, Zwischen Geheimnis und Öffentlichkeit. Die Pariser Friedensverhandlungen 1919 und die Krise der universalen Diplomatie, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 8 (2011), S. 350-372; Joseph Raymond Hayden, Negotiating in the Press. American Journalism and Diplomacy, 1918–1919, Baton Rouge 2010.

11 Vgl. Frank S. Marston, The Peace Conference of 1919. Organization and Procedure, London 1944, S. 84-95, S. 146f.

12 Vgl. Marcus M. Payk, Frieden durch Recht? Der Aufstieg des modernen Völkerrechts und der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg, München 2018, S. 318-355.

13 Vgl. etwa das Protestschreiben des Vorsitzenden der Kommission für die Internationalisierung von Häfen, Wasserstraßen und Eisenbahnen: Silvio Crespi an Georges Clemenceau, Brief vom 23.4.1919, in: Archives diplomatiques, La Courneuve, Service Juridique, Fonds Fromageot, Box 4.

14 Harry Hansen, The Adventures of the Fourteen Points. Vivid and Dramatic Episodes of the Peace Conference from its Opening at Paris to the Signing of the Treaty of Versailles, New York 1919, S. 299. Siehe auch Jörg Fisch, Krieg und Frieden im Friedensvertrag. Eine universalgeschichtliche Studie über Grundlagen und Formelemente des Friedensschlusses, Stuttgart 1979, S. 612.

15 Zur Erschließung moderner Akten siehe etwa Jürgen Kloosterhuis, Amtliche Aktenkunde der Neuzeit. Ein hilfswissenschaftliches Kompendium, in: Archiv für Diplomatik 45 (1999), S. 465-563. Für das weitere Feld hingegen Cornelia Vismann, Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt a.M. 2000, 3. Aufl. 2011.

16 So im Nachlass des amerikanischen Vertreters James Brown Scott, Georgetown University Special Collections, Scott Papers, Box 25/10. Siehe auch Payk, Frieden durch Recht? (Anm. 12), S. 325.

17 Drafting the Peace, in: Times, 19.4.1919, S. 12.

18 Abgedruckt als Corrections Typographiques, in: Herbert Kraus/Gustav Rödiger (Hg.), Urkunden zum Friedensvertrage von Versailles vom 28. Juni 1919, 2 Bde., Berlin 1920, Bd. 1, S. 703-718.

19 William an Margret Malkin, o.D. [17.6.1919], in: Churchill Archives Centre (CAC), Cambridge, UK, Malkin Papers, MALK 1-2.

20 Vgl. Haniel an Clemenceau, Note vom 20.6.1919, in: Kraus/Rödiger, Urkunden zum Friedensvertrage (Anm. 18), Bd. 1, S. 685-687.

21 Vgl. Clemenceau an Haniel, Note vom 27.6.1919, in: ebd., S. 728.

22 Vgl. Crowe an Curzon, Brief vom 11.6.1919, in: The National Archives, Kew, UK, FO 608/163, Bl. 195f. Auf heutige Verhältnisse übertragen, schlugen die Kosten eines Exemplars mit rund 120 Euro zu Buche.

23 Vgl. James Headlam-Morley, A Memoir of the Paris Peace Conference, 1919, London 1972, S. 179f.; Maurice Hankey, The Supreme Control at the Paris Peace Conference 1919. A Commentary, London 1963, S. 185. Die Siegel der deutschen Minister wurden am Morgen des 28. Juni von französischen Offizieren im Delegationshotel in Versailles abgeholt und damit erst kurz vor der Unterzeichnung aufgebracht; vgl. Herbert Kraus, Tagebuchaufzeichnung über die Unterzeichnung des Vertrages von Versailles vom 28. Juni 1919. Privatdruck, Göttingen 1954, S. 2, S. 18f.

24 Joseph C. Grew, Turbulent Era. A Diplomatic Record of Forty Years, 1904–1945, 2 Bde., Boston 1952, Bd. 1, S. 392.

25 Für einen solchen leeren Bogen siehe etwa das Exemplar des Versailler Vertrages aus dem Nachlass von William Malkin: CAC, Malkin Papers, MALK 1-6. Dieser Band ist eines von sechs Exemplaren, die als Andenken für das Redaktionskomitee gedruckt wurden.

26 Vgl. Kraus, Tagebuchaufzeichnung (Anm. 23), S. 12.

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