Erleben, Verstehen, Vergleichen

Eine soziologische Perspektive auf die auditive Wahrnehmung im 20. Jahrhundert

Anmerkungen

Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, seit Grammophon und Telefon ist es möglich, Schallphänomene verschiedenster Art auf Tonträger zu speichern und über größere Distanzen hinweg zu verbreiten. Schallerzeugung und -wahrnehmung wurden zeitlich und räumlich voneinander entkoppelt – die Wahrnehmung bedeutungstragender und ästhetisch gestalteter Klänge wurde von der Anwesenheit schallerzeugender Personen (Sprecher, Sänger, Instrumentalisten) unabhängig. Bislang flüchtig gebliebene Situationsgeräusche konnten nun festgehalten und an ferne Rezipienten verbreitet werden – Anwesenheit und Notation waren keine Grundbedingungen mehr für die Tradierung von Musik. In den 1920er-Jahren entstand mit dem Radio zudem das erste Echtzeit-Massenmedium, das die Technologien von Telephonie und Funk kombinierte und ein großes, räumlich verstreutes Publikum gleichzeitig mit akustischen Reizen belieferte. Speichertechnologien (Schall- und Wachsplatten, später Tonbänder) erlaubten es schließlich, unterschiedlichste Schallphänomene auf ein durchgestaltetes Endresultat hin zu arrangieren, dem seine technischen Herstellungsbedingungen oft nicht anzumerken sind. Diese neuen Audiotechnologien schufen also neuartige Hörkontexte und -gelegenheiten, welche die auditive Wahrnehmung im 20. Jahrhundert entscheidend geprägt haben.

Thomas Lindenbergers Vorschlag, diese Möglichkeit „‚authentische[r]‘ Sinneseindrücke in tendenziell unbegrenzten öffentlichen Räumen“ zur Bestimmung der gegenwärtigen Epoche zu nutzen,1 markiert den zeitgeschichtlichen Rahmen dieses Beitrags, der eine soziologische Perspektive auf das Auditive unter den Bedingungen seiner medientechnischen Verfügbarkeit entwirft. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Sinneswahrnehmung, vor allem die auditive, ein in der Soziologie höchstens am Rande thematisierter Sachverhalt ist. Um den theoretischen Stellenwert der sich im 20. Jahrhundert neu etablierenden Wahrnehmungsweisen zu erfassen, ist es deshalb sinnvoll, zunächst eine Ergänzung zum herkömmlichen mediensoziologischen Kommunikationsbegriff vorzunehmen: Medientechnologien schaffen nicht nur Kommunikationskanäle, auf denen Informationen mitgeteilt werden, sondern sie bieten auch sinnesspezifische Wahrnehmungschancen und vermitteln insofern immer mehr als nur Information. Von dieser Überlegung ausgehend wird zunächst nach dem soziologischen Stellenwert der Sinne gefragt, denn es ist die Sinnesmodalität des Hörens, welche den Klang als ein technisch-sozialen Wandlungen unterworfenes Kulturphänomen auszeichnet. Die Veränderungen, die das Hören unter den Bedingungen seiner technischen Reproduzierbarkeit erfahren hat, werden sodann genauer betrachtet, um am Ende einen Vorschlag zu machen, wie die unter den Bedingungen der akustischen Reproduktionstechniken vervielfachten und qualitativ veränderten Schallphänomene kultursoziologisch konzeptualisiert werden können.

1. Die Sinne in der Soziologie
 

Die sinnliche Wahrnehmung wird in den soziologischen Theorien selten als eigener Gegenstand angesehen. Eine klare Begründung dafür hat Niklas Luhmann gegeben: Seine Systemtheorie grenzt zunächst Wahrnehmung und Kommunikation voneinander ab und sieht in der Sinneswahrnehmung ein alleiniges Charakteristikum psychischer Systeme. Wahrnehmung bewirke im Bewusstsein von Personen zwar Erleben oder Denken, aber „Bewusstseine“ kommunizierten nicht miteinander. Kommunikation sei hingegen der exklusive Operationsmodus sozialer Systeme, der die drei Schritte Information, Mitteilung und Verstehen umfasse. Soziale Systeme kommunizierten also, doch sie würden nicht wahrnehmen. Luhmann sah zwar durchaus, dass Wahrnehmungen eine Referenz von Kommunikation sein können und dass Kommunikation Wahrnehmung erfordert, aber diese wechselseitige Beeinflussung von psychischen und sozialen Systemen konzipierte er als „strukturelle Kopplung“ im Medium Sinn: Sowohl das Denken und Erleben psychischer Systeme als auch die sprachförmige Kommunikation sozialer Systeme geschehe sinnhaft, aber die Wechselbeziehungen von Bewusstseinsinhalten und Kommunikationen ließen die Systemgrenzen zwischen psychischen und sozialen Systemen intakt.2 Durch diese strikte Differenzierung erscheint die Sinneswahrnehmung als Umwelt sozialer Systeme, und das machte es dann möglich, dass Luhmann seine Medientheorie ausschließlich als eine Kommunikationstheorie formulierte.3 Diese Abspaltung aller Wahrnehmungsfragen aus der Systemtheorie ist theoriestrategisch zwar konsequent; sie grenzt die Frage nach den Wechselwirkungen zwischen Medientechniken, Massenpublikum und Wahrnehmungsveränderungen allerdings aus der Soziologie aus.

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Als soziologisch relevantes Thema finden sich die Modalitäten der Sinneswahrnehmung bereits in Georg Simmels „Exkurs über die Soziologie der Sinne“ von 1908.4 Wie Luhmann argumentierte auch Simmel differenzierungstheoretisch. Anders als dieser berücksichtigte er die Sinneswahrnehmung aber als notwendige und in Grenzen historisch wandelbare Voraussetzung von Sozialität. Simmel wollte in seinem „Exkurs“ die spezifischen „soziologische[n] Leistung[en]“ herausarbeiten, mit denen die Sinnesorgane Vergesellschaftung ermöglichen und prägen. In Interaktionssituationen vollziehe der Gesichtssinn die „Verknüpfung und Wechselwirkung der Individuen“ durch den gegenseitigen Blickkontakt. Das Ohr sei hingegen „das schlechthin egoistische Organ, das nur nimmt, aber nicht gibt“. Es könne erst im Zusammenspiel mit dem Mund einen „Akt des Nehmens und Gebens“ erzeugen. Die Besonderheit des Auditiven liege nun darin, dass es „an und für sich und sinnlich an eine unbegrenzte Zahl von Teilnehmern“ gerichtet sei, wobei es eine „unvergleichlich engere Einheit und Stimmungsgemeinschaft“ hervorbringen könne.5 Hier stellte Simmel exemplarisch das Museums- und das Konzertpublikum einander gegenüber. Dies lässt sich ergänzen um George Herbert Meads Konzept der vokalen Geste, mit dem dieser dem Hören eine Schlüsselfunktion bei der Konstitution signifikanter Symbole zugewiesen hat: Wir könnten uns zwar „selbst nicht sehen, wenn unser Gesicht einen bestimmten Ausdruck annimmt“, wohl aber „uns selbst sprechen hören“. Das Hören sei die Sinnesmodalität des im Interaktionsverhältnis objektivierten Sinns, weil „die Bedeutung des Gesagten für uns die gleiche [...] wie für andere“ sei.6

Sowohl Simmel als auch Mead verstanden die Sinneswahrnehmungen und ihre Modalitäten als vorsoziologische Gegebenheiten, die die Vergesellschaftung ermöglichten und strukturierten, wobei die Intensität der Wahrnehmung durch gesellschaftliche Faktoren geschärft oder gedämpft werden könne: So begünstigten für Simmel die Lebensverhältnisse in der Großstadt den Sehsinn, weil dessen distanzierterer Modus den Abstraktionstendenzen der Moderne entgegenkomme. Das Hören war bei ihm aber noch auf die Bedingungen der Anwesenheit im nahen Wahrnehmungsumfeld beschränkt – Grammophon, Telefon und Radio, welche die Hörweisen im 20. Jahrhundert umprägten, kommen bei Simmel noch nicht vor. So führte er die Sinne zwar an die Soziologie heran, betrachtete sie aber als qualitativ unveränderliche anthropologische Basis, Sozialität hingegen als variabel. Eine andere Auffassung dieses Verhältnisses, die auch Variationen der Wahrnehmungsstruktur selbst bedenkt, wurde indes umso plausibler, je deutlicher sich die technischen Medien Film und Radio als unhintergehbare Bestandteile der sozialen Wirklichkeit etablierten.

2. Hören unter den Bedingungen seiner technischen Reproduzierbarkeit
 

Walter Benjamins Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ gilt zu Recht als eine Pionierstudie für die Frage nach der Strukturveränderung der Sinneswahrnehmung, denn Benjamin begnügte sich nicht mit einer kulturkritischen Verurteilung technisch generierter Reizfluten. Primär auf den Film bezogen konstatierte er vielmehr „tiefgreifende Veränderungen des Apperzeptionsapparates“ und schloss daraus, dass sich „innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume [...] mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva“ auch die „Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung“ verändere.7 Er nahm also nicht nur eine stärkere Plastizität der Sinneswahrnehmung an als Simmel, sondern beobachtete darüber hinaus eine Veränderung in der gesellschaftlichen Funktion der Sinneswahrnehmung: Die filmische Wahrnehmungsweise, so Benjamin, bewirke eine „Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe“ und wälze die „gesamte soziale Funktion der Kunst um“. Er führte dies auf die Wahrnehmungseffekte des Films zurück, die „Chockwirkungen“ von taktiler Qualität darstellten, weil sie direkt und kalkuliert auf den Wahrnehmungsapparat einwirkten und das Kunstwerk damit radikal entritualisierten.8

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Benjamins zentrale These lautete, dass die filmische Wahrnehmung mit Reizen konfrontiert sei, deren Arrangement nicht im nahen Wahrnehmungsumfeld erstellt werde: Auf der Leinwand wahrgenommen werde nämlich die von der Kamera festgehaltene und durch Schnitt manipulierte Szenerie im Studio. Die Unmittelbarkeit der filmischen Wirkung resultiere deswegen nicht aus der räumlichen Kopräsenz von Dargestelltem und Wahrgenommenem, sondern vielmehr aus deren Trennung: Der Film ziele auf die Wahrnehmung selbst und sei insofern unmittelbar. Diesem Umschlag in der Wahrnehmungsweise entspreche eine räumliche Entkopplung von visuellem Produktions- und Rezeptionskontext, mit der eine neuartige Verkopplung von Reizquelle und Wahrnehmung einhergehe. Dieses neue sensorische Dispositiv korrespondiere wiederum mit dem Anwachsen des Kinopublikums, dessen Wünsche nach Zerstreuung das Kino kanalisiere. Gesellschaftlich folgenreich sei, dass damit schichtenspezifische Wahrnehmungsmuster eine soziokulturelle Dominanz erlangten, die im Rahmen früherer Kunstformen zugunsten einer kontemplativen Haltung benachteiligt gewesen seien. Insofern war der Funktionswandel der Sinneswahrnehmung bei Benjamin immer auch auf einen gesellschaftlichen Strukturwandel bezogen.

Benjamins Fragestellung lässt sich problemlos auf die akustischen Reproduktionstechnologien Radio und Schallplatte im 20. Jahrhundert beziehen:9 Diese Technologien ermöglichten neuartige, medienspezifische Formen wie das Hörspiel, Studioaufnahmen oder die Aufzeichnung von Live-Acts, deren strukturelle Besonderheit – analog zu Benjamins Überlegungen zum Film – in der Entkopplung von Herstellungs-, Darbietungs- und Rezeptionskontexten lag. Damit wurden bestimmte Musikstile überhaupt erst massenhaft verbreitungsfähig: Jazz, Rock’n’Roll und alle improvisatorischen Musikstile profitierten von der Speicherbarkeit, weil sie von der körperlichen Performance ihrer Interpreten abhängen, die situationsgebunden ist und durch Notenschrift nicht vollständig erfasst werden kann, nun aber audiotechnisch verfügbar wurde. Mit der Entkopplung des Hörens vom nahen Wahrnehmungsumfeld traten auch die Eigenqualitäten auditiver Wahrnehmung besonders hervor, die schon Simmel herausgestellt hatte – Stimmungsvergemeinschaftung und Ausrichtung an alle.10 Die Technologien der Speicherung und Echtzeit-Verbreitung schufen neuartige Hörkontexte und -erfahrungen für ein zusehends größer werdendes Publikum: Es wurde nicht nur mehr, sondern eben auch anders gehört.

Zudem lässt sich an der auditiven Medienkultur des 20. Jahrhunderts ein gesellschaftlicher Funktionswandel der Sinneswahrnehmung beobachten. Klammert man wie Benjamin die Frage nach Qualitätsunterschieden zwischen populärer Musik und Kunstmusik aus, so fällt zunächst eine tiefgreifende strukturelle Veränderung des Verhältnisses zwischen der Musikproduktion und ihrem Publikum auf: Die Qualitätskriterien der Kunstmusik resultieren, folgt man hier Theodor W. Adorno, aus ihrem Autonomieanspruch, der nicht nur die technischen und ökonomischen Bedingungen ästhetischer Produktion betrifft, sondern ebenso den Publikumsgeschmack – ihrem Selbstverständnis nach ist Kunstmusik unabhängig von ihrer Akzeptanz bei einem Publikum; sie verlangt den Hörenden vielmehr eine kontemplative Haltung ab.11 Die populäre Musik hingegen gewinnt ihre Relevanzkriterien aus den aggregierten Publikumspräferenzen und fordert von ihren Hörern eine komparative Haltung, wie der Soziologe und Medienwissenschaftler Simon Frith prägnant herausgearbeitet hat. Die Rezeption populärer Musik sei „an experience of placing: in responding to a song, we are drawn […] into affective and emotional alliances with the performers and with the performers’ other fans.“12 Rezipierende wissen also, dass das, was sie gerade im Radio hören, zugleich von anderen gehört wird – sie nehmen Auditives immer auch im sozialen Raum des Massenpublikums wahr, in dem sie sich mit ihren Vorlieben und Abneigungen positioniert wissen.

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Dieses im Vergleich zur autonomieästhetisch verstandenen Kunstmusik anders geartete Publikumsverhältnis verhilft nicht nur solchen Hörweisen und -präferenzen zu kultureller Präsenz, die den kunstmusikalischen Kriterien nicht entsprechen. Sie macht es auch möglich, dass gesellschaftliche Wandlungs-prozesse im Medium der Musik ausgetragen werden, indem gruppen-, milieu- oder subkulturgebundene Formen des Erlebens musikalisch codiert und selbst medial verbreitet werden. So weitete sich beispielsweise das Publikum des Jazz über die amerikanischen Segregationsgrenzen hinweg aus, und seine expressiven Elemente wurden von anderen populären Musikstilen adaptiert. Ebenso werden Generationskonflikte seit Mitte des 20. Jahrhunderts gezielt musikalisch ausgetragen; Popmusik ist zu einem Medium der Stilisierung von Jugendlichkeit geworden, das jede Teenager-Generation mit einem teils besonderen, teils generationsübergreifenden emphaseträchtigen Soundarchiv ausstattet. Die sozialen Verwendungsweisen populärer Musik werden dabei durch die Musikzeitschrift und den Radio-DJ angeleitet, die den Hörern semantische Muster bereitstellen: Zur Musik werden also auch Sprechweisen erfunden und verbreitet. Diese tragen die für die populäre Musik charakteristischen Sozialformen der adoleszenten Stimmungsvergemeinschaftung, der generations- und szeneförmigen Distinktion sowie der oft politisch codierten gegenkulturellen Subversion.

3. Erleben, Verstehen, Vergleichen
 

Die hier skizzierten sozialen Verwendungsweisen von Schallphänomenen lassen sich mit den Kategorien, welche die herkömmlichen Kunstgattungen Musik und Dichtung zur Klassifikation von Hörweisen und Hörbarem bereitstellen, nicht hinreichend erfassen. An Philip Taggs einflussreicher Negativdefinition populärer Musik – „all music which is neither art music nor folk music“ – wird deutlich, dass auch eine extreme Öffnung des Musikbegriffs die Frage, was denn da auf unterschiedliche Weisen gehört wird, kaum beantworten kann.13 Eine Alternative zur Überdehnung des Musikbegriffs ist es, die neuen, unter den Bedingungen der akustischen Medien entstandenen Hörweisen und Schallphänomene grundlegend anders zu konzipieren und dabei die technisierten, auf ein Massenpublikum bezogenen Wahrnehmungsbedingungen zum Ausgangspunkt zu nehmen. Mein Vorschlag besteht darin, drei grundlegende Modi zu unterscheiden, die Wahrnehmende gegenüber für sie bedeutsamen Schallereignissen einnehmen können und die in je verschiedener Weise sozialrelevant sind: das musikalische Erleben, das Lautverstehen und das Vergleichen von Sounds.

Der musikalische Modus des Hörens ermöglicht das nachvollziehende Erleben der Wirkungen von Klängen und Rhythmen durch das Subjekt, sei es kontemplativ oder expressiv – Versenkung oder Tanzen. Klänge lassen sich so wenig wie Bilder bruchlos in sprachlich gefassten Sinn überführen; sie werden aber untereinander als harmonisch erlebt und korrespondieren mit Stimmungen, Affekten, Emotionen im erlebenden Subjekt. Den Klängen, Melodien, Akkorden und Rhythmen ist eine kulturübergreifende Grundlage eigen; sie werden aber in den unterschiedlichen musikalischen Kulturen verschieden codiert, systematisiert und auf Harmoniesysteme bezogen.

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Der lautliche Modus des Hörens ist das Verstehen sinnhafter Äußerungen, die auf ein konventionalisiertes Sprachsystem bezogen sind. Auch die Schrift – jedenfalls die in Europa gebräuchliche alphabetische – kodiert Laute bzw. Phoneme, die in Sprechsituationen unterscheidbar sind und aus denen sich Wörter, Sätze und Texte zusammensetzen. Ihr Sinn ergibt sich der struktura-len Linguistik zufolge innerhalb des Gefüges arbiträrer, auf Konvention beruhender Sprachsysteme. Die Linguistik hat aber die Tendenz, den Laut als „rein theoretische, somit geräuschlose Entität“ zu fassen.14 Mein Vorschlag hingegen fasst das Lautliche als ein auditives Phänomen, das in seiner Zeichenfunktion nicht aufgeht, insofern es ereignishaft ist.

So können auch solche Laute berücksichtigt werden, deren Bedeutung sich nicht aus dem konventionalisierten Sprachsystem ergibt, sondern aus erinnerten Wahrnehmungen: Es sind dies die Onomatopoetika – die lautmalerischen Wörter –, die mit den lautlichen Mitteln einer vorhandenen Sprache außersprachliche Schallphänomene nachahmen und so in den sprachlich verfassten Sinn hineinziehen. Ihr Sinn ergibt sich aus dem Wiedererkennen des Bezeichneten im Lautbild, also durch die Referenz auf eine erinnerte, mental repräsentierte Hörwahrnehmung, mittels Ähnlichkeit und Vergleich von Geräuschen. Man kann daher schon hier von einem komparativen Modus des Hörens sprechen. Voraussetzung ist, dass dem hörenden Subjekt ein kulturelles Schallarchiv zur Verfügung steht, dessen Elemente als bereits gehört erinnert werden können. Fasst man das Hören von Sounds als Erweiterung dieses onomato-poetischen, komparativen Hörmodus, so handelt es sich um einen Typus auditiver Rezeption, der durch die Medienrevolution der Audiotechnologien zwar nicht vollständig neu hervorgebracht wurde, aber doch eine enorme Ausweitung erfahren hat. Das Erleben, das Verstehen und das Vergleichen von Schallphänomenen war vor der Verbreitung der Audiotechnologien anwesenheitsgebunden und damit institutionellen Rahmungen zuzuordnen, aus denen sich zugleich die Gattungsgrenzen der Künste (Musik und Dichtung) ergaben. Mit der Etablierung von Speicher- und Echtzeitmedien können diese Beschränkungen jedoch überschritten werden.

Schallereignisse sind nunmehr medial vielfältig vermittelt und werden Teile eines kulturellen Klangarchivs – verfügbar wie vordem nur Schriftzeugnisse. Damit wächst auch die Zahl als bekannt anzunehmender, identischer Schallsequenzen, die situationsunabhängig aufeinander verweisen, indem sie vergangene Rezeptionen voraussetzen und zum Vergleich heranziehen. Der Soundvergleich bringt die lautlich-sinnhaften und die musikalisch-klanglichen Qualitäten des Auditiven darüber hinaus auf neue Weise in Sozialformen ein, indem nicht nur die Sounds selbst, sondern ebenso ihre sozialen Rezeptionskontexte in Bezug gesetzt werden – die Adoleszenzstilisierung mittels Popmusik mag hier als Beispiel dienen. Sound ist also ein Grenzphänomen des Auditiven, das sich nicht im Rekurs auf Musik oder Sprache erschließt, sondern eine eigenständige Semiotik hervorbringt, die weder in der Sprache noch in der Musik aufgeht: Ihre Elemente sind die medial verfügbaren, sozial mit Relevanz und Sinn versehenen Sounds, die als Schallphänomene aufeinander verweisen und „gesampelt“ werden können.

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Die mit der akustischen Medienrevolution verfügbaren neuartigen Quellentypen sind nur ein Gesichtspunkt – der für die Geschichtswissenschaft und die Soziologie methodisch besonders relevant ist. Ebenso wichtig ist die Frage, wie sich die medial vermittelten auditiven Wahrnehmungen auch im Hinblick auf ihre spezifischen Erfahrungsgehalte und -modalitäten von einer Musik und einer Sprache unterscheiden, deren Rezeption unter den Bedingungen von Anwesenheit stattfindet (oder so konzipiert wird). Eine naheliegende Folgefrage ist schließlich, wie der Sound und seine Hörweisen wiederum auf das zurückwirken, was im Medienverbund musikalisch oder sprachlich praktiziert wird. In dieser Hinsicht ergänzen sich eine historische, auf die Umbrüche in den Formen und Infrastrukturen des Hörbaren zielende Perspektive und eine soziologische, die nach den Modifikationen auditiver Vergesellschaftung fragt.

Anmerkungen: 

1 Thomas Lindenberger, Vergangenes Hören und Sehen. Zeitgeschichte und ihre Herausforderung durch die audiovisuellen Medien, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 1 (2004), S. 72-85, hier S. 82.

2 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1987, S. 367-372; ders., Wie ist Bewusstsein an Kommunikation beteiligt?, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 6, Wiesbaden 2005, S. 39-54.

3 Vgl. ders., Die Realität der Massenmedien, 2., erweiterte Aufl. Opladen 1996.

4 Georg Simmel, Exkurs über die Soziologie der Sinne, in: ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908], Frankfurt a.M. 1992, S. 722-742.

5 Ebd., S. 723, S. 730f.

6 George Herbert Mead, Geist, Identität und Gesellschaft [1934], Frankfurt a.M. 1973, S. 105.

7 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1936, zweite Fassung von 1939], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt a.M. 1980, S. 471-508, hier S. 503, Anm. 29.

8 Ebd., S. 478, S. 482, S. 503.

9 Aus Platzgründen beschränke ich mich hier auf diesen ersten Medienwechsel, gehe also nicht auf die Veränderungen ein, die durch die Digitalisierung des Trägermediums (v.a. das mp3-Format) und das Internet eingetreten sind.

10 Dies war ein zentrales Thema der frühen Radio- und vor allem Hörspieldiskurse; vgl. Dominik Schrage, Psychotechnik und Radiophonie. Subjektkonstruktionen in artifiziellen Wirklichkeiten 1918–1932, München 2001, S. 221-265.

11 Vgl. hierzu ausführlicher ders., Der Sound und sein soziotechnischer Resonanzraum. Zur Archäologie massenkulturellen Hörens, in: Lutz Hieber/Dominik Schrage (Hg.), Technische Reproduzierbarkeit. Zur Kultursoziologie massenmedialer Vervielfältigung, Bielefeld 2007, S. 135-162, hier v.a. S. 149-154.

12 Simon Frith, Towards an Aesthetic of Popular Music, in: Richard Leppert/Susan McClary (Hg.), Music and Society. The Politics of Composition, Performance and Reception, Cambridge 1987, S. 133-149, hier S. 139.

13 Philip Tagg, Kojak. 50 Seconds of Television Music. Toward the Analysis of Affect in Popular Music, Göteborg 1979, S. 26.

14 Sybille Krämer, Negative Semiologie der Stimme. Reflexionen über die Stimme als Medium der Sprache, in: Cornelia Epping-Jäger/Erika Linz (Hg.), Medien/Stimmen, Köln 2003, S. 65-84, hier S. 65f.

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