Die »Wende« als Form der Kolonisierung?

Zur Genese und Aktualität eines populären Deutungsschemas


  1. Postsozialistische Kolonialphantasien
  2. Antiimperialismus in Ost- und Westdeutschland
  3. Postsozialistische Kolonialismuskritik
  4. Koloniale Konjunkturen: Postkoloniale und ostkoloniale Kritik
  5. Postsozialistische Kolonialphantasien revisited: »der Osten«
  6. Fallstricke und Differenzierungsbemühungen
  7. Fazit

Anmerkungen

Bei der Lektüre des 2023 erschienenen Bestsellers »Der Osten: eine westdeutsche Erfindung« von Dirk Oschmann sowie beim Nachvollzug der bisweilen heftigen Diskussionen, die dieses Buch ausgelöst hat, bekommt man unweigerlich das Gefühl, einer Orientalismus-Debatte 2.0 beizuwohnen.1 Zur Erinnerung: Edward Saids 1978 publiziertes Buch »Orientalism«, in dem ausgehend von primär wissenschaftlicher Wissensproduktion die koloniale Zurichtung und Erfindung des Orients beschrieben und kritisiert wird, gilt gemeinhin als einer der Gründungstexte postkolonialer Kritik.2 Tatsächlich lesen sich die Ausführungen des Leipziger Literaturwissenschaftlers Oschmann stellenweise so, als ob Ostdeutschland und die Ostdeutschen einem westdeutschen Zugriff quasi hilflos ausgeliefert wären. Gerade diese Zuspitzung wurde von einigen Kommentator*innen kritisiert, ähnlich wie bei der Orientalismus-Debatte im Anschluss an Said.3 Überhaupt fällt auf, dass Oschmann, wenngleich er sich nicht systematisch mit postkolonialer Theorie auseinandersetzt, so etwas wie eine postkoloniale Rhetorik in Anschlag bringt. Zum Beispiel heißt es an einer Stelle, »dass die Art und Weise, was und wie über ›den Osten‹ öffentlich geredet, geschrieben und gesendet wird, in Form von konstant negativen Identitätszuschreibungen und Essentialisierungen, komplett vom ›Westen‹ beherrscht und durchherrscht ist«.4 Zudem fällt auf, dass zwar auch der Kolonisierungsbegriff nicht systematisch zum Einsatz kommt, gleichwohl aber der Kolonialismus als historische Referenz erwähnt wird: »Dem Osten […] ›Demokratiefeindlichkeit‹ vorzuwerfen, ist nicht nur zynisch, sondern folgt obendrein einem seit Jahrhunderten eingeführten Herrschafts- und Diskursmuster, mit dem der westliche Kolonialismus verschiedener Couleur seine Hegemonie zu begründen sucht.«5 Ostdeutschland also als westdeutsche Kolonie? Und postkoloniale Kritik als Analyse-Tool für postsozialistische Dynamiken?

Bekanntlich hat die postsozialistische Transformation in Deutschland verschiedene Narrative hervorgebracht. Das prominenteste ist wahrscheinlich das Narrativ der »blühenden Landschaften«, jenes Versprechen sozialen und ökonomischen Aufstiegs, das der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl auch und vor allem den ostdeutschen Bürger*innen vor und nach der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten am 3. Oktober 1990 mehrmals gemacht hat und das bis heute immer wieder Anlass für ironische oder polemische Adaptionen ist.6 Auch das von Oschmann aktualisierte Kolonisierungsnarrativ hat die »Wende« von Anfang begleitet und war bzw. ist durchaus populär. Im Folgenden wird es mir darum gehen, die Genese dieses Narrativs zumindest bruchstückhaft nachzuvollziehen. Dabei werden unterschiedliche Formen der Narrativierung zur Sprache kommen: Im konservativen politischen Spektrum zum Beispiel lässt sich, wenn auch eventuell nur vereinzelt, etwas beobachten, was ich in Anlehnung an die Literaturwissenschaftlerin Susanne M. Zantop als postsozialistische »Kolonialphantasien« bezeichnen möchte7 – hier wurde der Kolonisierungsbegriff dahingehend affirmiert, dass Kolonisierung als Lösung für die postsozialistischen Herausforderungen erwogen wurde. Im linken politischen Spektrum hingegen markierte das Kolonisierungsnarrativ eine kritische Perspektive auf die Wendedynamiken und den Einigungsprozess, wobei nicht nur westliches bzw. westdeutsches Dominanzgebaren thematisiert wurde, sondern oftmals auch eine kapitalismuskritische Perspektive impliziert war.

Zudem werde ich mich mit einer Entwicklung innerhalb der Forschung auseinandersetzen, die sich seit gut zehn Jahren abzeichnet und von dem Versuch geprägt ist, postkoloniale Ansätze und Theoreme auf postsozialistische Konflikt- und Herrschaftskonstellationen zu übertragen. Vielleicht lässt sich das, was im Rahmen einer international geführten und über den deutschen Fall hinausweisenden Debatte verhandelt wird, als ostkoloniale Kritik bezeichnen. Allerdings fällt auf, dass das Kolonisierungsnarrativ hier zunehmend als gebrochen erscheint – die Auseinandersetzung mit der Frage der Übertragbarkeit postkolonialer Perspektiven enthält eine deutliche Vorsicht gegenüber der Kolonisierungsanalogie. In diesem Sinne wäre nicht nur zwischen rechten bzw. konservativen und linken Formen der Narrativierung zu unterscheiden, sondern auch zwischen polemischen und abwägenden, skandalisierenden und analytischen, pauschalisierenden und differenzierenden Formen.

Die Gebrochenheit des Kolonisierungsnarrativs im Rahmen der ostkolonialen Kritik deutet darauf hin, dass die Analogisierung der postsozialistischen Transformationsdynamiken mit Formen von kolonialer Herrschaft hochgradig umstritten war und ist. Einen zentralen Vorbehalt hat der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk vor einigen Jahren prägnant zusammengefasst: »Denn welcher Kolonisierte hätte seine Kolonialherren schon mit freien demokratischen Wahlen selbst herbeigerufen? Doch abgesehen davon: Was auch immer in Ostdeutschland nach 1990 geschah, es mit den europäischen kolonialen Massenverbrechen begrifflich auf eine Stufe zu stellen, kommt mir auch heute nicht in den Sinn. Wer dies tut, verharmlost und relativiert den europäischen Kolonialismus mit Abermillionen Toten.«8 Es ließe sich ergänzen, dass das Konzept »Rasse« und folglich auch der Rassismus als konstitutiv für koloniale Machtverhältnisse angesehen werden können. Dagegen ist das postsozialistische Verhältnis zwischen West- und Ostdeutschland nur schwerlich mit Rassifizierungsprozessen in Verbindung zu bringen.9

Gewiss, die Einwände und Vorbehalte wiegen schwer. Und doch erweist sich das postsozialistische Kolonisierungsnarrativ als beharrlich, wurde es auch zuletzt – nicht nur von Dirk Oschmann – immer wieder aktualisiert. Worin genau könnte also das Versprechen dieses Narrativs bestehen? Und lassen sich trotz gravierender Fallstricke zugleich produktive Effekte beschreiben? Auch um diese Fragen kreisen die folgenden Überlegungen.

1. Postsozialistische Kolonialphantasien

Für Oschmann dient die Kolonisierungsanalogie dazu, seine kritische Perspektive auf den Einigungsprozess und das West-Ost-Verhältnis zu schärfen. Gerade mit dem Schlagwort der Kolonisierung – so vermutlich das Kalkül – lassen sich die strukturellen Asymmetrien zwischen West- und Ostdeutschland skandalisieren. Allerdings ist die Assoziation mit kolonialer Herrschaft nicht gänzlich aus der Luft gegriffen. Tatsächlich machten Anfang der 1990er-Jahre Entwicklungs-Szenarien die Runde, in denen der Kolonialismus als Referenz eine wichtige Rolle spielte, und zwar nicht in einem kritischen Sinne, sondern im Sinne eines Vorbilds. Besonders einschlägig dafür ist das 1991 erschienene Buch »Deutschland, was nun?«, in dem sich die beiden konservativen Intellektuellen Arnulf Baring (1932–2019) und Wolf Jobst Siedler (1926–2013) ausführlich über die postsozialistischen Herausforderungen unterhalten. An einer Stelle heißt es dort: »Man ist versucht zu sagen: Es handelt sich wirklich um eine langfristige Rekultivierung, eine Kolonisierungsaufgabe, eine neue Ostkolonisation, obwohl man das öffentlich fast nicht sagen kann.«10

Barings und Siedlers postsozialistische Kolonisierungsforderung wurde schon vielfach zitiert, übrigens auch von Oschmann. An dieser Stelle muss offenbleiben, ob die beiden laut aussprachen, was viele dachten, oder ob es sich eher um Einzelmeinungen handelte. Auffallend ist jedenfalls, dass Baring sich anscheinend darüber im Klaren war, dass sein Plädoyer für Kolonisierung gegen die Normen des öffentlichen Sprechens verstieß. Auffallend ist außerdem, dass das hier entfaltete Kolonisierungs-Szenario nicht unwesentlich auf der Entgegensetzung von Arbeit und Nicht-Arbeit bzw. Fleiß und Faulheit beruht. Es korrespondiert also mit dem, was man im Anschluss an Oschmann als »infames Zeichen der Faulheit« bezeichnen könnte – Oschmann zufolge »fungiert der Begriff ›Osten‹ als infames Zeichen der Unterscheidung, Distanzierung und Ausgrenzung«; zudem werde die Andersheit des »Ossis« nicht zuletzt an seiner vermeintlichen Faulheit festgemacht.11 Baring meinte, »daß unsere Leistungskraft beschränkt ist und streng an bestimmte Voraussetzungen gebunden, die da heißen: zielstrebige, harte und initiativreiche Arbeit. Das wird bisher in Osteuropa, auch in der DDR weithin nicht wahrgenommen, weil individuelle, originelle Tatkraft lange Zeit dort keine Rolle gespielt hat.«12 Einige Seiten weiter sagte er über die DDR und die Ostdeutschen: »Das Regime hat fast ein halbes Jahrhundert die Menschen verzwergt, ihre Erziehung, ihre Ausbildung verhunzt. […] Wir können den politisch und charakterlich Belasteten ihre Sünden vergeben, alles verzeihen und vergessen. Es wird nichts nützen: denn viele Menschen sind wegen ihrer fehlenden Fachkenntnisse nicht weiter verwendbar. Sie haben einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Marktwirtschaft einbringen könnten.«13 Schließlich resümierte Baring die realsozialistische Organisation der Arbeit, etwa im Rahmen der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG): »In großem Umfang ist auch hier gar nicht richtig gearbeitet worden. […] Man kann gar nicht oft genug wiederholen: Es wird nie und nirgendwo möglich sein, die ›Errungenschaften des Sozialismus‹, nämlich angenehm sanfte Arbeitsbedingungen, zu deutsch: Schlendrian, mit den Ansprüchen und Leistungen der Konsumgesellschaft des Kapitalismus zu verbinden.«14

Barings Ausführungen über den »Schlendrian« als vermeintlicher Inkarnation des sozialistischen Arbeitsethos waren gewiss von einem antikommunistischen Impuls getragen. Zugleich resoniert in der Entgegensetzung von fleißigem Selbst und faulem Anderen die koloniale Aufteilung der Welt mitsamt der hier wirksamen Selbst- und Fremdbilder. Die Vorstellung, Europa oder »der Westen« habe sich durch die Ausbildung eines von Fleiß, Zielstrebigkeit, Eigeninitiative und Produktivität geprägten Arbeitsethos einen Entwicklungsvorsprung gegenüber dem Rest der Welt verschafft, gehörte zu den Fundamenten der kolonialen Ideologie und Selbstvergewisserung.15 Entsprechend drehten sich auch die kolonialpolitischen Debatten im Deutschen Kaiserreich nicht zuletzt um die Frage, wie die Kolonisierten am besten zur Arbeit zu erziehen seien.16 So gesehen erweisen sich Barings Reflexionen über den angeblich faulen Osten in zweifacher Hinsicht als ein Kolonisierungs-Szenario: zum einen, weil er von der Notwendigkeit einer kolonial verfassten »Rekultivierung« sprach; zum anderen, weil die damit einhergehenden Konzeptionen von Selbst und Anderem durch koloniale Diskurse informiert zu sein scheinen.17

2. Antiimperialismus in Ost- und Westdeutschland

Baring und Siedler mögen wie gesagt zu den wenigen öffentlichen Figuren gezählt haben, die die vermeintliche Notwendigkeit einer postsozialistischen Kolonisierung »des Ostens« Anfang der 1990er-Jahre so offensiv artikulierten. Gleichwohl scheint die Bereitschaft, die postsozialistische Transformation im Rahmen eines kolonialen Koordinatensystems zu rationalisieren, weit verbreitet gewesen zu sein. Darauf deutet der Begriff »Buschzulage« hin, der 1994 zu einem »Unwort des Jahres« avancierte und in dem sich Oschmann zufolge die »zynischen westdeutschen Blickweisen auf den Osten« verdichteten.18 Ursprünglich bezeichnete »Buschzulage« Sonderzahlungen für Beamte, die um 1900 in die Kolonien des Deutschen Kaiserreiches entsandt wurden. Nach dem Mauerfall waren damit – nun ironisierend – Sonderzahlungen für westdeutsche Beamte gemeint, die im Rahmen des infrastrukturellen Aufbaus in der ehemaligen DDR tätig waren. Offenbar wurden der Kolonialismus und die hier angewandten Macht- und Herrschaftstechniken als eine Art Blaupause für postsozialistische Orientierungsversuche verstanden. Zumindest scheint es nahegelegen zu haben, die Manifestation postsozialistischer Macht- und Herrschaftstechniken (als solche lässt sich der Elitentransfer von West nach Ost ja durchaus beschreiben) mit dem Kolonialismus zu assoziieren. Und so ist es kaum verwunderlich, dass auch und gerade im linken politischen Spektrum die Auseinandersetzung mit der Transformationsdynamik nach 1989/90 stark von der Kolonisierungsanalogie geprägt war, allerdings unter kritischen Vorzeichen.

Es würde zu weit führen, die Genese des linken Kolonisierungsnarrativs hier detailliert nachzeichnen zu wollen. Angebracht ist aber ein kurzer Hinweis auf die längeren Linien dieses Narrativs. Die aus der DDR-Opposition, genauer der Ost-Berliner Umweltbibliothek hervorgegangene Zeitschrift »telegraph« begleitete die postsozialistische Transformation von Anfang an kritisch (und tut dies immer noch), nicht zuletzt durch die Analogisierung mit dem Kolonialismus. So hieß zum Beispiel der Themenschwerpunkt einer Ausgabe von 1998 »Kolonie Ostdeutschland«. Bemerkenswert ist hier vor allem das Titelbild. Es handelt sich um die Reproduktion eines SED-Plakats von 1954:19 Am linken Bildrand sieht man zwei menschliche Figuren. Die hintere Figur trägt einen Hut, auf dem ein Dollarzeichen prangt. Die vordere Figur, bei der vor allem die entstellten Gesichtszüge auffallen, streckt ihren rechten Arm nach vorn. Mit ihrer Hand, die eher wie eine Kralle anmutet, greift sie nach der DDR, die durch eine Landkarte symbolisiert wird, auf der vor allem Industrieanlagen zu sehen sind. Ein schwarz-rot-goldener Hammer saust herunter und trifft die ausgestreckte Hand. Unter dem Bild steht in roter Schrift: »Unsere Antwort!« Auf der Website des Deutschen Historischen Museums heißt es erläuternd, das Plakat wende sich »gegen den von der BRD erhobenen Alleinvertretungsanspruch«.20 Im Kontext der Verwendung durch den »telegraph« entfaltet das Bild noch eine weitere Bedeutungsebene. Für den Kolonialismus-Themenschwerpunkt scheint es sich insofern angeboten zu haben, als hier das Schlagwort des US-Imperialismus und allgemein eine abstrakte kapitalistische Gier bzw. kapitalistischer Expansionsdrang assoziierbar sind. Davon zeugen vor allem das Dollarzeichen, aber auch die ausgestreckte Hand sowie die Physiognomie und die verzerrten Gesichtszüge der vorderen Figur.21

SED-Plakat (1954) und dessen spätere Adaption auf dem Cover der Zeitschrift »telegraph« (1998) (Plakat: Deutsches Historisches Museum/Arne Psille, Inv.-Nr. P 61/668, Gestaltung: Wilhelm Schubert [1889–1962], 83 x 58,5 cm)
SED-Plakat (1954) und dessen spätere Adaption
auf dem Cover der Zeitschrift »telegraph« (1998)
(Plakat: Deutsches Historisches Museum/Arne Psille, Inv.-Nr. P 61/668,
Gestaltung: Wilhelm Schubert [1889–1962], 83 x 58,5 cm)

Bekanntlich gehörte die als Antiimperialismus bisweilen zur Ideologie geronnene Kritik des Imperialismus »von Anfang an zum politisch-kulturellen Selbstverständnis« der DDR.22 Dabei stand keineswegs nur die USA im Fokus der Aufmerksamkeit, sondern auch die Bundesrepublik. In einer kurz nach Gründung der DDR im Oktober 1949 gehaltenen Regierungserklärung zum Beispiel konstatierte Otto Grotewohl, der erste Ministerpräsident des Arbeiter- und Bauernstaates: »In den Westzonen Deutschlands wurden die Grundlagen des deutschen Imperialismus wiedererrichtet.« Er bezeichnete Westdeutschland als einen »Tummelplatz ausländischer und deutscher Imperialisten und Militaristen«, die eine »reaktionäre Herrschaft errichtet« hätten »und darangehen, das deutsche Volk ein drittes Mal auf den verhängnisvollen Weg der kapitalistischen Wirtschaftskrisen und imperialistischen Kriegsabenteuer zu führen«.23 Für Grotewohl – und für die Ideologie des Antiimperialismus generell – bestand eine mehr oder weniger bruchlose Kontinuität zwischen Kaiserreich/Erstem Weltkrieg, Nationalsozialismus/Zweitem Weltkrieg und »BRD«. Entsprechend galt es, sich auch und vor allem gegenüber dem westlichen Nachbarn zu schützen. Auch der Bau der Berliner Mauer 1961 wurde so zu legitimieren versucht – die Mauer wurde nicht nur als »antifaschistischer«, sondern auch als »antiimperialistischer Schutzwall« bezeichnet.

Die Vorstellung eines als westlich codierten imperialistisch-kolonialen Begehrens war für die DDR also konstitutiv. Zudem wird ersichtlich – darauf weisen Norman Aselmeyer, Stefan Jehne und Yves Müller mit Blick auf aktuelle erinnerungspolitische Auseinandersetzungen über das Verhältnis zwischen Nationalsozialismus und Kolonialismus hin –, dass Antifaschismus und Antiimperialismus in der DDR »keine konkurrierenden Narrative« bildeten, sondern gemäß der orthodoxen marxistisch-leninistischen Theorie zusammengehörten, »war doch der ›Hitlerfaschismus‹ eine Ausgeburt, eine Spielform des Imperialismus«.24 An dieser Stelle sei daran erinnert, dass das Erbe des Marxismus-Leninismus mitsamt seiner Theorie über die Zusammengehörigkeit von Faschismus und Imperialismus auch in der westdeutschen Linken verbreitet war. Verwiesen sei nur auf die im Zuge der globalen Revolte von 1968 entstandenen militanten Gruppen und insbesondere auf die Rote Armee Fraktion (RAF), die vielleicht am konsequentesten die angebliche Einheit von Imperialismus und Faschismus beschwor. Dies zeigte sich unter anderem in einer im November 1972 verbreiteten Erklärung zum Attentat auf die Olympischen Spiele in München, bei dem die palästinensische Organisation »Schwarzer September« elf Mitglieder des israelischen Teams ermordet hatte (zwei Israelis wurden gleich zu Beginn der Aktion ermordet, die anderen neun wurden zunächst als Geiseln genommen und dann im Zuge eines missglückten Befreiungsversuches der deutschen Polizei getötet). In der Erklärung wurde von dem »seinem Wesen und seiner Tendenz nach durch und durch faschistischen Imperialismus« gesprochen sowie die Idealform einer westdeutschen linken Identität beschworen: »Antifaschismus – antiautoritäres Lager – antiimperialistische Aktion«. Über die Bundesrepublik hieß es: »Westdeutschland – früher Nazideutschland – jetzt imperialistisches Zentrum«.25

3. Postsozialistische Kolonialismuskritik

Die linke postsozialistische Kolonialismuskritik seit 1989/90 konnte zumindest bedingt an die skizzierten Diskurstraditionen anknüpfen. Die Radikale Linke zum Beispiel, ein im Frühjahr 1989 einsetzender strömungsübergreifender Verbund von außerparlamentarischen Kräften des westdeutschen linken Spektrums, organisierte mehrere Demonstrationen, unter anderem am 12. Mai 1990 in Frankfurt am Main, wo sich ca. 20.000 Menschen unter dem Motto »Nie wieder Deutschland« versammelten. Eine der zentralen Parolen lautete: »Gegen die Kolonialisierung Osteuropas und gegen die Annexion der DDR«.26 In Redebeiträgen war von »imperialistischen Kontinuitäten« die Rede sowie von einem Lernprozess, den der »deutsche Imperialismus« seit 1945 durchlaufen habe.27

Innerhalb der Linken war die Radikale Linke durchaus umstritten, manche Kri­tiker*innen warfen ihr gar Sektierertum vor.28 Dies hatte damit zu tun, dass sich die Radikale Linke im Gegensatz zur großen Mehrheit der Bevölkerung besonders in der DDR gegen die Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten aussprach, weil die Entstehung eines »Vierten Reiches« befürchtet wurde. Dabei spielte nicht nur die Konjunktur von Nationalismus und Rassismus nach dem Mauerfall eine Rolle, sondern auch die Sorge, dass Deutschland nach dem Ende seiner Teilung zur Hegemonialmacht in Europa avancieren würde. Auch hier war die Kritik des Imperialismus der analytische Rahmen, innerhalb dessen man die damaligen Entwicklungen zu bewerten versuchte. So wurde ein Zusammenhang hergestellt zwischen dem aktuellen Einigungsprozess und dem historischen Phänomen des deutschen Imperialismus. Man setzte eine mehr oder weniger kontinuierliche Dynamik voraus, die nicht nur das Kaiserreich (mitsamt dem Ersten Weltkrieg) und den Nationalsozialismus (mitsamt dem Zweiten Weltkrieg) geprägt habe, sondern auch für den Mauerfall bzw. die danach einsetzenden Einigungsbemühungen maßgeblich sei – der dritte Griff nach der Weltmacht.29

SPIEGEL-Cover 40/1990
SPIEGEL-Cover 40/1990

Allerdings war die postsozialistische Kolonialismuskritik keineswegs nur im linksradikalen Milieu Westdeutschlands beheimatet, wie etwa das hier gezeigte »Spiegel«-Cover belegt. Vielmehr reichte sie weit in linksliberale Kreise hinein; zudem war sie auch in Ostdeutschland verbreitet. Eines der ersten Bücher zum Thema, das 1991 unter dem Titel »Kolonie im eigenen Land. Die Treuhand, Bonn und die Wirtschaftskatastrophe der fünf neuen Länder« bei Rowohlt erschien, wurde von zwei Journalisten aus dem Westen verfasst.30 In Ostdeutschland wiederum waren unterschiedliche Akteur*innen an der Etablierung des Kolonisierungsnarrativs beteiligt. Jens Reich zum Beispiel, der als Bürgerrechtler im Neuen Forum aktiv war und nach der Volkskammer-Wahl vom 18. März 1990 als Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Grüne fungierte, setzte sich kritisch mit dem Einigungsvertrag auseinander, der »uns [d.h. Ost- und Westdeutschland] in das Verhältnis zwischen Kronkolonie und Mutterland« versetze.31 Die streikenden Kaliwerker*innen aus Bischofferode in Thüringen, die mehrere Monate gegen die drohende Abwicklung ihres Werks durch die Treuhand protestierten, zogen am 1. Mai 1993 an die ehemalige innerdeutsche Grenze, wo sie einen Zaun aufbauten, der eine neue Grenze symbolisieren sollte. Dort brachten sie ein Transparent an, auf dem stand: »Achtung! Deutsche Kolonie / verwaltet durch die Treuhandanstalt der Bundesregierung / Die Kaliwerker«.32 Und die SED-Nachfolgepartei PDS, die Anfang der 1990er-Jahre beachtliche Wahlerfolge gerade in Ostdeutschland erzielte, richtete ihre Programmatik nicht unwesentlich gegen die »›Kolonialisierung‹ der DDR« – so zumindest resümierte Alexander von Plato 1999.33 Im Parteiprogramm von 1993 kündigte die PDS Widerstand gegen die »Verwestlichung des Ostens« an,34 was sich durchaus als antikoloniale Rhetorik verstehen lässt.

4. Koloniale Konjunkturen: Postkoloniale und ostkoloniale Kritik

Bereits kurz nach dem Mauerfall – so ließe sich resümieren – hatte die postsozialistische Kolonialismuskritik Konjunktur. Ungefähr zur selben Zeit begann sich eine weitere kolonialismuskritische Konjunktur in Deutschland zu entfalten. Unter anderem ausgelöst durch die Rezeption postkolonialer Theorie setzte eine verstärkte Auseinandersetzung mit Kolonialgeschichte ein, die letztlich bis heute anhält.35 Insofern könnte man von zwei kolonialismuskritischen Konjunkturen sprechen. Doch wie verhielten bzw. verhalten sich diese zueinander?

Wenn man sich die Anfänge der beiden Diskurse noch einmal vergegenwärtigt, überwiegt der Eindruck der Unverbundenheit. Die bereits erwähnten Journalisten Peter Christ und Ralf Neubauer zum Beispiel nahmen zwar – wenn auch kursorisch – auf die allgemeine Charakteristik kolonialer Herrschaft Bezug. Sie verwiesen auf den Missionierungseifer, das Selbstverständnis der Kolonisierenden als Zivilisations- und Heilsbringer sowie die wirtschaftliche Ausbeutung. Dies nutzten sie als Folie, um ein kritisches Resümee zu ziehen: »Die Art und Weise, wie der wirtschaftliche und gesellschaftliche Wandel in der Ex-DDR abläuft, erinnert fatal an dieses unrühmliche Kapitel europäischer Geschichte. Die neuen Kolonialherren treten mit der gleichen überlegenen Arroganz auf wie die alten. Sie lassen kein gutes Haar an dem, was sie in der ostdeutschen Gesellschaft vorfinden.«36 Allerdings scheint ihnen die Bezugnahme auf die Geschichte kolonialer Herrschaft keineswegs Anlass gewesen zu sein, allgemein nach dem Status und der Bedeutung dieser Geschichte zu fragen. Während es im Rahmen postkolonialer Kritik darum ging (und geht), die Moderne und unsere Gegenwart neu zu vermessen, und zwar anhand der über viele Jahre vergessenen oder verdrängten Geschichte kolonialer Gewalt und Ausbeutung, diente für Christ und Neubauer der Rekurs auf die koloniale Vergangenheit lediglich dazu, die postsozialistischen Transformationsdynamiken zu skandalisieren.

Ähnliches gilt für das 1996 erschienene Buch »Kolonialisierung der DDR. Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses«, das die Sozialwissenschaftler Fritz Vilmar und Wolfgang Dümcke herausgaben. Bemerkenswert ist zunächst, dass Dümcke und Vilmar – anders als Christ und Neubauer – explizit auf die deutsche Kolonialgeschichte und insbesondere auf deutsche Kolonialverbrechen verwiesen. So betonten sie an einer Stelle, dass es ihnen nicht darum gehe, die Situation in Ostdeutschland nach 1989/90 »mit dem Einmarsch von Kolonialtruppen à la Lettow-Vorbeck, mit Massakern an ›Eingeborenen‹« gleichzusetzen.37 Es wird ersichtlich, dass Dümcke und Vilmar durchaus um Differenzierung bemüht waren und mit der Frage der (Un-)Angemessenheit der Übertragung des Kolonisierungsbegriffes rangen – hierauf wird zurückzukommen sein. Gleichwohl fällt auf, dass die Kolonialverbrechen zwar genannt wurden, aber letztlich nicht für sich genommen wichtig erschienen. Anders als in der postkolonialen Theorie interessierte die beiden Herausgeber auch nicht, was es bedeuten mochte, dass diese Verbrechen zumindest im sogenannten Globalen Norden lange Zeit mehr oder weniger ignoriert wurden. Vielmehr ging es Dümcke und Vilmar ausschließlich darum, die postsozialistische Transformation auf einen (kritischen) Begriff zu bringen.38

Umgekehrt ist mir nicht bekannt, dass postkolonial inspirierte Kolonialismus-Forscher*innen in den 1990er-Jahren auf die postsozialistische Transformation Bezug genommen hätten. Dies änderte sich allerdings im neuen Jahrtausend. Denn nun setzte eine international geführte Diskussion ein, in der es vor allem darum ging, postkoloniale Ansätze auf das Feld der postsozialistischen Transformationsforschung zu übertragen.39 Dieser Wandel mag mit der Dynamik der postkolonialen Konjunktur zusammenhängen: Je mehr sich postkoloniale Perspektiven etablierten, desto naheliegender schien es, auch die Geschichte weiter Teile Osteuropas entsprechend neu zu deuten.40 Und da es zwischen Osteuropa und Ostdeutschland in puncto postsozialistische Transformation Überschneidungen gibt, wurden postkoloniale Impulse auch für das innerdeutsche Ost-West-Verhältnis produktiv zu machen versucht.

Einige Effekte dieser Neuorientierung seien kurz erwähnt: Bisweilen ist in Bezug auf Ostdeutsche von einem »Bild von den Anderen« die Rede, werden Ostdeutsche als »symbolische Ausländer« bezeichnet.41 Konsequenterweise werden Ostdeutsche mit Migrant*innen und insbesondere mit Muslim*innen verglichen bzw. analogisiert.42 Überhaupt wird davon ausgegangen, dass auch im Rahmen der postsozialistischen Transformation Prozesse des Othering bzw. des Veranderns am Werk seien.43 Zudem heißt es, dass sich Ostdeutsche in einer Position der Subalternität befinden würden, was ihre Marginalisierung zur Folge habe.44 Schließlich wird angesichts der Dominanzverhältnisse zwischen West- und Ostdeutschland von Privilegien sowie von Critical Westness gesprochen, was an die Critical Whiteness-Forschung angelehnt ist.45

Der postkoloniale Turn innerhalb der postsozialistischen Transformationsforschung – so ließe sich zusammenfassen – hat ein weites Feld von macht- und dominanzkritischen Analysen des Ost-West-Verhältnisses entstehen lassen, das von Analogiebildungen, wechselseitigen theoretischen Anleihen und Bezügen (zwischen Transformations-, Migrations- und Rassismusforschung bzw. postkolonialer Theorie) sowie schließlich von dem Versuch der Bestimmung möglicher Gemeinsamkeiten und Unterschiede (zwischen Ost- und Westdeutschen, Ostdeutschen und Migrant*innen, postsozialistischer Transformation und kolonialer Landnahme etc.) gekennzeichnet ist. Und wenn man die berühmte Formulierung des postkolonialen Theoretikers Stuart Hall zum Ausgangspunkt nimmt, wonach die Welt in zwei Zonen aufgeteilt sei, the west and the rest, so wäre zu überlegen, auf welche Weise sich »der Osten« zu dieser Aufteilung verhält: Hat er womöglich gleichermaßen als »Teil ›des Westens‹ und ›des Rests‹« zu gelten?46

5. Postsozialistische Kolonialphantasien revisited: »der Osten«

Weiter zu fragen wäre, was genau mit »dem Osten« gemeint ist und wie sich Ostdeutschland zu Osteuropa verhält. Um diesem Aspekt nachzugehen, möchte ich mich erneut Baring und Siedler zuwenden. Da die in dem Gesprächsband »Deutschland, was nun?« angestellten Überlegungen nicht nur klassische koloniale Diskursfragmente assoziierbar machen, sondern auch die imperiale Geschichte des sogenannten Drangs nach Osten sowie des antislawischen Rassismus, eignen sie sich als Ausgangspunkt.

Siedler brachte das Schlagwort der »polnischen Wirtschaft« ins Spiel: »In der alten DDR herrschte im Grunde, wie man es früher formuliert hätte, polnische Wirtschaft. Als Variation davon hat mir neulich jemand, die Provokation auf die Spitze treibend, gesagt: ›und aus den Menschen dort sind weithin deutsch sprechende Polen gewor­den‹.«47 Bezeichnenderweise reflektierte auch Siedler – ähnlich wie Baring bei seiner Kolonisierungs-Forderung – hier die Grenzen des Sagbaren. Zumindest war er sich über den problematischen Gehalt seiner Aussagen im Klaren. Letztlich läuft die rhetorische Distanzierungsstrategie darauf hinaus, anderen die eigenen Worte in den Mund zu legen, entweder einem nicht näher spezifizierten »jemand« oder den Menschen in »früheren« Zeiten. Dabei ist zu vermuten, dass es Siedler durchaus darum ging, selbst die Provokation auf die Spitze zu treiben – im Übrigen war er es, der das Stichwort »Ostkolonisation« in das Gespräch einbrachte, welches Baring dann aufgriff.

Siedlers Vorsicht – wie strategisch auch immer – hängt damit zusammen, dass der Begriff »polnische Wirtschaft« dem historischen Archiv des gegen Pol*innen gerichteten Rassismus entstammt. Der Germanist und Stereotypenforscher Hubert Orłowski misst diesem Begriff fundamentale Bedeutung hinsichtlich der in Deutschland zirkulierenden (historischen) Polenbilder zu – er spricht von einem »Schlüssel­stereotyp« bzw. »einer Art Leitbild«, bei dem die Vorstellung eines »chaotische[n], also letztendlich ineffizient organisierte[n] Handeln[s]« transportiert werde, wobei auch Faulheit impliziert sei.48 Als Negativpol verweist das hier konstituierte Fremdbild auf das positiv konnotierte Selbstbild: Das »Zerrbild der polnischen Rückständigkeit« habe im 19. und 20. Jahrhundert »einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung des deutschen Selbstwertgefühls geleistet«. Für dieses Selbstwertgefühl wiederum seien »Alltagsvorstellungen von eigenen Sekundärtugenden wie Ordnung, Fleiß, Sparsamkeit und Sauberkeit« charakteristisch. Orłowski resümiert: »Die ›polnische Wirtschaft‹ hatte eine Doppelfunktion zu erfüllen, die eines Fremd- und zugleich eines Eigenstereotyps. Ein Fremdspiegel also, in dem sich die ›deutsche Wirtschaft‹ bzw. ›deutsche Ordnung‹ um so profilierter positiv widerspiegelte.«49

Es ist hier nicht der Ort, um ausführlicher auf die Genese des Topos der »polnischen Wirtschaft« einzugehen. Verwiesen sei lediglich auf den 1855 erschienenen Roman »Soll und Haben« von Gustav Freytag, der nicht nur außerordentlich populär war, sondern auch insofern wichtig, als er »eine programmatische Neudefinition bürgerlicher und nationaler Identität im Nachmärz« unternahm.50 Bemerkenswert an dieser Neudefinition ist vor allem, dass für das hier profilierte bürgerlich-nationale Selbstbild gleichermaßen anti-polnische wie anti-jüdische Fremdbilder konstitutiv waren. Ein zentraler Bestandteil dieses Selbstbildes war das Ideologem der »deutschen Arbeit«, das die Literaturwissenschaftlerin Christine Achinger in ihrer Auseinandersetzung mit Freytag wie folgt beschreibt: »a form of concrete mediation that is productive, morally guided and community-building«. Bezüglich der korrespondierenden Fremdbilder wiederum heißt es: »None of the other groups in the novel are able to work in this way; the Poles […] because they do not work at all, and the Jews because their labor is not morally guided but motivated by egoism, not productive, but destructive, and not community-building, but fragmenting.«51 Antipolnische und antijüdische Fremdbilder waren hier also nicht deckungsgleich, aber auf vielfältige Weise miteinander verwoben.52 In diesem Sinne ließe sich fragen, ob und inwiefern die Zuschreibungsformel »polnische Wirtschaft« nicht auch antisemitisch konnotiert war. Das Selbstbild »deutsche Arbeit« und das Fremdbild »polnische Wirtschaft« jedenfalls waren konstitutiv aufeinander verwiesen: »Der mächtige nationalistische Impuls von der Ideologie der ›deutschen Arbeit‹ bildet eine Basis für das bürgerliche Ethos. Der polnischen Seite hingegen wurde nicht nur das erneuerte Klischee und verstärkte Vorurteil ›polnische Wirtschaft‹ untergeschoben, sondern auch die unattraktive Position eines Feindes eingeredet.«53

Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, dass eine gerade Linie von Freytag zu Baring und Siedler verlaufen würde. Gleichwohl überrascht, mit welcher Selbstverständlichkeit die beiden letzteren eine zentrale Rolle Deutschlands im Rahmen der postsozialistischen Transformation in Osteuropa voraussetzten. Vordergründig leiteten sie dies aus geopolitischen Erwägungen ab (Mittellage Deutschlands), doch wenn man die hergestellte Verknüpfung zwischen vermeintlicher Rekultivierungsaufgabe, Deutschlands Rolle sowie dem auf Fleiß, Tatkraft und Zielstrebigkeit beruhenden Selbstbild bedenkt, dann wird auch eine alternative oder zumindest ergänzende Lesart plausibel: In Barings und Siedlers Ausführungen spukte das Selbstbild »deutsche Arbeit« herum. Sie hatten diesen Geist aus der Flasche gelassen, nicht zuletzt durch den Verweis auf die »polnische Wirtschaft«.

Baring jedenfalls behauptete, dass Polen »viel weniger leistungsfähig« als die DDR gewesen sei.54 Und Siedler erweiterte das Spiel mit der Provokation, indem er die Rede von den deutsch sprechenden Pol*innen (zu denen die Bewohner*innen der ehemaligen DDR angeblich mutiert seien) erneut aufgriff und fragte: »Wird es nicht eines Tages sozusagen Polnisch und Tschechisch und Ungarisch sprechende Deutsche geben müssen?«55 Er setzte die »Suprematie« Deutschlands voraus und fügte hinzu: »Natürlich wollen wir die Polen nicht vertreiben, aber ich glaube in der Tat, eines Tages werden sich Pommern und Schlesien und Böhmisch-Mähren wieder nach Deutschland orientieren.«56 An dieser Stelle wird in besonderem Maße deutlich, wie das Stereotyp »polnische Wirtschaft« und die Phantasie einer neuen »Ostkolonisation« zusammenhängen: Gerade weil es »polnische Wirtschaft« gebe – so ließe sich Barings und Siedlers Argumentation zuspitzen –, und zwar sowohl als Erbe der realsozialistischen Planwirtschaft wie auch als über die Geschichte des Sozialismus hinausweisende Charakteristik polnischer (oder allgemein »slawischer«) Existenzweisen, bedürfe es einer »Rekultivierung« im Sinne von Leistung, Effizienzdenken und Arbeitsethos. Der »deutschen Arbeit« falle die Aufgabe zu, eine solche »Rekultivierung« zu bewerkstelligen.

6. Fallstricke und Differenzierungsbemühungen

Bei Baring und Siedler verschwammen die Grenzen zwischen Ostdeutschen und Pol*innen. Dies wird im Zusammenhang mit dem Fremdbild »polnische Wirtschaft« ersichtlich, aber auch mit dem korrespondierenden Szenario der »Verostung«, das sich zugleich als Szenario der Proletarisierung verstehen lässt – ein Kapitel in »Deutschland, was nun?«, in dem es um die Migration aus Ostdeutschland und Osteuropa nach Westdeutschland und vor allem nach Berlin geht, ist mit »Die Gefahr der Ver-Ostung« überschrieben. Dabei bleibt strukturell unklar, wo »der Osten« beginnt und wo er endet.

Auch bei Dirk Oschmann begegnet diese Unklarheit. In seinem Buch heißt es an einer Stelle: »Was ist […] eigentlich ›der Osten‹? Eine Himmelsrichtung, ein geografischer Raum, eine flexible, von der jeweiligen Perspektive abhängige räumliche Relation? […] Wer befindet darüber?«57 Bemerkenswert ist nun, dass Oschmanns »Osten« von einer fundamentalen Schieflage gekennzeichnet ist. Um auf die eingangs zitierte Textstelle zurückzukommen: Wenn Oschmann schreibt, dass der »dem Osten« (und er meint hier auch Ostdeutschland) entgegengebrachte Vorwurf der Demokratiefeindlichkeit auf ein über lange Zeiträume tradiertes koloniales Herrschaftsmuster zurückzuführen sei, dann blendet er aus, dass auch Ostdeutsche Teil dieses Herrschaftsmusters waren und an den Kolonialverbrechen des Kaiserreiches mitwirkten. Ähnlich verhält es sich bei Oschmanns Auseinandersetzung mit Freytags Roman »Soll und Haben«. Zwar verweist er durchaus auf den gleichermaßen antisemitischen wie antislawischen Gehalt dieses Textes, der »von einem unerträglichen deutschen Dünkel« durchzogen sei.58 Und doch geht seine Analyse nahtlos in eine allgemeine Reflexion der von ihm als »kontaminiert« bezeichneten Zuschreibungsformel »Osten« über, was zur Folge hat, dass Polenwitze und die Bezeichnung »Ossi« auf einer Ebene angeordnet werden, dass also nicht nur Pol*innen, sondern auch Ostdeutsche als negativ Betroffene von allgemein gegen »den Osten« gerichteten Diskriminierungsformen erscheinen.59 Dabei wird ignoriert, dass auch Ostdeutsche die »deutsche Arbeit« verkörperten, als von »deutscher Arbeit« gestählte »Herrenmenschen« während des Nationalsozialismus in Polen einfielen und dort die Vernichtung der jüdischen und polnischen Antipoden der »deutschen Arbeit« mit ins Werk setzten.

In diesem Sinne ließe sich schlussfolgern, dass Oschmanns skandalisierendes Narrativ der Kolonisierung zwar Missstände und Ungerechtigkeiten zu benennen vermag, allerdings um den Preis von Auslassungen und Leerstellen, was sich insbesondere an der Ignoranz gegenüber unterschiedlichen Erfahrungswelten innerhalb »des Ostens« sowie entsprechend am Mangel von systematischer Rassismuskritik zeigt. In seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Zuschreibungsformel »Osten« blendet der Autor stellenweise aus, dass weite Teile Osteuropas auf brutalste Weise kolonisiert wurden, nicht zuletzt im Rahmen des Vernichtungskrieges der Wehrmacht, und dass der antislawische Rassismus ein fundamentaler Bestandteil in der historischen Genese deutscher (auch ostdeutscher) Selbstbilder war. Die Diskriminierungs- und Abwertungserfahrungen jedenfalls, die ostdeutsch Sozialisierte im Zuge der postsozialistischen Transformation gemacht haben und immer noch machen, lassen sich nur sehr bedingt zu diesen Dimensionen von Kolonialismus und Rassismus in Beziehung setzen.

Doch wie verhält es sich mit postsozialistischen Kolonisierungsnarrativen, die stärker um Differenzierung bemüht sind? Bei Dümcke und Vilmar ließe sich sagen, dass ihre Übertragung des Kolonisierungsbegriffes auf postsozialistische Konstellationen an der Schnittstelle von Skandalisierung und Differenzierung angesiedelt war: Wie bereits angedeutet, rangen die beiden Autoren mit der Frage der Übertragbarkeit. Sie argumentierten, dass es ihnen um strukturelle Elemente kolonialer Herrschaft gehe, was im Umkehrschluss bedeute, den Begriff des Kolonialismus aus seinem früheren Kontext, der europäischen Expansion seit dem 15. Jahrhundert, herauszulösen und in einem übergeordneten Sinne zu verstehen. Zudem erklärte Vilmar, dass es »im Grenzfall auch ›Kolonialismus ohne Kolonien‹ gibt«, das heißt Konstellationen, in denen nicht das Verhältnis zwischen sogenanntem Mutterland und (meist) überseeischer Kolonie bestimmend sei, sondern eine Relation zwischen Zentrum und Peripherie innerhalb eines Kontinentes oder gar eines Nationalstaates.60 Schließlich brachte Vilmar eine weitere Referenz ins Spiel: Er adaptierte Jürgen Habermasʼ These einer »Kolonialisierung der Lebenswelt«, die dieser in seinem 1981 erschienenen, zweibändigen Werk »Theorie des kommunikativen Handelns« entfaltet hatte. Kurz gesagt ging es dort um eine spezifische Rekonstruktion dessen, was gemeinhin als Modernisierungsprozess bezeichnet wird. Habermas interessierte sich für die Art und Weise, wie das »System« (kapitalistische Produktionsweise, bürgerlicher Staat, Bürokratie, Recht etc.) die alltägliche »Lebenswelt« der Individuen zunehmend in Beschlag genommen habe.61 Für Vilmar eröffnete sich die Möglichkeit, die Kolonisierungsanalogie neu zu perspektivieren: »Man könnte die These vertreten, dass die politisch-ökonomisch-kulturelle Kolonialisierung, als welche wir die Herrschaftsausübung westdeutscher Machteliten gegenüber der ›Lebenswelt‹ der Ostdeutschen begreifen, nichts anderes ist als eine geschichtlich-dramatische Zuspitzung genau jener Vorgänge, die Habermas auf einer allgemeineren Ebene im Verhältnis von staatsbürokratischer und ökonomischer Machtausübung gegenüber der ›Lebenswelt‹ der Menschen ausgemacht hat.«62

So gesehen lässt sich ein Changieren feststellen – zwischen einem engen Kolonisierungsbegriff, der an die historische Epoche der europäischen (und somit auch deutschen) Expansion angelehnt ist, und einem weiten, metaphorischen Kolonisierungsbegriff, der eher auf die Transformation von Gesellschaften als Folge der Etablierung und Ausweitung des Kapitalismus samt korrespondierender Organisationsprinzipien und Regierungstechnologien abzielt. Ein solches Changieren produziert notwendigerweise Unschärfen. Zugleich lässt sich das Bemühen erkennen, die auf Skandalisierung ausgerichtete oder politisch-polemische Funktion des Kolonisierungsnarrativs durch analytisch-historisierende Perspektiven zu ergänzen.

Auch Ansätze, die von postkolonialer Theorie inspiriert sind und entsprechende Konzepte auf postsozialistische Konstellationen zu übertragen versuchen, zeichnen sich mitunter durch Differenzierung aus. Es handelt sich allerdings um eine grundsätzlichere Form der Differenzierung, was dazu führt, dass der Begriff der Kolonisierung zunehmend in den Hintergrund rückt. Vielleicht lässt sich sagen, dass die Übertragung postkolonialer Analysetools auf das innerdeutsche Ost-West-Verhältnis mit einem Anstieg an Differenzierungsbemühungen und (selbst-)kritischer Reflexion einhergehen kann, was insofern folgerichtig wäre, als hier machtkritische Denkansätze zur Diskussion stehen, die auch implizieren oder danach verlangen, die eigene Position innerhalb von Herrschaftsverhältnissen zu befragen. Außerdem wäre in Erwägung zu ziehen, dass es den Protagonist*innen der Übertragung von postkolonialer Kritik weniger um Skandalisierung als um kritische Analyse und selbstreflexive Suchbewegungen ging (und geht). Der Kolonisierungsbegriff jedenfalls – so ließe sich das Argument zuspitzen – hat in dem Maße an Bedeutung eingebüßt, in dem sich die postsozialistische Transformationsforschung stärker an der postkolonialen Kritik orientierte (und somit die ostkoloniale Kritik etablierte).63

7. Fazit

Die Konjunktur von Kolonisierungsnarrativen hat unterschiedliche Effekte. Auf der einen Seite rücken lange Zeit vernachlässigte Perspektiven in den Fokus. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, den Kolonisierungsbegriff als kritische Analysekategorie auszuhöhlen, wenn er bloß politisch-polemisch eingesetzt wird. Die postsozialistische Kolonialismuskritik sowie die postkolonial inspirierte Transformationsforschung sind dieser Gefahr in besonderer Weise ausgesetzt, vor allem dann, wenn es um das Verhältnis zwischen West- und Ostdeutschland geht. Gleichzeitig lässt sich konstatieren, dass hier ein äußerst produktiver interdisziplinärer Debattenraum entstanden ist, der sich in Zukunft verstärkt mit der Frage wird auseinandersetzen müssen, ob und wie sich die sozialistischen Kolonisierungsprojekte der Sowjetunion in die bereits etablierten postsozialistischen Kolonisierungsnarrative einordnen lassen. Darüber hinaus wird – auch in Anlehnung an klassische Imperialismustheorien – weiterhin zu eruieren sein, inwiefern dem Kapitalismus expansive Tendenzen inhärent waren und sind, die unterschiedliche Formen von und Grade an Kolonisierung hervorgebracht haben.64 In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass der Transformationsbegriff, der sich als Kennzeichnung des Wandels in postsozialistischen Gesellschaften durchgesetzt zu haben scheint, vor fast 80 Jahren bei Karl Polanyi dazu diente, die historische Entstehung und Durchsetzung des Kapitalismus seit dem 18. Jahrhundert zu beschreiben.65 Auch wenn Polanyis Interpretation keineswegs globalgeschichtlich angelegt war, wäre die globalgeschichtliche und also auch Kolonialismus einschließende Dimension heute stets mitzudenken. Anders gesagt: Wenn die mit Kolonisierungsdynamiken in Zusammenhang stehende historische Ausbreitung des Kapitalismus als »Große Transformation« bezeichnet wird, so liegt es nahe, die seit gut 30 Jahren sich abzeichnende postsozialistische Ausbreitung des Kapitalismus, die ebenfalls als Transformation gedeutet wird, wiederum hinsichtlich ihrer (möglichen) Kolonisierungsdynamiken zu befragen.

Kolonisierungsnarrative haben das Potential, unterschiedliche Schauplätze und historische Phasen sowie korrespondierende Machtverhältnisse und Herrschaftssysteme zueinander in Beziehung zu setzen. Trotz der Nivellierungsgefahr könnte es sich als Erkenntnisgewinn erweisen, solche Verknüpfungen überhaupt erst denkbar zu machen, Irritationen zuzulassen und genauer nach teils gemeinsamen, teils spezifischen Strukturen und Erfahrungswelten zu fragen. Zumindest indirekt mag Dirk Oschmanns Buch dafür einen weiteren Anstoß gegeben haben.


Anmerkungen:

1 Dirk Oschmann, Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, Berlin 2023. Siehe auch Claudia Gatzka, Geschichten wider den Osten, in: Merkur 77 (2023) H. 10, S. 5-18.

2 Edward Said, Orientalism, London 1978; dt.: Orientalismus, Frankfurt a.M. 1981 (übersetzt von Liliane Weissberg), Frankfurt a.M. 2009 (übersetzt von Hans Günter Holl).

3 Zur Kritik an Oschmann siehe u.a. David Begrich, Im Osten nichts Neues: Ein Buch der Wut, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 68 (2023) H. 5, S. 100-102; Konstantin Petry, Neues vom edlen Wilden. Über Dirk Oschmanns »Osten«, in: Merkur 77 (2023) H. 7, S. 69-77. In einem Interview, das Mathias Berek, Katharina Trittel und ich für das Online-Magazin »Lernen aus der Geschichte« mit Oschmann geführt haben, merkte dieser selbstkritisch an: »Das Buch hat seine Schwächen. Eine besteht sicher darin, dass der Eindruck erweckt wird, der Osten würde komplett aus der Verantwortung genommen.« Felix Axster/Mathias Berek/Katharina Trittel, »Der kleine Bruder geht in den Knast, damit der große Bruder weiter Geschäfte machen kann.« Im Gespräch mit Dirk Oschmann, in: Lernen aus der Geschichte 6/2023. Zur Orientalismus-Debatte im Anschluss an Said siehe María do Mar Castro Varela/Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld 2005, 3. Aufl. 2020; Felix Wiedemann, Orientalismus, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 19.5.2021.

4 Oschmann, Der Osten (Anm. 1), S. 76. Es ließe sich einwenden, dass die Said-Assoziation insofern hinkt, als das orientalistische (und allgemein das koloniale) Stereotyp – wie häufig bemerkt wurde – von einer grundlegenden Ambivalenz gekennzeichnet ist, zwischen Abwehr und Verlangen oszilliert, während Oschmann von »konstant negativen« Zuschreibungen spricht.

5 Ebd., S. 95.

6 In Berlin etwa wurde 2022/23 eine Theaterperformance mit dem Titel »Verglühende Landschaften« aufgeführt.

7 Susanne M. Zantop, Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770–1870), Berlin 1999.

8 Ilko-Sascha Kowalczuk, Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde, München 2019, S. 15f.

9 Kathleen Heft, Wie über den Osten sprechen? Von der Kolonisierung zur Ossifizierung, in: Lernen aus der Geschichte 6/2023; Lin Hierse, Es geht um Rassismus, in: taz, 6.9.2019, S. 14 (im Internet unter dem Titel »Keine Kolonie im nahen Osten«).

10 Arnulf Baring, Deutschland, was nun? Ein Gespräch mit Dirk Rumberg und Wolf Jobst Siedler, Berlin 1991, S. 70.

11 Oschmann, Der Osten (Anm. 1), S. 76, S. 64.

12 Baring, Deutschland (Anm. 10), S. 52.

13 Ebd., S. 59.

14 Ebd., S. 62f.

15 Boris Barth/Jürgen Osterhammel (Hg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005.

16 Anton Markmiller, »Die Erziehung des Negers zur Arbeit«. Wie die koloniale Pädagogik afrikanische Gesellschaften in die Abhängigkeit führte, Berlin 1995.

17 Barings und Siedlers Gespräch erschöpfte sich nicht in Erörterungen über die Situation in der ehemaligen DDR. Vielmehr – dies deutet der Begriff »Ostkolonisation« bereits an – hatten sie die gesamte postsozialistische Transformation und besonders auch die Lage in Polen im Blick. In diesem Zusammenhang wird ersichtlich, dass ihre Einschätzungen und Mutmaßungen auch von antislawischen Ressentiments geprägt waren. Hierauf wird zurückzukommen sein.

18 Oschmann, Der Osten (Anm. 1), S. 54. Siehe auch <https://www.unwortdesjahres.net/unwort/das-unwort-seit-1991/1991-1999/>.

19 Ich danke Dirk van Laak, der mich auf die Herkunft des Motivs aufmerksam machte.

21 Auf die Frage, ob und inwiefern sich die Stilisierung dieser Figur als antisemitisch verstehen lässt, wird hier nicht eingegangen, da sie den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde.

22 Norman Aselmeyer/Stefan Jehne/Yves Müller, »Die DDR hat’s nie gegeben«. Leerstellen in der aktuellen Erinnerungsdebatte, in: Merkur 76 (2022) H. 9, S. 27-41, hier S. 33.

23 Otto Grotewohl, Regierungserklärung am 12. Oktober 1949, in: ders., Im Kampf um die einige Deutsche Demokratische Republik. Reden und Aufsätze. Auswahl aus den Jahren 1945–1953, Bd. 1: 1945–1949, Berlin 1954.

24 Aselmeyer/Jehne/Müller, »Die DDR hat’s nie gegeben« (Anm. 22), S. 33.

25 Rote Armee Fraktion, Die Aktion des Schwarzen September in München – Zur Strategie des antiimperialistischen Kampfes, o.D. (November 1972), URL: <https://socialhistoryportal.org/raf/text/307209>.

26 Kongress der Radikalen Linken. Reden und Diskussionsbeiträge zum Kongress an Pfingsten 1990 und auf der Demo »Nie wieder Deutschland« am 12.5.1990 in Frankfurt am Main, Frankfurt a.M. 1990, S. 235.

27 Karl-Heinz Roth, Gegen Annexion und Finanzkapital. Rede am 12.5.1990 in Frankfurt am Main auf der Demonstration »Nie wieder Deutschland«, in: Kongress der Radikalen Linken (Anm. 26), S. 267-270, hier S. 270, S. 269.

28 Zur Auseinandersetzung um die Radikale Linke und speziell um die Frankfurter Demonstration siehe Andreas Fanizadeh, »Was soll das dumme Zeug hier?« »Nie wieder Deutschland« und die politische Öffentlichkeit, in: Redaktion diskus (Hg.), Die freundliche Zivilgesellschaft. Rassismus und Nationalismus in Deutschland, Berlin 1992, S. 139-146. Siehe auch autonome l.u.p.u.s. gruppe, Geschichte, Rassismus und das Boot. Wessen Kampf gegen welche Verhältnisse, Berlin 1992.

29 Auch die RAF schrieb sich in das Feld der linksradikalen postsozialistischen Kolonialismuskritik ein. In der Erklärung zum am 1. April 1991 verübten Mord an dem damaligen Chef der Treuhandanstalt, Detlev Karsten Rohwedder, war von einem »kolonialstatus« der ehemaligen DDR die Rede, von der »annexion« der fünf neuen Länder, die »faktisch kolonie der bundesrepublik« seien. Die RAF-Erklärung vom 4. April 1991 findet sich unter <https://socialhistoryportal.org/raf/text/307202>.

30 Peter Christ/Ralf Neubauer, Kolonie im eigenen Land. Die Treuhand, Bonn und die Wirtschaftskatastrophe der fünf neuen Länder, Berlin 1991. Christ war von 1987 bis 1990 Leiter des Wirtschaftsressorts bei der »ZEIT«, Neubauer war Wirtschaftskorrespondent der »Stuttgarter Zeitung«.

31 Jens Reich, Rückkehr nach Europa. Zur neuen Lage der deutschen Nation, München 1993, S. 220-226, hier S. 221.

32 Zum Kontext siehe Christian Rau, Hungern für Bischofferode. Protest und Politik in der ostdeutschen Transformation, Frankfurt a.M. 2023.

33 Alexander von Plato, »Entstasifizierung« im Öffentlichen Dienst der neuen Bundesländer nach 1989. Umorientierung und Kontinuität in der Lehrerschaft, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 5 (1999), S. 313-342, hier S. 326.

34 Zit. nach Manfred Wilke, Die Post-Kommunisten und die deutsche Demokratie, in: German Studies Review 20 (1997), S. 293-316, hier S. 303.

35 Gewiss gab es auch schon vorher kritische Auseinandersetzungen mit (deutscher) Kolonialgeschichte. Zudem wären weitere Faktoren zu nennen, etwa die Konstitution von Schwarzer deutscher Subjektivität in den 1980er-Jahren, die auch und vor allem von afro-deutschen Feministinnen ausging. Vgl. Katharina Oguntoye/May Ayim/Dagmar Schultz (Hg.), Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte, Berlin 1986 (und öfter).

36 Christ/Neubauer, Kolonie im eigenen Land (Anm. 30), S. 217.

37 Wolfgang Dümcke/Fritz Vilmar, Was heißt hier Kolonialisierung? Eine theoretische Vorklärung, in: dies. (Hg.), Kolonialisierung der DDR. Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses, Münster 1996, S. 12-21, hier S. 13. Paul von Lettow-Vorbeck war in unterschiedlichen militärischen Funktionen an mehreren Kolonialkriegen des Deutschen Kaiserreiches beteiligt, unter anderem auch an der genozidalen Kriegsführung gegenüber den Herero und Nama im heutigen Namibia Anfang des 20. Jahrhunderts. Vgl. Uwe Schulte-Varendorff, Kolonialheld für Kaiser und Führer. General Lettow-Vorbeck – Mythos und Wirklichkeit, Berlin 2006; Eckard Michels, Der Held von Deutsch-Ostafrika. Paul von Lettow-Vorbeck. Ein preußischer Kolonialoffizier, Paderborn 2008.

38 Einige Jahre später nahm Vilmar im Rahmen einer neuerlichen Reflexion über die Kolonisierungsthese zunehmend auf kolonialismuskritische Literatur Bezug (er selbst sprach von Kolonialwissenschaft, was insofern irritiert, als er diese historische Disziplin mit der kritischen Kolonialismusforschung zu verwechseln schien). Vgl. Fritz Vilmar, Zum Begriff der »Strukturellen Kolonialisierung«, in: ders. (Hg.), Zehn Jahre Vereinigungspolitik. Kritische Bilanz und humane Alternativen, Berlin 2000, S. 21-31. Besonders Jürgen Osterhammel wurde eine wichtige Referenz, der in einem Mitte der 1990er-Jahre – also zeitgleich mit Vilmars und Dümckes gemeinsamer Publikation – erschienenen Buch unterschiedliche Formen von Kolonisierung zu systematisieren versuchte: Jürgen Osterhammel, Kolonialismus. Geschichte – Formen – Folgen, München 1995.

39 Dorota Kołodziejczyk/Cristina Şandru (Hg.), Postcolonial Perspectives on Postcommunism in Central and Eastern Europe, London 2016. Einen instruktiven Überblick zur Debatte bietet Kathleen Heft, Kindsmord in den Medien. Eine Diskursanalyse ost-westdeutscher Dominanzverhältnisse, Opladen 2020, v.a. S. 247-260.

40 So rückte nicht zuletzt das imperiale Ausgreifen Deutschlands nach Osten insbesondere während des Kaiserreiches und des Nationalsozialismus zunehmend in den Fokus der Aufmerksamkeit. Vgl. Christoph Kienemann, Der koloniale Blick gen Osten. Osteuropa im Diskurs des Deutschen Kaiserreiches von 1871, Paderborn 2018; Gerd Koenen, Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900–1945, München 2005, 3., aktualisierte Aufl. 2023; Kristin Kopp, Germanyʼs Wild East. Constructing Poland as Colonial Space, Michigan 2012; Mark Terkessidis, Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute, Hamburg 2019; Philipp Ther, Deutsche Geschichte als imperiale Geschichte. Polen, slawophone Minderheiten und das Kaiserreich als kontinentales Empire, in: Sebastian Conrad/Jürgen Osterhammel (Hg.), Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871–1914, Göttingen 2004, S. 129-148.

41 Thomas Ahbe/Rainer Gries/Wolfgang Schmale (Hg.), Die Ostdeutschen in den Medien. Das Bild von den Anderen seit 1990, Leipzig 2009; Rebecca Pates/Maximilian Schochow (Hg.), Der »Ossi«. Mikropolitische Studien über einen symbolischen Ausländer, Wiesbaden 2013.

42 Naika Foroutan u.a., Ost-Migrantische Analogien I. Konkurrenz um Anerkennung, Berlin 2019.

43 Heft, Kindsmord in den Medien (Anm. 39); Daniel Kubiak, Deutsch-deutsche Identitäten in der Nachwendegeneration, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 70 (2020) H. 28-29, S. 35-39.

44 Raj Kollmorgen, Subalternisierung. Formen und Mechanismen der Missachtung Ostdeutscher nach der Vereinigung, in: ders./Frank Thomas Koch/Hans-Liudger Dienel (Hg.), Diskurse der deutschen Einheit. Kritik und Alternativen, Wiesbaden 2011, S. 301-359. Allgemein zur Bedeutung des Begriffes der Subalternität innerhalb der postkolonialen Theorie siehe Dipesh Chakrabarty, Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung. Aus dem Englischen von Robin Crackett, Frankfurt a.M. 2010; Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Aus dem Englischen von Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny, Wien 2008; Hito Steyerl/Encarnaciön Gutierrez Rodriguez (Hg.), Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik, Münster 2003.

45 Urmila Goel, Westprivilegien im vereinten Deutschland, in: telegraph 120/121 (2010), S. 8-15; Heiner Schulze, Critical Westness: Unsichtbare Normen und (west)deutsche Perspektiven, in: Ost | Journal 4 (2019) H. 5, S. 38-43.

46 Sandra Matthäus, ›Der Osten‹ als Teil ›des Westens‹ und ›des Rests‹: Eine unmöglich knappe Skizze der Potenziale Postkolonialer Theorien für eine Analyse ›des Ostens‹, in: Femina Politica – Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft 28 (2019) H. 2, S. 130-135. Siehe auch Stuart Hall, Der Westen und der Rest. Diskurs und Macht, in: ders., Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg 1994, S. 137-179.

47 Baring, Deutschland (Anm. 10), S. 63 (Zitat: Siedler).

48 Hubert Orłowski, ›Polnische Wirtschaft‹. Ausformung eines hartnäckigen Vorurteils, 16.1.2003, URL: <https://kulturforum.info/attachments/article/297/1000355a.pdf>. Ich zitiere hier aus dem online abrufbaren Manuskript eines im Alten Rathaus Potsdam gehaltenen Vortrags. Manche Wörter sind darin fett markiert. Aus Gründen der Lesbarkeit habe ich diese Form der Hervorhebung nicht übernommen.

49 Ebd., S. 1, S. 4, S. 14.

50 Christine Achinger, Antisemitismus und »Deutsche Arbeit« – Zur Selbstzerstörung des Liberalismus bei Gustav Freytag, in: Nicolas Berg (Hg.), Kapitalismusdebatten um 1900 – Über antisemitisierende Semantiken des Jüdischen, Leipzig 2011, S. 361-388, hier S. 362.

51 Christine Achinger, Orientalism, Occidentalism and Colonialism in Freytag’s Images of Jews and Poles, in: Ulrike Brunotte/Jürgen Mohn/Christina Späti (Hg.), Internal Outsiders – Imagined Orientals? Antisemitism, Colonialism and Modern Constructions of Jewish Identity, Würzburg 2017, S. 99-110, hier S. 100.

52 Massimo Ferrari Zumbini, Große Migration und Antislawismus: negative Ostjudenbilder im Kaiserreich, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 3 (1994), S. 194-226.

53 Hubert Orłowski, »Polnische Wirtschaft« – Karriere eines Stereotyps, in: Franciszek Grucza u.a. (Hg.), Vorurteile zwischen Deutschen und Polen. Materialien des deutsch-polnischen wissenschaftlichen Symposiums 9. bis 11. Dezember 1992, Görlitz – Zgorzelec, Warschau 1994, S. 92-106, hier S. 101f.

54 Baring, Deutschland (Anm. 10), S. 103.

55 Ebd., S. 105 (Zitat: Siedler).

56 Ebd., S. 105f.

57 Oschmann, Der Osten (Anm. 1), S. 76.

58 Ebd., S. 89.

59 Ebd., S. 90.

60 Vilmar, Zum Begriff der »Strukturellen Kolonialisierung« (Anm. 38), S. 29.

61 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1995 (Erstausgabe 1981), v.a. S. 489-547.

62 Vilmar, Zum Begriff der »Strukturellen Kolonialisierung« (Anm. 38), S. 26.

63 Das Bemühen um begriffliche Differenzierung durchzieht auch Ansätze, die den Kolonialismusbegriff im Sinne einer Einschränkung verfremden. Maria Todorova zum Beispiel, die sich mit der Frage befasst, ob und inwiefern der Balkan als Anderes von Europa zu konzipieren sei, verwendet den Begriff »semi-colonial«, womit eine Art Zwischen- oder Übergangsstadium angedeutet ist, das weder als kolonial noch als nicht-kolonial zu verstehen sei: Maria Todorova, Imagining the Balkans, New York 1997. Andrej Holm wiederum bezeichnet Ostdeutschland als »parakoloniale Sonderzone«, womit ebenfalls eine Distanzierung zum klassischen Kolonialismusbegriff impliziert ist: Andrej Holm, Parakoloniale Sonderzone. Ökonomie und Machtverhältnisse in Ostdeutschland, in: telegraph 137/138 (2021/22), S. 27-40.

64 Als breiten Überblick siehe jetzt Friedrich Lenger, Der Preis der Welt. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus, München 2023.

65 Karl Polanyi, The Great Transformation, New York 1944; dt.: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Übersetzt von Heinrich Jelinek, Wien 1977, 15. Aufl. Berlin 2021. Siehe auch Philipp Ther, Das andere Ende der Geschichte. Über die Große Transformation, Berlin 2019.

 

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