Kaum einer hat nachdrücklicher, vollmundiger und mit größerem Anspruch gegen die Katastrophe des Zeitalters der Weltkriege angeschrieben als Hans-Ulrich Wehler, der sich - paradoxerweise - bislang aber weitgehend aus der Historiographie dieser deutschen Krisenperiode herausgehalten hat. Der vierte Band seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ ist deshalb Prüfstein für Wehlers vorangegangene Arbeiten über das lange 19. Jahrhundert. Hier muss sich bewähren, was in jenen angelegt ist.
Bei anderen großen Historikern, allen voran Edward Gibbon und Theodor Mommsen, haben vergleichbare Konfrontationen zu tiefsitzenden Blockaden geführt. Wehler hingegen ist ohne ersichtliche Krise aus dieser Prüfung hervorgegangen. Er hat eine deutsche Geschichte der Zeit der Weltkriege vorgelegt, welche sich dem zentralen Problem dieser Epoche, der vernichtenden deutschen Gewalt(tätigkeit), stellt und dafür in der historisierenden Vereinnahmung des Weberschen Idealtypus der charismatischen Herrschaft eine Erklärung findet. Es ist eine liberal-konservative Geschichte geworden, die mit François Furets Absage an totalitäre Revolutionen mehr gemein hat, als man es angesichts Wehlers politischer Essays vermuten würde. Sie hat den modernisierungstheoretischen Funktionalismus früherer Arbeiten weitgehend abgestoßen und versucht programmatisch, „wichtige Fundamente und belastbare Traditionen westlicher Eigenart in Deutschland“ zurückzugewinnen (S. XXI), auch wenn davon wenig sichtbar ist. Die weitestgehende Vernachlässigung solcher belastbaren, in der Zwischenkriegszeit allerdings gescheiterten und oftmals zerstörten „Traditionen“ gehört meines Erachtens zu den grundsätzlichen Mängeln dieses Bandes. Wehler hätte sich dafür mit Modernisten, Marxisten, Feministen und dem einen oder anderen Emigranten auseinandersetzen müssen, die offenbar nicht so recht in seinen Wertehimmel passen wollen.
Wie dem auch sei: Wehlers konzeptioneller Ansatz - seine Applikation des Weberschen Idealtypus charismatischer Herrschaft - erweist sich als ausgesprochen produktiv. Wehler sieht charismatische Herrschaft als verkörperte Handlungsorientierung, in der individuelle Akteure durch selbsttätige und gegenseitige Mobilisierung zum Vollzug von Gemeinschaft als dem angestrebten Ort des Heils gelangen. Dieser Ansatz öffnet neue Horizonte zum Verständnis der affektiven Dynamik von Führer und Volk, die sich in einer entgrenzten Gewalttätigkeit entlud.
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Das soziale Subsystem wird, wie aus den vorangegangenen Bänden gewohnt, gründlich beschrieben, wobei Frauen und Jugendliche an Beachtung gewonnen haben. Wie gehabt, bilden die Strukturen sozialer Ungleichheit eine Dimension der Gesellschaft; sie stehen neben anderen ausdifferenzierten Dimensionen der Gesellschaft (politische Herrschaft, Wirtschaft, Kultur), die historistisch-situativ gegeneinander abgewogen werden. Für die Zeit der Weltkriege betont Wehler die Dominanz des politischen Systems und findet darin auch den systematischen Ort für die Herausbildung charismatischer Herrschaft. In der praktischen Analyse stehen dann aber sozialstrukturelle und gesellschaftspolitische Entwicklungen unvermittelt nebeneinander. Historiografisch ist das keine Nebensache: Sowohl in der Theorie als auch in der Praxis der vorangegangenen Bände war die Prägung der Politik aus der gesellschaftlichen Entwicklung heraus der Angelpunkt der Argumentation und das Signum der Gesellschaftsgeschichte. Diese Grundannahme hatte die „Bielefelder“ von der traditionellen Politikgeschichte unterschieden, und die Art und Weise, wie diese Verbindung gezogen wurde, setzte sie zunächst von den Marxisten und später von den Kulturalisten ab. Von einer solchen Sozialgeschichte als Wissenschaft der Gesellschaft ist im nun vorliegenden Band nicht viel übrig geblieben.
Die sozialstrukturelle Analyse kann dennoch nicht vernachlässigt werden. Was sich über den Gesamtzeitraum erkennen lässt, ist die weitgehende Durchsetzung einer marktkonformen, sektoral und funktional differenzierten Sozialordnung sowie die Herausbildung einer kommerzialisierten Lebenswelt mit einer hochindustriellen Arbeits- und Konsumgesellschaft. Als griffiges Beispiel für die Vollendung dieser Entwicklung kann man etwa den Umbau des Offizierskorps in ein Führerkorps (1942) herausgreifen. Damit ging ein Prozess der weitestgehenden Individualisierung einher, der in diesem Band vorwiegend als ideologischer Vorgang erscheint, als Durchsetzung eines (meritokratischen) Leistungsideals, dessen zentrales Element die Effizienz bzw. die selbsttätige Arbeit (und das selbsttätige Vergnügen) des Einzelnen ist. Offensichtlich fand dieses Ideal bei Frauen ebenso Anklang wie bei Männern - und bei jüngeren Leuten mehr als bei älteren. Die Durchsetzung dieses Ideals gehörte „zu den merkwürdigen Erfolgen der Führerdiktatur“ (S. 988). Nun müsste sich die Sozialgeschichte endlich ein Instrumentarium schaffen, um diesen Prozess auch analytisch statt bloß atmosphärisch zu begreifen. Die Allgemeinhistoriker könnten sich dann damit herumschlagen, wie Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen dem bürgerlichen Kult der Persönlichkeit und diesen Prozessen der Individualisierung zu bestimmen sind.
Dies ist nicht zuletzt deshalb wichtig, weil die Betonung des Leistungsideals und die Durchsetzung einer leistungsorientierten Gesellschaft mit einem von breiten Gesellschaftsschichten getragenen Wunsch nach Entdifferenzierung und Vereinigung verbunden war - oder, in Wehlers markant wertender Sprache, dem „utopische[n] Trugbild einer sozialharmonischen ‚Volksgemeinschaft’“ (S. 988). Diese Sehnsucht nach Gemeinschaft ist der Angelpunkt der Wehlerschen Kehre von der sozialwissenschaftlichen Analyse der Sozialstruktur zur kulturalistischen (oder genauer genommen religionspolitologischen) Betrachtung von Herrschaft. An die Stelle älterer, korporativer Sozialstrukturen und „vormoderner“, de facto aber bildungsbürgerlicher und kulturprotestantischer Verhaltensformen trat nicht eine pluralistische, in der Weimarer Republik durchaus angelegte Gesellschaftsordnung, sondern eine charismatische Herrschaftskonfiguration. Diese fungierte ihrerseits als Katalysator für die Durchsetzung eben jener Leistungsgesellschaft in der Nachkriegszeit, über deren Pluralismus und Modernität im fünften Band der „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ zu lesen sein wird.
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Das Erklärungsmodell der charismatischen Herrschaft ist ein Versuch, die dynamische Verlaufsgeschichte deutscher Gewalt- und Vernichtungspolitik zu verstehen; es wird ausführlich vorgestellt und ist plausibel. Dass dabei die von Max Weber durchaus noch so gesehene alttestamentarische Figur (und Problematik) der charismatischen Herrschaft rabiat ihres ursprünglichen Gehalts entfremdet und in einen radikal-nationalistischen Cäsar investiert wird, soll hier nur am Rande angemerkt werden - denn alles andere würde uns in das sehr weite Feld der auf die Auseinandersetzung mit dem jüdischen Gott zielenden, deutsch-christlichen und deutsch-nationalen Metaphysik der Gewalt führen. Die Figur der charismatischen Herrschaft ist jedenfalls weniger unschuldig, als man dies aus Wehlers ausgerechnet um die deutsch-jüdische Debatte dieses Phänomens verkürzten Überlegungen entnehmen kann.
Wollen wir uns auf das Konstrukt einlassen, sind wir mit drei Hauptproblemen konfrontiert. Erstens geht es um die historische Bestimmung der existenziellen Krisensituation, welche charismatische Persönlichkeiten hervorruft. Zweitens muss die Form der affektiven Bindung zwischen prophetischem Führer und Anhängern geklärt werden. Drittens ist die Umsetzung von Handlungsorientierung in Handlung zu explizieren (Wie kommt man von Heilsversprechen zum Massenmord?).
Die naheliegende Antwort auf die erste Frage erweist sich als falsch, wie Wehler (mit einigen Inkonsistenzen) zeigt. Die allgegenwärtige Entscheidung über Leben und Tod in beiden Weltkriegen produzierte zwar eine existenzielle Krisensituation - aber alles deutet darauf hin, dass die Erfahrung des massenhaften Todes und des Tötens nicht unmittelbar jene Herrschaftsdynamik produzierte, die Hitler an die Macht brachte. Wenn aber nicht der Krieg, was war es dann? Wehler spricht von der Aufhebung eines „gemeinsame[n] Vorrat[s] an normativen Grundüberzeugungen und politischen Werten“ und bringt dies mit einem „Hexenkessel politischer Phobien“ in Zusammenhang (S. 483). An anderer Stelle nennt er die Auflösung der „vertraute[n] Stabilität der Sozialordnung“ (S. 716). Gerade hier, wo die Gesellschaftsgeschichte ihr ureigentliches Feld haben sollte, greift Wehler zu Metaphern und spricht von „mirakulösen“ Kräften (S. 598). Das Buch ist überhaupt voll von Höllenfahrten, Fegefeuern, Wundern und anderen Zeichen göttlicher Gewalt. Was hier angesprochen, aber nicht weiter analysiert wird, ist eine (reale und mentale) Krise der Vergesellschaftung, welche die Zeitgenossen umtrieb: Krisen der Familie, Krisen der Geschlechter, Krisen der Generationen, Krisen der Werte und des Glaubens - Krisen der Vergesellschaftung überall, nur eben nicht in dieser Gesellschaftsgeschichte. Daraus resultiert dann auch die eklatante Schwierigkeit, die Gemeinschaftssehnsüchte breiter Gesellschaftsschichten zu verorten, die mit der Durchsetzung meritokratischer Leistungsideale Hand in Hand gingen.
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Ähnliches lässt sich beim zweiten pragmatisch-historischen Problem einer Analyse charismatischer Herrschaft beobachten. Wehler betont zu Recht die Zentralität affektiver Bindungen von Führer und Volk - und macht damit ein bislang in der Historiografie eher schäbig behandeltes Thema zu einem hauptsächlichen Erklärungsstrang. Allerdings kommt das Unterfangen über die Absicht selbst nicht hinaus und rekurriert auf merkwürdig atavistische Vorstellungen, wie etwa „eine jahrtausendealte Vorläufertradition“ (S. 555) oder auf alte Kamellen wie den Antisemitismus „als Integrationsklammer“ und die „Suggestivkraft völkisch-antisemitischer Argumente“ (S. 510). Was hier fehlt, ist nicht schlechthin eine Geschichte der Emotionen (eben jener Bindungen, die Menschen zusammenhalten und auseinandertreiben), die tatsächlich noch nicht geschrieben ist und die Wehler, wenn man seine Darstellung an diesem Punkt positiv wenden will, als Desiderat aufzeigt. Es ist vor allem die Bereitschaft einer neusachlichen und durch den Zweiten Weltkrieg ganz offensichtlich traumatisierten Generation von Historikern, aus ihrer anästhetisierten Geschichtsbetrachtung herauszukommen. Wirklich aufregend und bewegend ist, wenn eine Koryphäe wie Wehler sich an diese Grenzen der kriegsgeprägten Vorstellungskraft herantastet.
Wie aber kommt man von der affektiven Bindung charismatischer Herrschaft zum genozidalen Krieg und zum Massenmord? Wehlers Antwort auf diese dritte Frage ist eher sinnstiftend als analytisch tragfähig: indem sich in Hitler „so viele zerstörerische Tendenzen des Zeitalters bündelten“ (S. 993); indem er als charismatisches „Ingenium“ der „ihn fordernden, unterstützenden, tragenden Gesellschaft“ (S. 992) Heil in Form explosiver Gewalttätigkeit einhandelte; indem dieses Heilsversprechen in der Tradition des deutschen Nationalismus aufgehoben wurde, der seinerseits im Zusammenbruch überkommener Herrschaftsformen in Krieg und Revolution radikalisiert wurde. Die Erklärung der Gewalt verliert sich in einem Rekurs auf (deutsche) Geschichte. Das ist schön und gut und in der Betonung deutscher Kontinuitäten beherzigenswert (wobei eine stärkere Selbstreflexion über bürgerlichen Geniekult, Weberianische Führer-Obsession, Schmittianischen Dezisionismus und Wehlerschen Cäsarismus angebracht wäre). Aber die fundamentale Frage nach Gewalt und Terror, die das weltgeschichtliche Signum der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert ausmacht, bleibt dabei letztlich ungelöst. Es ist wohl nicht ganz zufällig, dass die intellektuellen Zeitgenossen, deren Weberianismus gerade von dieser Frage gebrochen worden ist, so völlig aus dem Bild fallen, das Hans-Ulrich Wehler vom deutschen Zeitalter der Extreme zeichnet.