Walter Bradford Cannon, The Wisdom of the Body, New York: Norton 1932, 2., korrigierte und erweiterte Aufl. 1939.
»The Wisdom of the Body«: Das klingt nicht erst heute mehr nach Esoterik als nach dem wichtigen physiologischen Hauptwerk, als das es Walter Bradford Cannon 1932 für ein breites Publikum verfasste. Solche Überraschungen hören nicht beim Titel auf. Gleich der erste Satz der Einleitung lautet zum Beispiel: »Our bodies are made of extraordinarily unstable material.« Und das erste Kapitel trägt den Titel »The Fluid Matrix of the Body«. War Cannon ein postmoderner Theoretiker dynamisch-fluider Körperlichkeit avant la lettre? Soweit wird man nicht gehen können, aber tatsächlich hat das Buch heute in Zeiten von Stress, Resilienz und einem wiedererstarkten Systemdenken in der Biologie an Aktualität und Überzeugungskraft zurückgewonnen. Was Cannon hier auf dem Höhepunkt seiner Karriere vorgelegt hatte, war mehreres in einem: die Summa seiner Forschungen, das Lehrbuch einer neuen integrierten Theorie des Organismus – für die er den Neologismus »Homöostase« prägte –, ein populäres Werk über die Fortschritte physiologischer Forschungen seiner Zeit und schließlich das Plädoyer eines fest in den Naturwissenschaften verankerten Humanisten für eine bessere Weltordnung. Denn auf der Basis seiner Theorie der Homöostase wollte er schließlich auch den Staat reformieren – zu einem perfekten Vorsorgestaat nach biologischem Vorbild, inklusive systematischer Vorratsplanung mitsamt Reservearbeitsplätzen für Krisenzeiten. Mit etwas Zögern, aber dafür umso nachdrücklicher hatte er deshalb dem Buch einen Epilog hinzugefügt: »Relations of Biological and Social Homeostasis«.
»The Wisdom of the Body« war für Cannon dabei eine so prägnante Formel für die zentrale Aussage seines Buches, dass er den Titel aus einer Rede seines britischen Kollegen Ernest Starling entlehnte.[1] Der Kerngedanke des Buches war eine Übersetzung der alten hippokratischen Idee einer Heilkraft der Natur, dass ein lebender Körper von sich aus Störungen ausgleiche, in die laborexperimentelle Forschung der Physiologie. Bereits der französische Physiologe Claude Bernard (1813–1878) hatte die erstaunliche Unabhängigkeit des Organismus von den Schwankungen in der Umwelt beobachtet und dafür den Ausdruck »inneres Milieu« (milieu intérieur) geprägt. Im Laufe seines Forscherweges hatte Cannon die verschiedensten biologischen Regulationsvorgänge studiert und war dabei auf einige Besonderheiten gestoßen. Versuchstiere hielten nicht nur eine ganze Reihe wichtiger Stoffwechselparameter unabhängig von großen Schwankungen in der Außenwelt innerhalb enger Grenzen konstant, sondern verfügten zudem über ein ausgefeiltes Repertoire von Reaktionsketten, mit denen auch extreme Situationen und Verhaltensweisen, die eigentlich den Zusammenbruch der diffizilen Balance im Körper zur Folge haben mussten, abgefedert wurden. Dieses dynamische Aufrechterhalten komplexer Gleichgewichte innerhalb enger Grenzen, aber mit erstaunlichen »Sicherheitsreserven«, wie Cannon sich ingenieurwissenschaftlich ausdrückte, nannte er »Homöostase«.
Die Dynamisierung des Gleichgewichtsdenkens verstand Cannon dabei auch darwinistisch: Erst im Laufe der Evolution hätten höher entwickelte Organismen diese vielfältig aufeinander abgestimmten Mechanismen entwickelt. Nur so könnten Organismen in relativer Unabhängigkeit von permanenten Schwankungen der Versorgung existieren und obendrein ein gesteigertes Potential ihres Leistungsspektrums realisieren. Der Buchtitel sollte diese neue, aus präziser experimenteller Forschung gewonnene Einsicht in die perfekte Organisation des Körpers für ein breites Publikum auf den Punkt bringen – und er wies darüber hinaus. Cannons Quintessenz seiner physiologischen Forschungen war zugleich sein politisches Credo: Die Weisheit des Körpers liege wesentlich in seiner Fähigkeit zu dynamischer Stabilität, und das sei die biologische Voraussetzung seiner Freiheit (2. Aufl., S. 324): »Just as social stabilization would foster the stability, both physical and mental, of the members of the social organism, so likewise it would foster their higher freedom, giving them serenity and leisure, which are the primary conditions for wholesome recreation.«
Wer nach inzwischen gut 80 Jahren das Werk wieder zur Hand nimmt, sollte aber nicht gleich über die politischen Extrapolationen stolpern, sondern zunächst die anschauliche Darstellung und die geschmeidig-präzise Ausdrucksweise des Autors anerkennen, der auch komplexe biologische Regulationsvorgänge stets leicht fasslich, aber immer auf der Höhe der damaligen physiologischen Forschung erläutert. Kapitel für Kapitel geht das Buch die einzelnen Regulationssysteme durch, von der Nahrungsversorgung über den Wasser-, Salz-, Zucker- und Eiweißgehalt im Blut über Sauerstoff und Körpertemperatur bis schließlich zum Zusammenspiel gegenläufiger Steuerungssysteme im autonomen Nervensystem. Cannon soll ein begeisternder akademischer Lehrer gewesen sein, und auch im Buch bereitet er den eigentlich trockenen Stoff höchst anregend auf. Bereits als Student in Harvard hatte er sich über langweilige Vorlesungen und das passive Auswendiglernen im Medizinstudium so echauffiert, dass er dessen Reform nach dem Vorbild des damals revolutionären »case-based reasoning« der Juristen-Ausbildung einforderte.[2] Und nicht zuletzt seinem didaktischen Erfolg war es wohl geschuldet, dass der gerade einmal 35-Jährige in Harvard zum Professor für Physiologie ernannt wurde – nur gut fünf Jahre nach Abschluss seines Medizinstudiums.
Schon im Rahmen seines breiten Grundstudiums hatte sich Cannon einen gewissen Namen als experimenteller Physiologe gemacht: 1896, nicht einmal ein Jahr nach Röntgens bahnbrechender Entdeckung, hatte er auf Anregung seines Lehrers, des Zoologen Charles Davenport, den Schluckvorgang und die Bewegungen der Speiseröhre mittels Röntgenstrahlen am Fluoreszenzschirm sichtbar gemacht. Diese Forschungen mündeten nach Abschluss seines Medizinstudiums in Cannons erste Monographie, die schon mit ihrem Titel das damalige Credo des naturwissenschaftlichen Aufbruchs in der experimentellen Physiologie auf den Punkt brachte: »The Mechanical Factors of Digestion«.[3]
Aber bereits hier beobachtete Cannon ein merkwürdiges Ausscheren des Organismus aus reiner Mechanik: Wenn das Versuchstier in Unruhe geriet oder verängstigt war, hörten die Magenbewegungen auf – Emotionen hatten offensichtlich klare und starke körperliche Auswirkungen. Dies wurde der Anfang von Cannons berühmten Forschungen zur so genannten Fight-or-Flight-Reaktion: In Situationen akuter Bedrohung mobilisierte der Organismus enorme Energiereserven und stellte den gesamten Stoffwechsel auf maximale Muskelarbeit um.[4] Das war zweifellos eine erworbene Anpassungsleistung, deren evolutionären Vorteil Cannon zugleich skeptisch deutete, da es in der modernen Zivilisation kaum noch Raum für ein solches Abreagieren gebe und der menschliche Körper deswegen in schädliche Fehlregulierungen gerate. Das machte Cannon zum Vordenker des Stresskonzepts bzw. einer physiologisch fundierten Psychosomatik. In »The Wisdom of the Body« rückte er diese problematische Mobilisierungsreaktion zwar zu Gunsten seines Hauptthemas einer Stabilisierung mit »safety margins« in den Hintergrund, aber hier liegt ein weiterer Punkt, der die Re-Lektüre von Cannons Werk heute so interessant macht: Auf ihn geht nicht nur die Organismus-Theorie einer integrierten dynamischen Stabilisierung durch gestaffelte Homöostase-Mechanismen zurück, sondern diese Theorie lieferte das physiologische Fundament für die Stressforschung. Und sie war ihrerseits in eine evolutionsbiologische Anpassungstheorie eingebettet, die so manche heutige Theorie der evolutionären Psychobiologie als alten Hut aussehen lässt.
1932, als »The Wisdom of the Body« erschien, war Cannon bereits 61 Jahre alt und seit mehr als einem Vierteljahrhundert George-Higginson-Professor of Physiology an der Harvard Medical School, hatte zahllose Forschungspublikationen sowie eine Reihe Monographien vorgelegt. Ein solcher Erfolg war ihm keineswegs in die Wiege gelegt. Er kam aus bescheidenen Verhältnissen im mittleren Westen der USA, war in einer strenggläubigen Quäker-Familie an der Grenze zwischen Wisconsin und Iowa aufgewachsen und von seinem Vater zunächst zur Ausbildung in eine Eisenbahn-Firma gesteckt worden, bevor er auf der Highschool auf eine Englisch-Lehrerin traf, die ihn überredete, sich trotz äußerst knapper finanzieller Möglichkeiten für Harvard zu bewerben. Dort lernte er seine zukünftige Frau kennen: Cornelia James (Cannon), die am Radcliffe College studierte, in zahlreichen Gruppen auf dem Campus aktiv war und sich später einen Namen als Schriftstellerin und Aktivistin für Geburtenkontrolle machte. Auch Walter Cannon war vielseitig engagiert und übernahm bereits früh in seiner akademischen Karriere öffentliche Aufgaben. So wurde er zum Beispiel 1908 zum Chairman eines Komitees zur Verteidigung von Tierversuchen gewählt und war 1914–1916 Präsident der American Physiological Society. Im Ersten Weltkrieg reiste er nach Europa, um die Pathophysiologie des Schocks zu erforschen, an der zahllose Soldaten selbst bei augenscheinlich nur harmlosen Verletzungen starben – für ihn ein ebenso eindrückliches wie trauriges Beispiel der Gefahren durch Fehlregulationen.[5] In Europa knüpfte er zugleich zahlreiche internationale Kontakte. So arrangierte er 1923 die erste USA-Reise seines sowjetischen Kollegen Iwan Pawlow, 1929 organisierte er das Treffen der International Society of Physiology in Boston, und 1930 reiste er nach Spanien, wo er den späteren Präsidenten der freien Republik Spanien Juan Negrín kennenlernte, den er während der Franco-Zeit unterstützte. Später führten ihn Reisen nach China und in die Sowjetunion, weshalb er in seiner Heimat kommunistischer Umtriebe verdächtigt wurde.
Diesen persönlichen Horizont muss man im Hinterkopf haben, wenn man Cannons populäres Buch heute liest. »The Wisdom of the Body« ist das schriftstellerische Werk eines Botschafters für ein wissenschaftliches Weltbild und die Arbeit eines Forschers, der ein weites Feld überblickt. Das Buch besticht durch eine synthetisierende Neuinterpretation vermeintlich längst bekannter Fakten, dies macht es zu einem Klassiker. Cannon selbst hat verschiedentlich darüber nachgedacht, was Forschung eigentlich vorantreibe: Geistesblitze entstünden aus der glücklichen Verbindung von Gelassenheit und Gewissenhaftigkeit; auch Zufälle spielten oft eine zentrale Rolle, aber sie würden nur in Kombination mit guter Übung und einigem Scharfsinn produktiv. Diesen Reflexionen verdankt die Wissenschaftsforschung ein Kunstwort, das Cannon zwar nicht erfunden, sondern von dem englischen Literaten Horace Walpole übernommen hatte, aber dem er eine Verbreitung verschafft hat, die wohl nur noch von Thomas Kuhns »Paradigma« übertroffen wird: Serendipity – die zufällige Beobachtung von Sachverhalten oder Prozessen, die nicht gezielt gesucht und nicht vermutet werden, die sich aber als überraschend nützlich erweisen.
Nach der Veröffentlichung von »The Wisdom of the Body« hat Cannon sich nochmals einem neuen Feld zugewandt, nämlich der Erforschung der Neurotransmitter im autonomen Nervensystem. Sein engster Mitarbeiter war dabei Arturo Rosenblueth, den er sich auch als seinen Nachfolger gewünscht hatte. Daraus wurde zwar nichts, aber Rosenblueth machte Norbert Wiener in Boston mit Regulationsvorgängen in der Physiologie vertraut. Auf diesem Wege galten Cannons Ideen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs plötzlich als geradlinige Vorläufer eines damals aufregend neuen interdisziplinären Forschungsfelds namens Kybernetik. Tatsächlich hatte die Macy Foundation, die später die berühmten Gründungskonferenzen der Kybernetik arrangierte,[6] Cannons Arbeiten zur Homöostase bereits 1936 in einem Memorandum als beispielhaft für mögliche Förderschwerpunkte herausgestellt. Gleichwohl wäre es falsch, Cannon zum Gründervater der Kybernetik avant la lettre zu stilisieren, der diese Früchte seiner Forschungen nur deshalb nicht mehr miterleben konnte, weil er 1945 an einer Krebserkrankung starb (die er selbst übrigens für eine Spätfolge seiner frühen, ungeschützten Experimente mit Röntgenstrahlen hielt). Die Beziehungen sind verwickelter, aber das macht sein Buch heute umso lesenswerter, weil es auch die Kybernetik-Begeisterung überdauert hat.
Cannon war kein Kybernetiker, sondern ein Analogien-Denker, der selbst im Epilog des Buches beim Übergang in die Welt der sozialen Ordnungen und des Politischen weiter als Physiologe argumentierte. Er vereinte zwar in seiner Person den systembiologischen Forscher mit dem politisch wachen Humanisten, aber er blieb immer einem naturwissenschaftlichen Weltbild verhaftet. Seine Steuerungstheorie operierte stets auf der Ebene physiologischer Mechanismen – auch dort, wo er die Gesellschaftsordnung in den Blick nahm. Anders als in der Kybernetik ging es bei Cannon nicht um Kommunikation und damit um einen gleitenden Übergang von mechanischer zu abstrakter Kontrolle, sondern immer um Stoffwechsel. Deshalb standen im Zentrum seiner »Biocracy«, wie er in kritischer Anverwandlung der damals grassierenden »Technocracy« seine Vision nannte, die Infrastruktur und die Materialwirtschaft, die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern und das Vorhalten essentieller Leistungen.[7] Ausgerechnet diesem wortgewandten Systembiologen und Denker dynamischer Stabilität fehlte ein Verständnis für die Welt des Symbolischen und der abstrakt verfassten politischen Ordnungen.
Die Lebenswissenschaften haben in der Geschichte immer wieder zwischen analytisch-reduktionistischen und systemisch-synthetischen Ansätzen gewechselt. Mit dem Aufstieg von Biochemie und Molekularbiologie dominierten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die analytischen Wege, bis ausgerechnet das Humangenomprojekt dieses Programm implodieren ließ und heute überall wieder Systembiologen gesucht werden. Bei seinem Erscheinen war Cannons Buch deshalb zugleich visionär und veraltet. Cannon war zwar eine herausragende Forscherfigur innerhalb der amerikanischen Öffentlichkeit, aber sein Buch wirkte kaum noch in die Wissenschaftslandschaft hinein, die bereits auf Detailanalyse ausgerichtet war. Im offiziellen Nachruf für den Fellow der Royal Society resümierte etwa sein britischer Kollege Henry Dale über Cannon harsch: »He was one of the physiologists still concerned with the integrated function of organs and systems. [...] Like many of his predecessors and contemporaries, he was content, therefore, to leave to those who would come after him, or to his own immediate colleagues, the development of a finer physico-chemical analysis of the functions of the individual living cell and its components.«[8] Dales Kritik liest sich in der Rückschau als Hinweis darauf, warum Cannon nie einen Nobelpreis erhalten hat, obwohl die Homöostase ohne Zweifel zu den zentralen Konzepten der Lebenswissenschaften zählt.
[1] Ernest Henry Starling, The Wisdom of the Body, in: British Medical Journal, 20.10.1923, S. 685-690.
[2] Walter B. Cannon, The Case Method of Teaching Systematic Medicine, in: Boston Medical and Surgical Journal 142 (1900), S. 31-36.
[3] Ders., The Mechanical Factors of Digestion, London 1911.
[4] Ders., Bodily Changes in Pain, Hunger, Fear and Rage. An Account of Researches into the Function of Emotional Excitement, New York 1915.
[5] Ders., Traumatic Shock, New York 1923.
[6] Claus Pias (Hg.), Cybernetics. The Macy Conferences 1946–1953, Zürich 2003/04.
[7] Walter B. Cannon, Biocracy, in: Technological Review 35 (1933), S. 203-207, S. 227.
[8] Henry H. Dale, Walter Bradford Cannon. 1871–1945, in: Obituary Notices of Fellows of the Royal Society 5 (1947), S. 407-423, hier S. 407.