Osteuropäische Einwanderer in Paris (1900–1940)

Anmerkungen

Die historische Migrationsforschung steht mitunter vor dem Problem, dass viele Methoden und Materialien, die in den übrigen Sozialwissenschaften zum Standard gehören, nicht zur Verfügung stehen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die häufig stark betonte quantitative oder administrativ-juristische und politische Perspektive erweitert werden soll auf sozialkulturelle Phänomene, etwa auf Fragen der Konstitution von Gruppen und Gemeinschaften, der Identitätsbildung und des Identitätswandels sowie der Vielfalt der Adaptionsstrategien und ihrer Motivationen. Methoden der Oral History fallen praktisch völlig aus, wenn die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg oder gar noch frühere Epochen untersucht werden sollen. Auch schriftliche Zeugnisse aus dem Kreis der Wandernden bzw. Gewanderten sind äußerst rar, und wenn sie vorliegen, bilden sie einen sehr eng eingegrenzten Ausschnitt aus dem sozialen Spektrum des Migrationsgeschehens ab. Schwierig zu beantworten ist insbesondere die Frage nach dem Alltagsleben und den Sozialbeziehungen innerhalb von Einwanderergruppen sowie nach deren Beziehungen zu den vollberechtigten Staatsangehörigen.

Mit den Polizeiakten soll hier eine Quellengruppe vorgestellt werden, die wertvolle Informationen über die sozial- und kulturgeschichtliche Seite von Immigration liefert. Es handelt sich um drei Quellenarten, die jeweils eigene Probleme aufwerfen: Spitzelberichte, die hier aus Platzgründen nicht weiter besprochen werden können, Einbürgerungsvorgänge und Diensttagebücher. Die Betrachtung dieser Quellen beschränkt sich exemplarisch auf osteuropäische Einwanderer in Paris zwischen 1900 und 1940; grundsätzlich sind sie jedoch auch für Zeithistoriker interessant, wie Alexis Spire im nachfolgenden Beitrag ausführt. Die Dokumente lassen sich auf mehreren Ebenen mit je unterschiedlicher Gewichtung auswerten: Sie informieren zunächst einmal über die Praxis der Pariser Polizei und deren Verhältnis zu den Einwanderern. Darüber hinaus enthalten sie sozialstrukturelle Daten, die zumindest als Ergänzung zu klassischen seriellen Quellen von hohem Wert sind. Und schließlich liefern sie Hinweise auf Handlungen, Konflikte und Kontaktformen, die auf andere Weise überhaupt nicht erhältlich sind.

1. Einbürgerungsdossiers

Einbürgerungsdossiers bieten sowohl Daten über die Einbürgerungspraxis als auch sozialstrukturelle Daten über diejenigen, die einen Antrag auf Einbürgerung gestellt haben; sie unterliegen freilich einer Aktensperre von 60 bzw. 100 Jahren. Für das Projekt, aus dem die vorliegenden Erwägungen abgeleitet sind, ergab sich aber ein doppelter Glücksfall: Im Archiv der Pariser Polizeipräfektur wird ein Bestand von polizeilichen Dossiers der Jahre 1926-1949 aufbewahrt, für den eine Sondergenehmigung erteilt werden kann. Dieser Bestand ist besonders wertvoll - zum einen, weil die Dossiers ab 1941 wieder geöffnet wurden: Nach einem von den deutschen Besatzungsbehörden inspirierten Gesetz vom Juli 1940 wurden sämtliche Einbürgerungsvorgänge seit dem Gesetz von 1927 einer Revision unterzogen, mit dem Ziel, Kommunisten und Juden wieder auszubürgern.1 Zum anderen weist der Bestand als Sammlung von Polizeidokumenten besondere Vorzüge auf: Zuständig für die Erstellung von weitgehend standardisierten Berichten über die Einbürgerungswilligen waren verschiedene Instanzen der Pariser Polizei. Diese Berichte wurden von Sachbearbeitern angefertigt, die natürlich ihre persönliche Wahrnehmung der AntragstellerInnen einfließen ließen, vor allem aber unmittelbaren, wenn auch punktuellen Kontakt zu diesen hatten. Auf der Präfektur wurde der Antrag gestellt; Beamte der Präfektur besuchten die Wohnungen, Nachbarn und Arbeitsstellen der AntragstellerInnen. Die Berichte wurden danach vom Amtsleiter überarbeitet und gingen erst dann an das Innenministerium, genauer den Garde des Sceaux, der nach Konsultierung weiterer Behörden, insbesondere des Arbeitsministeriums, eine Entscheidung traf. Dies bedeutet aber, dass die polizeilichen Dossiers ausführlicher und hinsichtlich der Lebensformen der Antragsteller häufig vollständiger sind.

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Die eigentlichen Rapports enthalten Angaben zum Personenstand, dem biographischen Rahmen, eventuellen Vorstrafen oder sonstigen Auffälligkeiten, schließlich Notizen zum Spracherwerb sowie eine standardisierte und wenig aussagekräftige Einschätzung des Assimilationsgrades.2 Ab den 1930er-Jahren geben sie außerdem an, wie die Sozialkontakte staatsbürgerrechtlich und konfessionell zusammengesetzt sind. Darüber hinaus enthalten die Rapports punktuell Angaben zur Miethöhe und zum Einkommen.

Sozialhistorisch interessant sind auch die ebenfalls angegebenen Eheschließungen: Da bei vollständigen Familienstandserfassungen im Allgemeinen auch die Namen der Eltern beider Eheleute genannt werden und zudem angeführt wird, ob eine eventuelle französische Staatsangehörigkeit der Ehepartnerin3 qua Geburt oder qua ius soli erworben worden war, lässt sich mit weitaus größerer Genauigkeit als mit den meisten üblichen Quellen untersuchen, wer wen heiratete.4 So finden sich nicht wenige Ehen, die rechtlich zwar zwischen Einwanderern und Französinnen geschlossen wurden, bei denen letztere jedoch von ihrerseits eingewanderten Eltern abstammten und daher meist dem gleichen Milieu zuzurechnen sind. Nicht selten sind übrigens auch Fälle, in denen ein unverheirateter, soeben eingebürgerter Mann seine Ehepartnerin aus der früheren Heimat holte5 - ein Umstand, der nur deshalb überhaupt beobachtbar ist, weil im Rahmen der Revision der Einbürgerungen während des Zweiten Weltkriege wiederum formal identische Rapports erstellt wurden, die den Lebensweg nach der Einbürgerung beschreiben.

Stellungnahme der Polizeipräfektur zum Einbürgerungsantrag von Samuel I., 19.3.1930

Stellungnahme der Polizeipräfektur zum Einbürgerungsantrag von Samuel I., 19.3.1930, und Zusammenfassung der Informationen über ihn, 5.3.1930 (aus: APP Ia 100)

 

Im Anschluss an die Rapports wurden stichwortartige Entwürfe einer Stellungnahme für das Innenministerium angefertigt, die dann in einen Text umgesetzt wurden, der nochmals überarbeitet wurde. Die obige Abbildung zeigt, welche Punkte für die Entscheidung als wesentlich angesehen wurden: neben Unbescholtenheit insbesondere die Tauglichkeit zum Militärdienst (Apte au service armé). Diese Stellungnahmen bieten reiches Material für eine detaillierte Untersuchung der Kriterien, die für einen erfolgreichen Antrag zu einem bestimmten Zeitpunkt erfüllt werden mussten. Dies gilt zudem hinsichtlich der sozialen Stellung und ihrem Verhältnis zu den Erfolgsaussichten der Einbürgerungswilligen, was sowohl einen Blick auf die behördliche Praxis als auch auf die Sozialstruktur der Einbürgerungswilligen erlaubt. Die Stellungnahmen gestatten es mitunter auch, das Verhältnis zwischen ethnisch-rassistischen Vorurteilen oder politischen Vorgaben und Verwaltungspraxis genauer zu erforschen.

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Schreiben des einbürgerungswilligen Szlama P. an die Polizeipräfektur vom 12.11.1927

Schreiben des einbürgerungswilligen Szlama P. an die Polizeipräfektur vom 12.11.1927
(aus: APP Ia 157)

 

Von besonderem Interesse ist schließlich die Untersuchung der Motive, die hinter den Einbürgerungsanträgen standen. Überraschenderweise gaben die Antragsteller häufig sehr direkt Motive an, die bei den französischen Behörden nicht gern gelesen worden sein dürften: Im November 1927 bittet etwa der polnisch-jüdische Einwanderer Szlama P., seinen zwei Jahre zuvor gestellten Naturalisierungsantrag zu „aktivieren, denn ich kann nicht in meine preiswerte Wohnung zurückkehren, bevor ich die Einbürgerung erhalten habe“. 1927 wird sein Antrag zurückgestellt, drei Jahre danach jedoch angenommen, obwohl sich P.s finanzielle Situation weiter verschlechtert hat.6 Andere Antragsteller führten an, es sei ihnen zu unbequem, jedes Jahr eine neue Identitätskarte beantragen zu müssen,7 oder dass sie in die Provinz versetzt würden, wenn sie nicht die Einbürgerung erreichten.8 Der polnisch-jüdische Einwanderer Lejb W. gibt 1927 als Motiv an, er wolle die Vorteile der französischen Staatsangehörigen genießen; 1929 konkretisierte er, er wolle Kindergeld beantragen. Ein Hindernis war solche Offenheit nicht unbedingt: W. wurde im Mai 1930 Franzose.9 Daneben scheinen Motive auf, die ein gewisses Licht auf zwischenmenschliche Beziehungen werfen: Im Juni 1930 beantragt Wolf L. die französische Staatsangehörigkeit, „um eine Französin zu heiraten, deren Eltern zu streng sind und die ihm nur unter der Bedingung die Hand ihrer Tochter zu geben bereit sind, dass er Franzose ist“. Ganz so streng können diese Eltern dann doch nicht gewesen sein: Obwohl die Einbürgerung vertagt wird, findet die Heirat noch im gleichen Jahr statt. Franzose wird L. erst 1948.10

Die meisten AntragstellerInnen verwiesen jedoch darauf, dass sie sich endgültig niederlassen wollten; manche betonten, dass Frankreich ihr eigentliches Vaterland geworden sei. Diese Angaben lassen sich noch nach sozialer Stellung und Wohnort/Milieu differenzieren. Es wird aber bereits hier deutlich, dass die häufig vorgenommene Identifizierung des Einbürgerungswillens mit erfolgter oder angestrebter vollständiger Assimilation fehlgeht; die tatsächlichen Gründe sind mitunter wesentlich konkreter und hängen, zumindest in jener Zeit und in Frankreich, nicht selten mit den unmittelbaren Beschränkungen zusammen, denen Ausländer sich ausgesetzt sahen und die auf diese Weise umgangen werden konnten. Die Quellen machen Gemengelagen unterschiedlicher Motive, Kriterien und Indikatoren sichtbar, die in einer rein quantitativ-seriellen Untersuchung unterzugehen drohen. Natürlich müssen diese Einzelangaben systematisiert und gewichtet werden; gleichzeitig aber sind sie jeweils qualitativ zu kontextualisieren - ein Verfahren, das ebenso aufwändig wie im Ergebnis reizvoll sein dürfte.

2. Diensttagebücher

Ähnliche Qualitäten, aber eine ganz andere Gestalt weisen die Mains courantes bzw. Répertoires analytiques auf. Bei beiden handelt es sich um eine Art Diensttagebuch, von denen das eine auf der Wache selbst, das andere im Büro des Kommissars geführt wurde. Sie liegen in Paris ab 1895/96 bis weit in die 1940er-Jahre für die einzelnen Quartiers vor, von denen es 80 gab (vier quartiers je arrondissement), was bei der Arbeit mit diesen sehr umfangreichen Quellen eine gewisse Beschränkung angeraten sein lässt.

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Zurücknahme der Anzeige Bonots gegen Carpovitch wegen Diebstahls vom 16.7.1905

Zurücknahme der Anzeige Bonots gegen Carpovitch wegen Diebstahls vom 16.7.1905
(aus: APP CB 70.45)

 

Die Diensttagebücher, wie sie im Folgenden der Einfachheit halber bezeichnet werden sollen, verzeichnen im Prinzip jeden Kontakt zwischen den Beamten des Kommissariats und dem Publikum: Anzeigen, von der Polizei entdeckte Übertretungen, Fundsachen oder (was aber offensichtlich nicht syste-matisch geschah) Anträge auf Einbürgerung, in die das Kommissariat zwecks Stellungnahme eingeschaltet wurde. Neben Personenstandsangaben sind mehr oder weniger vollständige Skizzen des Tatbestandes enthalten. Bei schwereren Fällen umfassen diese Skizzen mitunter wörtliche Auszüge aus Zeugenaussagen und enthalten sich - anders als Protokolle, kriminalstatistische Auswertungen und sonstige, etwa vor Gericht verwendete Polizeiquellen, die nochmals eigene Probleme aufwerfen - jeglicher Stellungnahme. Gleichwohl sind sie natürlich keine unmittelbare Wiedergabe dessen, was zwischen den Beteiligten geschehen ist; sie sind weitgehend standardisierte und reduzierte Interpretationen von Interpretationen, die zudem noch dadurch vermittelt sind, dass die Beteiligten sich nicht in ihrer Muttersprache oder sogar mit Hilfe eines Übersetzers äußern. Gleichwohl bieten sie unschätzbares Material für eine Sozial- und Kulturgeschichte von MigrantInnen.

Der Vergleich verschiedener Konfliktformen erlaubt Rückschlüsse auf die Struktur der Sozialbeziehungen. Die folgende Tabelle listet für drei wichtige Einwandererviertel11 diejenigen Einwanderer auf, die an Schlägereien beteiligt waren, und zwar unterschieden danach, ob sich diese Konflikte unter Einwanderern (hier aus dem östlichen Europa) oder mit französischer Beteiligung abspielten bzw. ob die Angreifer unerkannt blieben. Interessant ist hier also die Struktur dieser Kontaktform, die als ein Indikator für Kontaktintensität zwischen Einwanderern und Franzosen bzw. für die Abgeschlossenheit des Einwanderermilieus gelten kann. In Clignancourt waren Konflikte (und damit vermutlich auch nichtkonfliktuelle Kontakte) zwischen MigrantInnen und FranzösInnen prozentual häufiger als in St. Gervais, obwohl beide Viertel eine ähnliche soziale Struktur sowie eine ähnlich große und topographisch konzentrierte Einwandererpopulation aufwiesen. Val de Grâce hingegen beherbergte weitaus weniger Einwanderer, die zudem, wie sich aus der gleichen Quelle zeigen lässt, stärker voneinander isoliert lebten. Auch die Sozialstruktur war eine andere: Lebten in St. Gervais und Clignancourt vor allem ArbeiterInnen, Handwerker und kleine Gewerbetreibende, war das Einwanderermilieu in Val de Grâce stark studentisch und freiberuflich geprägt.

Körperverletzung Ges. n.a. "Landsleute" Franzosen unbekannt
St. Gervais (IV Arr.) 277 12 191 70 4
Val de Grâce (V. Arr.) 22 0 7 14 1
Clingnancourt (XVIII. Arr.) 87 1 46 37 3
           
St. Gervais % 4,3 70,0 25,3 1,4
Val de Grâce % 0,0 31,8 63,6 4,5
Clingnancourt % 1,1 52,8 42,5 3,4
Quelle: Auswertung der Diensttagebücher 1895-1940 (Bestand APP CB)

 

Der eigentliche Wert des Materials liegt aber nicht in der kriminalstatistisch-quantitativen Auswertung, sondern in den Informationen, die über die Tatbeschreibungen hinaus - oder neben und in ihnen - über Lebens- und Verhaltensformen enthalten sind. Hierzu ein Beispiel: 1927 beschuldigt die Familie L. den Synagogendiener K., ihre achtjährige Tochter sexuell belästigt zu haben. Offensichtlich auf die Frage, wieso sie erst Wochen nach der Tat zur Polizei komme, sagt die Mutter: „[...] weil wir Juden sind und es unter Juden nicht gut ist, sofort zum Herrn Kommissar zu kommen, und wollte keine Anzeige erstatten, und habe Herrn K. aufgefordert, 3.000 Francs an den Rabbiner zu geben für die Armen. Er wollte nicht.“12 Das Zitat macht deutlich, in welchem Maße zu diesem Zeitpunkt osteuropäische, in diesem Falle jüdische Einwanderer im Viertel heimisch geworden waren: Es gab interne Sanktionierungsformen, bei deren Scheitern die französische Polizei jedoch durchaus hinzugezogen werden konnte.

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Nicht alle Eintragungen sind so ergiebig für sozial- und kulturgeschichtliche Fragestellungen; nach 1930/31 beschränken sich die Diensttagebücher darauf, den jeweiligen Tatbestand zu benennen, und liefern keine Beschreibungen mehr. Auch vorher sind die Bücher etwa in St. Gervais weitaus sorgfältiger geführt worden als in Clignancourt, was mit dem notorischen Personalnotstand in diesem Kommissariat zusammenhing.

3. Schlussbemerkungen

Auch Polizeiquellen bilden die beschriebene Realität nicht unmittelbar und nicht restfrei ab; sie bieten nur einen spezifischen Ausschnitt, der allerdings relativ breit angelegt ist. Meine These ist, dass diese Fokussierung die Verwendbarkeit der Quellen weniger als erwartet einschränkt, auch wenn sie, wie Alexis Spire im folgenden Beitrag zeigt, immer auch Ergebnisse einer spezifischen administrativen Praxis und eines Machtverhältnisses zwischen Polizei und Einwanderern sind. Überraschend ist vor allem, dass ein Unterschied in der Wahrnehmung von Ausländern und Einheimischen - außer bei den Spitzelberichten - in den Texten nicht zum Tragen kommt: In den Diensttagebüchern werden lediglich Zusammenfassungen der Aussagen aller jeweils Beteiligten gegeben, ohne weiter kommentiert oder gewichtet zu werden. Elemente eines nationalen oder kriminalistischen Diskurses sind daher hauptsächlich in der Reduktion der Realität auf strafwürdige oder entlastende Aspekte sozialen Geschehens zu erkennen,13 und selbst diese Reduktion wird mitunter durchbrochen - vor allem bei der Beschreibung von Begleitumständen. Hinzu kommt, dass im polizeilichen Diskurs, soweit er in der Praxis der Protokollierung aufscheint, nicht in erster Linie die Abgrenzung zwischen Fremden und Eigenen betont wird. Es fällt auf, dass ein eventueller Generalverdacht der Pariser Polizei sich weniger auf soziale, biologische oder kulturelle Merkmale bezieht, sondern auf die konkretere Frage, ob eine eingewanderte Person „in nationaler und politischer Hinsicht“ gefährlich sei oder nicht. Wird diese Frage bejaht, so erfolgt dies praktisch immer mit dem Verweis auf die Verletzung der politischen Neutralitätspflicht oder, insbesondere während des Ersten Weltkriegs und in den frühen 1920er-Jahren, in der Suche nach Belegen für Spionagetätigkeit (zuerst für Deutschland, später für Sowjetrussland).

Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass es keine diskriminierenden Praktiken gegeben hätte - nicht einmal, dass sie in den Quellen nicht sichtbar würden: Es ist nicht nur Ausdruck der Bedeutung von St. Gervais als Tor nach Paris für osteuropäische Neuankömmlinge, dass in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg fast zweiwöchentlich Razzien nach Einwanderern ohne Papiere stattfanden und der überwiegende Teil dieser „Illegalen“ in St. Gervais aufgegriffen wurde, sondern eben auch Ausdruck einer polizeilichen Praxis des Generalverdachts und der täglichen, prinzipiell diskriminierenden Kontrollen. Obwohl Beleidigungen und Herabsetzungen von Ausländern durch die Autoren der Quellen selbst nicht verzeichnet werden, wird in manchen Fällen der mitunter übliche Tonfall zwischen Beamten und Fremden deutlich. Dies gilt natürlich vor allem bei Anzeigen wegen Beamtenbeleidigung, die häufig bloß eine Reaktion auf polizeiliche Zumutungen waren und in denen Beleidigungen seitens der Polizei zur Verteidigung angeführt werden. Auch in anderen Fällen scheint das Risiko auf, in Konfliktfällen einem generell unerwünschten Kollektiv von Fremden zugerechnet zu werden: Im Juli 1918 fahren sieben russisch-polnische Einwanderer im Zug von Paris nach Marseille. Als es zu Unstimmigkeiten über die Fahrkarten kommt, habe die Kontrolleurin geäußert: „Das sind bloß die Drecksausländer, die uns anscheißen.“14 Dass der 32-jährige Israel J. aus Piotrków diese Äußerung als empörend empfand und zur Verteidigung anführte, lässt darauf schließen, dass er sie nicht als alltägliches Ärgernis, sondern als unzulässig betrachtete.

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Zu warnen ist auch vor einer generellen Opfervermutung gegenüber den Einwanderern, da national-kulturelle Abgrenzungen und Herabstufungen des Anderen auch seitens der Einwanderer selbst auftauchen - etwa im Jahr 1915, als Leiser B., 45-jähriger Einwanderer aus Lemberg, sich in einem Nachbarschaftsstreit geäußert haben soll, er wolle „das Blut der Franzosen im Rinnstein fließen sehen“. Schon 1914 habe er sich gebrüstet, er sei österreichischer Offizier gewesen und seine Tochter sei einmal gehört worden, wie sie geschrien habe: „Die Franzosen sind zum Kotzen. Ich pisse auf die Franzosen in ihrer ganzen Großartigkeit.“15 Selbstverständlich sind solche Ausbrüche situativ gebunden, und es ist möglich, dass die Äußerungen überspitzt wiedergegeben werden; unwahrscheinlich ist hingegen, dass sie in der Tendenz völlig verkehrt zitiert werden. Dafür kommen gegenseitige Beschimpfungen als „dreckige Franzosen“ oder „dreckige Ausländer“ zu häufig vor.

Polizeiquellen sind für die Geschichte von Einwanderern also von großem Wert. Sie erfordern methodische Sorgfalt, insbesondere eine genaue Betrachtung der jeweiligen Quellenart und eine Kontextualisierung, die jedoch überwiegend im Rahmen der Quellen selbst vorgenommen werden muss - denn die meisten Personen und Vorfälle, die in diesen Quellen erwähnt werden, tauchen ausschließlich dort auf.16 Auch Rahmendaten, die für eine generelle Einordnung der Vorfälle erforderlich wären, stehen in der Regel nicht zur Verfügung. Die Polizeiakten informieren jedoch in weitaus unmittelbarerer Form als andere Quellen über Lebens- und Konfliktformen von Einwanderern, über ihre Kontakte zu Einheimischen sowie über das Verhältnis zwischen ihnen und den Polizeibehörden - jener Einrichtung, in der ihnen die staatliche Macht zuerst, unmittelbar und alltäglich gegenübertritt.

Anmerkungen:

1 Vgl. Patrick Weil, Qu’est-ce qu’un Français? Histoire de la nationalité française depuis la Révolution, Paris 2002, S. 117-134.

2 In der Regel lautet die Formulierung: „paraît/ne paraît pas (encore) assimilé à nos mœurs et coutumes“, eventuell mit dem Zusatz „bien“, „complètement“ oder „parfaitement“. In den wenigen Fällen, in denen eine schlechte Assimilation weiter ausgeführt wird, beziehen sich die Berichte immer auf den Zustand der Wohnung der AntragstellerInnen.

3 Der umgekehrte Fall kam nicht vor, da praktisch alle weiblichen Einwanderer, die französische Staatsangehörige heirateten, die Möglichkeit nutzten, durch die Ehe die Staatsangehörigkeit des Mannes zu erwerben. Die Beibehaltung der französischen Staatsangehörigkeit durch eine Frau, die einen Ausländer heiratete, war erst ab 1927 möglich und erfolgte nur auf Antrag.

4 Auch lässt sich so mit größerer Sicherheit als mit dem bloßen Namen der Betreffenden die Konfession erschließen.

5 Zum Beispiel Archives de la Préfecture de Police (im Folgenden APP) Ia 41, Dossier Ch; Ia 62, Dossier Et; Ia 69, Dossier Fl. Insgesamt finden sich in den Akten mehr als 20 Fälle, in denen Eingebürgerte eine Ehepartnerin in der vormaligen Heimat suchten und fanden und mit ihnen nach Paris zurückkehrten.

6 APP Ia 157, Dossier Pa.

7 APP Ia 12, Dossier Ba; Ia 109, Dossier Ki; Ia 112, Dossier Ko; Ia 122, Dossier Le; Ia 157, Dossier Pa.

8 APP Ia 31, Dossier Be. Ähnlich Ia 117, Dossier Kr.

9 APP Ia 222, Dossier Wa.

10 APP Ia 126, Dossier Le, Rapport 7.6.1930.

11 Die Differenz zwischen dem „eigentlichen“ Einwandererviertel und der Verwaltungseinheit quartier muss an dieser Stelle unberücksichtigt bleiben.

12 APP CB 14.67, No. 196, 3.3.1927.

13 Vgl. hierzu Jean-Michel Bessette, La fabrication du criminel: entre contingences de carrière et réaction sociale, in: Benoît Garnot (Hg.), De la déviance à la délinquance. XVe-XXe siècle, Dijon 1999, S. 133-146.

14 APP CB 70.60, No. 1920, 1.8.1918.

15 APP CB 70.61, No. 614, 16.7.1915.

16 Möglich wäre allenfalls ein Abgleich mit Gerichts- und Friedensrichterakten. Bezüglich der ersteren ist aber die Quellenbasis eher schlecht. Eine Durchsicht der letzteren ist außerordentlich aufwändig, zumal abgesehen von genaueren Informationen über die Schuldfrage und ihre Verhandlung wenig Neues aus ihnen zu erfahren ist.

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