1. Ist die Gedächtnisgeschichte eine Nationalgeschichte?
2. Das Gewicht der Holocaust-Erinnerung
3. Europäische Gedenktage
Der common sense innerhalb und außerhalb Europas behauptet mehr oder weniger spontan die Existenz einer europäischen „Kultur“ oder „Zivilisation“. Trotz der geopolitischen Unsicherheiten, der unterschiedlichen Perspektiven oder ideologischen Gegensätze gehört dieser Topos zur kollektiven Vorstellungswelt, selbst wenn er des Öfteren zu Missverständnissen führt. Auch manche Historiker schließen sich dieser Behauptung an, sei es aus europäischem Patriotismus oder aus Bequemlichkeit. Andererseits sind in der jüngsten Vergangenheit zahlreiche Arbeiten entstanden, die in vergleichender oder transnationaler Perspektive die Geschichte der europäischen Institutionen und Organisationen oder die Wirtschafts-, Sozial und Kulturgeschichte europäischer Länder thematisieren.1 Diese Untersuchungen sind ihrerseits Produkte europäischer Netzwerke, die zum einen Ressourcen mobilisierten, die im Hinblick auf eine „Europäisierung“ der Forschung bereitgestellt wurden, und die zum anderen auch den Austausch von Forschern und Studenten erheblich belebten. Sie wurden meist von der europäischen Forschungspolitik unterstützt - mit mehr oder weniger gutem Augenmaß. Es wäre vor diesem Hintergrund überheblich, wollte man behaupten, hier Neuland zu betreten. Trotzdem sollte die Europäisierung der gegenwärtigen und zukünftigen Historiographie auf anderen Grundlagen erfolgen - aus zwei Gründen:
Erstens wurde Europa in der Geschichtsschreibung bis vor nicht allzu langer Zeit als politische, geographische, ökonomische Einheit betrachtet, deren Fundamente, Strukturen und Wesensmerkmale es zu ergründen galt. Europa war dabei sowohl Hauptgegenstand der Forschung als auch vorzugsweise in Anspruch genommener finanzieller Förderer; manchmal war es mit Blick auf mögliche Verbesserungen der Politik der europäischen Institutionen auch Hauptadressat der Ergebnisse. Darüber hinaus wurde dieses Europa meist eher „westlich“ vorgestellt. Die auf den Fall der Berliner Mauer folgenden politischen, kulturellen und sogar historiographischen Umwälzungen sowie die Integration jener Länder, die einst die Ostgrenze Europas bildeten, erfordern aber - selbst im Nachhinein - andere Perspektiven und Fragestellungen.2 Mark Mazowers Buch „Der dunkle Kontinent“3 kündigt demgegenüber die Richtung an, in die sich die Europa-Geschichtsschreibung entwickeln sollte: Eine zeitgemäße Geschichte Europas im 20. Jahrhundert kann sich nicht mehr damit begnügen, die Errungenschaften des Wachstums der Nachkriegszeit, das Wunder der deutsch-französischen Aussöhnung sowie die Vorzüge stabiler Grenzen und politischer Institutionen zu rühmen. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Von nun an muss die Hinterlassenschaft und das Gedächtnis des Kommunismus mit einbezogen werden, ein umstrittenes und in das Bewusstsein der „westlichen“ Öffentlichkeiten noch nicht recht vorgedrungenes Thema. In manchen Ländern - ich denke hier vor allem an Frankreich, aber auch an Südeuropa - tut sich ein bedeutender Teil der intellektuellen und gelehrten Milieus schwer mit dem Umstand, dass dieses Erbe für viele Millionen Europäer eine stark negativ besetzte Last darstellt, vor deren Hintergrund die Bilanzen der großen kommunistischen Parteien Westeuropas letztlich als recht nachsichtig erscheinen.4
Auf ähnliche Weise sollten weitere bisher vernachlässigte oder unterschätzte Themen berücksichtigt werden, etwa die Zwangsmigration von Millionen Menschen in Mittel- und Osteuropa nach 1945 und die in der Nachkriegszeit in manchen Regionen anhaltenden ethnischen Spannungen. Letztere wurden in ihrem Ausmaß vom Westen nicht voll erkannt, weil sie von der sowjetischen Herrschaft verdeckt wurden.5 Insgesamt wäre diese andere Geschichte Europas mit dem Risiko behaftet, weniger optimistisch, dafür aber umso offener gegenüber den historischen Lasten, den langsamen Rhythmen des Wandels sowie den möglichen Sackgassen fortschrittlicher Ideen zu sein, die die Anfänge des europäischen Einigungsprozesses markierten. Das würde jedoch keineswegs eine erneute Aufwertung der Nationalgeschichte bedeuten.
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Der zweite Grund für eine Neuausrichtung der Geschichte Europas besteht darin, dass die wissenschaftlichen Fortschritte auf diesem Gebiet hauptsächlich in eigens eingerichteten universitären Arbeitsbereichen mit Titeln wie „Geschichte Europas“ oder „Europäische Geschichte“ erzielt wurden. Die dort erforschten Themen sind noch nicht so selbstverständlich oder so verbreitet, dass sie die herrschenden Historiographietraditionen grundsätzlich modifizierten oder den Analyserahmen der anderen Felder der Geschichtsschreibung veränderten. Es lässt sich leicht beobachten, in welchem Maß die Zeitgeschichte im Unterschied zur Mediävistik oder zur Neueren Geschichte - ein Unterschied, der einmal genauer untersucht werden müsste - gegenwärtig noch von einer nationalen, die jeweilige historische Einzigartigkeit betonenden Narration geprägt ist. Anzuführen sind hier etwa die immer wiederkehrenden Diskussionen über den „deutschen Sonderweg“. Erinnert sei auch an das in der Historiographie noch sehr präsente, traditionelle Thema der „exception française“, das so gut wie nie in vergleichender Perspektive überprüft wird, so tief scheint es in einer bestimmten politikgeschichtlichen Tradition verankert zu sein.6 In den meisten europäischen Ländern bleiben die historischen Untersuchungen über das 19. und 20. Jahrhundert in ihrer Mehrheit selbst dann dem nationalen Rahmen verhaftet, wenn sie transnationale Phänomene behandeln wie etwa die Geschichte der beiden Weltkriege oder die Periode des Nationalsozialismus und des Faschismus.
Die letzten beiden Beispiele sind nicht zufällig gewählt. Diese zwei Themen machen vielmehr einen beachtlichen Teil der neueren zeithistorischen Forschungen aus. Sie gehören zu den im öffentlichen Raum seit 20 Jahren meistdiskutierten Gegenständen und haben in vieler Hinsicht zur Erneuerung der Zeitgeschichte insgesamt beigetragen, die auf diese Weise zu einem der größten historiographischen Forschungsbereiche werden konnte.7 Dennoch werden die beiden Weltkriege, Nationalsozialismus und Faschismus noch allzu oft aus enger nationalgeschichtlicher Perspektive behandelt - wohl vor allem deshalb, weil sie sich in die Diskussionen um die Neudefinition nationaler Identitäten bestimmter europäischer Länder einschreiben. Zu nennen wären hier etwa der „Historikerstreit“ in Deutschland, die Kontroversen um den Ersten Weltkrieg oder die Erinnerung an Vichy in Frankreich sowie die Diskussionen um das Erbe von Faschismus und Antifaschismus in Italien.
Es handelt sich folglich nicht einfach darum, eine „andere“ Geschichte Europas zu schreiben. Vielmehr geht es um die Möglichkeit (oder Unmöglichkeit), jenen Problemen eine andere als nationale Dimension zu geben, die sich nur dann angemessen verstehen lassen, wenn sie aus dem Rahmen eines einzelnen Landes herausgelöst werden. Zu denken wäre an eine Globalgeschichte, die gegenüber der Mehrdimensionalität und Verflechtung der jeweiligen Gegenstände und Fragestellungen offen bleibt. Die Europäisierung der Probleme sollte daher weniger politischen oder ideologischen Zielen verpflichtet sein - so lobenswert sie auch sein mögen („die Einigung Europas vorantreiben“) - als vielmehr einer heuristischen Perspektive: Historiker sollten Blickwinkel einnehmen, von denen aus sich Phänomene entgrenzen oder auf andere Weise erklären lassen, das „fait national“ eingeschlossen.8
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Anhand der Forschungen zur Geschichte des kollektiven Gedächtnisses9 lässt sich die beschriebene Problematik gut nachvollziehen. In diesem Bereich hat das Nachleben der Kriege, Revolutionen, Diktaturen und großen Massaker in den letzten 15 Jahren so großen Raum eingenommen, dass es den Anschein hat, die schlechten Erinnerungen seien für Historiker und Sozialwissenschaftler im Allgemeinen von besonderem Interesse. Dasselbe gilt für die „staatlichen Vergangenheitspolitiken“ sowie für die „Erinnerungspolitiken“, die in den letzten Jahren zum Teil erhebliche Energie darauf verwandt haben, die tragischen Episoden der jüngsten Geschichte zu „bewältigen“ und manchmal Jahrzehnte später „Wiedergutmachung“ zu versuchen. Beide Phänomene bilden im Übrigen einen Zusammenhang - sei es, dass die historischen Abhandlungen der Politik vorausgingen, sei es, dass sie ihr nachfolgten und sie zuweilen in ihrer Wirkung verstärkten.
Wie und warum kann die Erinnerung insbesondere an traumatische Ereignisse Gegenstand politischer und historiographischer Interessen sein - in einem Europa, in dem Frieden, Stabilität und wirtschaftliche Prosperität die vorherrschenden Werte sind, in einem Kontext also, in dem an Krieg kaum noch zu denken ist (auch wenn er nicht vollständig vom Horizont verschwunden ist)? Einige Historiker gehen sogar noch weiter: Hat das den mörderischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts und hier an erster Stelle dem Holocaust entgegengebrachte Interesse nicht zu einem Ungleichgewicht, zu einem verzerrten Blick auf die Geschichte Europas nach 1945 geführt? „Much energy [...] has recently been devoted to exploring the complex ways in which the populations and states of postwar Europe remembered and forgot about different aspects of the war years. This analysis of Europe’s ‘undigested past’ [...] does, however, tend to privilege the particularly ‘postwar’ character of the subsequent decades, as if the history of western Europe after 1945 was little more than the after-shocks of the cataclysm which has preceded it. This is no more than a partial truth, and we also need to recognize that the contested struggle for postwar memory was often a mechanism by which the political forces of Europe in the 1950s and the 1960s competed for the present and the future by instrumentalizing an increasingly distant past.“10 Diese Bemerkung ist nicht zuletzt auf die Historiker des kollektiven Gedächtnisses gemünzt und reflektiert treffend den übermäßig großen Raum, den die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg im Vorstellungshaushalt zahlreicher europäischer Länder einnimmt. Sie soll hier als Ausgangspunkt für zwei weiterführende Fragestellungen dienen:
1. Wie fällt die Bilanz der jüngeren Arbeiten zum kollektiven Gedächtnis aus? Sind sie eher nationalgeschichtlich geprägt, oder liegt ihnen eine europäische Perspektive zugrunde? Sind die Modelle von einer Dimension auf die andere übertragbar?
2. Warum hat die Geschichte des Holocaust in den letzten 20 Jahren solch breiten Raum eingenommen? Warum ist sie Gegenstand neuer, inzwischen europäischer Erinnerungspolitiken geworden?
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Abschließend soll nach den Möglichkeiten eines europäischen Gedächtnisses gefragt werden, indem die historischen Bezüge europäischer Gedenktage (und ihre Leerstellen) betrachtet werden.
1. Ist die Gedächtnisgeschichte eine Nationalgeschichte?
Ganz allgemein und von der Annahme ausgehend, dass die immens gewachsene Literatur zu diesem Thema überhaupt noch überschaubar ist, sind im relativ jungen Forschungsbereich der Gedächtnisgeschichte drei Hauptströmungen zu erkennen:
Die erste und wahrscheinlich älteste dieser Strömungen steht in Verbindung mit dem beachtlichen Aufschwung der Oral History und der Berücksichtigung aller Formen der Zeitzeugenschaft in der Zeitgeschichte: Memoiren, Tagebücher, Kriegstagebücher, Interviews usw. Diesem historiographischen Genre war deshalb so großer Erfolg beschieden, weil man glaubte, auf diese Weise Zugang zur Geschichte „der Vielen“, der „oubliés de l’histoire“ zu gewinnen, jener sozialen Kategorien also, denen bis vor nicht allzu langer Zeit keinerlei historische Bedeutung zugemessen wurde. Damit hat dieser Bereich entscheidend zur Entwicklung der Frauen- und der Geschlechtergeschichte, der Geschichte der kulturellen oder ethnischen Minderheiten, der Alltagsgeschichte und zur Erneuerung der Geschichte der sozialen Bewegungen beigetragen. Diese Form der Geschichtsschreibung sprengt per definitionem den nationalgeschichtlichen Rahmen (zumindest sollte sie es): Man schreibt keine Oral History der Deutschen oder der Franzosen; andererseits gibt es bereits zahlreiche Oral Histories französischer Arbeiter oder deutscher Frauen in bestimmten Abschnitten der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Eine auf soziologischen und anthropologischen Ansätzen basierende historiographische Form scheint sich bereits von vornherein für eine „Europäisierung“ der Geschichte zu eignen. Sie beginnt sich bereits in jenen Forschungen über den Krieg durchzusetzen, die von der individuellen sozialen Erfahrung ausgehen, bevorzugt Augenzeugenberichte von Soldaten, Kriegsgefangenen und zivilen Opfern nutzen und a priori eine vergleichende oder transnationale Perspektive einnehmen. Das Gleiche gilt für die Historiographie des Holocaust, die sich hauptsächlich an die Aussagen Überlebender und an die Zeitzeugenschaft hält, ohne dass die nationale Dimension besonders betont würde. Andererseits müsste man in diesen Bereichen im Hinblick auf gemeinsame Erfahrungen ganzer Bevölkerungen oder sozialer Gruppen in Europa Unterscheidungen treffen: man müsste das Schicksal der Juden und anderer Opfer des Nationalsozialismus von mehr oder weniger universellen, nicht auf den europäischen Raum beschränkten Erfahrungen unterscheiden; man müsste die Erfahrung der Gefangenschaft und des Systems der Konzentrationslager von der Gewalt des Krieges unterscheiden. Die jeweils einzunehmende Ebene der Beobachtung und Analyse hängt dabei unmittelbar von der vorgängigen Fragestellung ab.
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Die zweite Strömung der Gedächtnisgeschichte entstand in der Nachfolge des von Pierre Nora geprägten Begriffs des „Gedächtnisortes“ (lieu de mémoire), der Anlass zu ganz ähnlichen Konzeptionen gab, etwa in Deutschland und Italien - um nur die dem Original am nächsten stehenden zu erwähnen.11 Diese Unternehmungen zielten auf das Verstehen der Art und Weise, wie sich Gesellschaften ihre eigene Vergangenheit vorstellen, wie sie diese am Leben erhalten, wie sie ihrer gedenken oder ganze Abschnitte ihrer Geschichte vergessen. Sie gingen von der damals noch neuen Idee aus, dass der Vergangenheitsbezug Entwicklungen ausgesetzt ist und folglich eine eigene Historizität besitzt, die es zu erhellen gilt. Diese Grundannahme wird heute von allen Historikern des kollektiven Gedächtnisses geteilt. Unterdessen hat sich gezeigt, dass diese Unternehmungen auf eine Art Inventar der nationalen Traditionen hinausliefen, ein Ergebnis, dass zweifellos bereits in der ursprünglichen Problemstellung angelegt war. In einigen Fällen handelte es sich gar um echtes Erfinden durch die Einordnung eines Phänomens in eine Liste, das a priori von jeglicher Gedächtnisfunktion weit entfernt war oder überhaupt keinen interpretatorischen Vergangenheitsbezug aufwies. In den Bänden der Lieux de mémoire finden sich Abhandlungen sowohl über „Gedächtnisstützen“, d.h. über Träger einer expliziten oder eingeforderten Vergangenheitsvorstellung (die Denkmäler, Museen, großen historischen Werke etc.) als auch über kulturelle, politische und soziale Prozesse (die Sprache, die Orte der Herrschaft, die räumliche Ordnung des Territoriums etc.). Die Autoren erklären uns, dass diese Prozesse stets mit impliziten Vergangenheitsvorstellungen verknüpft waren und deshalb ebenfalls Anzeichen für die Existenz eines von allen Franzosen geteilten nationalen Vorstellungshaushaltes seien.
Ein solcher Zugriff setzt das Vorhandensein eines sehr starken Nationalgefühls voraus, wie etwa in Frankreich, Deutschland oder Italien. Er geht außerdem von einer sehr weitreichenden Einmischung der politischen Kräfte in das Schreiben der Geschichte aus. Es ist des Öfteren darauf hingewiesen worden, dass sich der Begriff „Gedächtnisort“ nicht in jedem Land anwenden lässt: So stößt man zum Beispiel in den Niederlanden auf Probleme, wo die Geschichte kaum soziale Bindungskräfte zu entfalten scheint,12 oder in Großbritannien, wo ein „Geschichtsbewusstsein“ im Sinn einer „offiziellen, vom Staat gebilligten Version der Vergangenheit“ fehlt.13
Pierre Nora selbst hat auf der französischen Besonderheit der lieux de mémoire insistiert, eines Ausdrucks, der sich dennoch vom lateinischen loci memoriae herleitet und daher zur gesamteuropäischen Sprachgeschichte gehört. Nora verortet diese Besonderheit im Kontext der sich im Frankreich der 1970er-Jahre abzeichnenden Krise der französischen Nationalidentität, „où il est devenu patent qu’un immense capital de mémoire collective, un stock de mémoire historique vécu dans la chaleur de la tradition, dans l’interrogation de la coutûme basculait dans le néant pour ne plus revivre qu’au travers une histoire scientifique et reconstitutive“.14 Dieses „Verlustgefühl“ motivierte ihn zum Projekt der Lieux de mémoire, deren spezifisch französische Dimension er im Nachhinein anführte, um einem ungeregelten Export des Konzepts vor allem auf europäischer Ebene entgegenzuwirken: „Ce qui compte [dans toute histoire de la mémoire], c’est le type de rapport au passé et la manière dont le présent l’utilise et le reconstruit; ce ne sont pas les objets, qui ne sont que des indicateurs et des signes de piste. Il se trouve que la France, État-Nation par excellence, a connu à la fois une exceptionnelle continuité et une brutale rupture de cette continuité avec l’expérience révolutionnaire. Il se trouve que cet État national a solidifié la richesse de son répertoire historique dans un système mythico-politique, dans des strates historiographiques, dans des types de paysage, dans un imaginaire de traditions [...] qu’un choix judicieux permet de quadriller et que l’analyse historienne permet aujourd’hui de disséquer. Il se trouve, enfin et surtout, que dans le grand basculement [...] d’un modèle de nation à un autre, la France a vécu le passage décisif d’une conscience historique de soi à une conscience patrimoniale, qui suppose un mélange de familiarité et d’étrangeté où la recherche des lieux de mémoire et des symboles de l’identité trouve sa vraie justification, et même sa nécessité.“15
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Diese Einlassung kommt einem patriotischen Glaubensbekenntnis gleich und scheint im Hinblick auf eine europäische Perspektive eher dem nationalgeschichtlichen Einspruch stattgeben zu wollen. Das Konzept der „Gedächtnisorte“ könnte somit als letzter Nachfahre der klassischen, im 19. Jahrhundert mit dem Aufstieg der Nationalstaaten entstandenen Nationalgeschichtsschreibung gelten, von seiner erkenntnistheoretischen Fruchtbarkeit einmal abgesehen. Interessanterweise beschließt der niederländische Gesprächspartner Pierre Noras, Pim den Boer, seinen Text über die europäische Identität mit einer eher normativen als analytischen Wendung: „Europa“, postuliert er, „a besoin des lieux de mémoire: pas comme moyens mnémotechniques pour identifier seulement des corps mutilés, mais pour faire comprendre, pardonner et oublier.“16 Ein gesamteuropäisches Gedächtnis schriebe sich demnach eher in einen Erwartungshorizont als in einen Erfahrungsraum ein; es wäre eher zu konstruieren als zu exhumieren.
Die dritte Hauptströmung der Historiographie des kollektiven Gedächtnisses ist mit dem Nachwirken traumatischer Ereignisse befasst, darunter vor allem mit der Geschichte der beiden Weltkriege, der totalitären Systeme und des Holocaust. Auch in diesem Bereich war das nationale a priori in den ersten Untersuchungen sehr stark ausgeprägt. Ob in den Arbeiten Norbert Freis über die Anfänge der deutschen Erinnerung an den Nationalsozialismus, in Peter Novicks Forschungen über den Holocaust in der US-amerikanischen Gesellschaft, in Tom Segevs Studien zur Erinnerung an den Holocaust in Israel oder in meinen eigenen Arbeiten über die Erinnerung an Vichy in Frankreich: Es geht stets und vor allem um eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der jeweiligen nationalen Identität.17 Erst in einer späteren Phase der historiographischen Produktion hat man sich der transnationalen oder komparativen Aspekte des Problems angenommen.18 Einer der Gründe dafür war, dass die zitierten „Einzelstudien“ mehrheitlich große Ähnlichkeiten zwischen den un-tersuchten Ländern zutage treten ließen. Sie erkannten insbesondere dieselbe Entwicklung des öffentlichen Gedenkens, denselben historischen Rhythmus, der den Rahmen jedes einzelnen Staates sprengte, und legten es den Historikern deshalb nahe, nicht allein in der Nationalgeschichte nach Erklärungen zu suchen. Diese globale Entwicklung verlief in drei aufeinander folgenden Phasen, die hier grob umrissen werden können:
In der unmittelbaren Nachkriegszeit gab es in den meisten vormals von den Nazis besetzten Ländern Spannungen zwischen der Notwendigkeit, einerseits die Vergangenheit zugunsten des nationalen Wiederaufbaus auszublenden und andererseits die „Helden“ und „Opfer“ zu würdigen, gegen Kollaborateure, Faschisten und „eingeborene“ Antisemiten Prozesse zu führen und damit in gewisser Weise die Kriegs- und Gewaltzeit weiter zu verlängern. Dies geschah etwa in Frankreich und Italien, ganz zu schweigen von den allerdings anders bedingten Bürgerkriegen in Griechenland und Jugoslawien.
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Es folgte eine mehr oder weniger lange Phase offiziellen Schweigens, Verdrängens und Vergessens. Diese Begriffe sind als Fiktionen zu verstehen, als mutwillige Haltungen der Staaten und Öffentlichkeiten. Sie bedeuten nicht im Geringsten, dass die Individuen die begangenen Verbrechen und das ausgehaltene Leid wirklich vergessen hätten. Diese Phase dauerte ungefähr 15 Jahre (bis zum Ende der 1960er-Jahre); sie fällt mit der Zeit des Wiederaufbaus der Nationalstaaten und des europäischen Einigungsprozesses zusammen - ich schließe mich hier Martin Conways Bemerkung an, dass „Schweigen“ und „Vergessen“ insbesondere der im Rahmen des Holocaust begangenen Taten sowohl von politischer als auch sozialer Notwendigkeit gewesen sind.
Schließlich ist im Westen seit Beginn der 1970er-Jahre, im Osten seit 1989 (wenn auch in geringerem Umfang) in fast allen Ländern Europas das gleiche Anamnesephänomen zu beobachten. In dieser Phase rückten Fragen zur nationalsozialistischen und im weitesten Sinne faschistischen Vergangenheit in den Vordergrund, Fragen zur Kollaboration zwischen Besatzern und Besetzten sowie zum autochthonen Antisemitismus der besetzten oder mit dem „Dritten Reich“ alliierten Länder.
2. Das Gewicht der Holocaust-Erinnerung
Der aufmerksame Leser wird bemerkt haben, dass in dieser dreistufigen Entwicklung die Phase der „Anamnese“, der direkten Konfrontation mit der Geschichte der Jahre 1939 bis 1945, sehr viel länger dauerte als die Periode des Vergessens und Verdrängens. Die rituelle Frage: „Warum hat es so lange gedauert, bis man über den Holocaust sprechen und die Verantwortung zugeben konnte?“ müsste man durch eine andere Frage ersetzen: „Warum spricht man gerade heute, 60 Jahre nach dem Ende des Krieges, noch so viel darüber?“ Wie ist außerdem zu erklären, dass die Erinnerung an den Holocaust in der EU heute so sehr im Zentrum des Interesses steht, dass dies auf Kosten anderer Erinnerungen geschieht?
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Darauf sind zwei Antworten möglich. Die eine argumentiert diachron und vom historischen Ereignis her. Da der Holocaust historisch beispiellos war (auch wenn er nicht die erste ethnisch, rassistisch oder religiös begründete Massentötung gewesen ist), kann es nicht überraschen, dass auch sein Nachleben beispiellos blieb. Die Einzigartigkeit des Verbrechens an den Juden und die seit drei Generationen anhaltende Unfähigkeit, seine Folgen zu verwinden, könnte zum Beispiel erklären, warum noch 50 Jahre später politische Prozesse geführt werden (insbesondere in Frankreich und Deutschland). Diese Prozesse sowie die für sie charakteristische Idee der „Unverjährbarkeit“ stellten nicht nur ein formalrechtliches und rechtspraktisches Novum dar, sondern veränderten auch das traditionelle Zeitverständnis der Rechtsprechung (das die Zeitgenossenschaft von Richtern und Geschworenen mit dem inkriminierten Tatbestand vorschreibt) sowie das Verhältnis zwischen Recht und Geschichte (die Urteile stützten sich sowohl auf direkte Zeugen als auch auf historische Analysen). In diesem Erklärungsmuster wird das gegenwärtige Gewicht der Erinnerung mit dem Ausnahmecharakter des historischen Ereignisses begründet.
Die zweite Antwort verweist darauf, dass in der jüngsten Vergangenheit auch vergleichbare Phänomene zu beobachten waren. Das ist etwa in Frankreich der Fall, wo zur Auseinandersetzung mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in den letzten 10 Jahren lebhafte Debatten um die Erinnerung an den Algerienkrieg hinzukamen, oder in vielen ehemals kommunistischen Ländern Mittel- und Osteuropas, die sich an der schwierigen Bewältigung des Erbes gleich zweier totalitärer Systeme versuchen. Bemerkenswerter noch sind ähnliche Situationen außerhalb Europas - etwa in den ehemaligen Diktaturen Südamerikas, in Südafrika nach der Apartheid, im Kongo und in Ruanda, den Schauplätzen der blutigsten Genozide seit 1945. Hier ist eine Entwicklung zu erkennen, die der oben beschriebenen ganz ähnlich ist: Zunächst folgt auf das Ende der Diktatur oder des Krieges eine Phase, in der Fragen des institutionellen Übergangs, der Verurteilung der Verantwortlichen sowie der Bewahrung und Dokumentation von Spuren des Vergangenen (Sammeln von Zeugenberichten, Öffnung von Geheimarchiven usw.) im Vordergrund stehen; dabei bilden sich erste historische Erzählungen, die dem künftigen nationalen Gedächtnis als Stützen dienen werden. Mehr oder weniger frühzeitig folgt dann eine Phase, in der die Staaten und/oder die Öffentlichkeiten es vorziehen, sich der Zukunft zuzuwenden und über die vergangenen Dramen einen Mantel des Schweigens und Vergessens auszubreiten. Ob und unter welchen Bedingungen diese Länder in das dritte Stadium der Entwicklung eintreten werden, in die Phase der Anamnese und der Heimsuchung durch die Vergangenheit, lässt sich heute noch nicht absehen.
Vor diesem Hintergrund sind zwei Erklärungen möglich, die sich nicht notwendig ausschließen: Entweder stellt die Holocaust-Erinnerung ein Vorbild dar - sei es implizit oder explizit, wie im Fall der Erinnerung an den Algerienkrieg in Frankreich; oder aber die Ausdrucksformen, in denen sich das kollektive Gedächtnis heute artikuliert, sind in allen Ländern und für ganz disparate Ereignisse rund um den Globus dieselben. Der Grund ist, dass wir in einem der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert eigenen Vergangenheitsbezug, in einem „Historizitätsregime“ (régime d’historicité) leben, das in seiner Synchronizität analysiert werden muss.19 Im Folgenden werden summarisch einige Grundzüge skizziert, die eine Beschreibung dieses „Historizitätsregimes“ erlauben.
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Ein erstes Element ist „Wiedergutmachung“. Immer systematischer wird vor allem von staatlicher Seite versucht, in der Vergangenheit begangene Irrtümer und Verbrechen „wiedergutzumachen“, sei es „freiwillig“ oder in Reaktion auf den von vielen Seiten ausgeübten Druck. Wiedergutmachung wird auf drei Arten geleistet: finanziell durch die Entschädigung materieller Verluste von Personen; rechtlich durch die Anstrengung von Prozessen; symbolisch durch Reden, in denen die höchsten Repräsentanten des jeweiligen Staates um Vergebung bitten - angefangen etwa bei der Rede des spanischen Königs im Jahr 1992, in der er für die Vertreibung der Juden um Vergebung bat, bis zu den verschiedenen Erklärungen zur Sklaverei in den USA, nicht zu vergessen Frankreich und seine Vichy-Vergangenheit sowie natürlich Deutschland und seine NS-Vergangenheit.
Ein zweites Element ist die zunehmende Tendenz zur Aufarbeitung traumatischer Ereignisse vor Gericht („Judikarisierung“). Die Justiz interveniert entweder unmittelbar nach der Krise (Strafprozesse gegen ehemalige kommunistische Parteiführer, Säuberung der Verwaltungen durch Ad-hoc-Kommissionen) oder in einem wesentlich längeren Zeitraum nach den Ereignissen (Prozesse gegen Verantwortliche des Judenmords in Frankreich oder Deutschland); sie interveniert auf nationaler und internationaler Ebene. Das Vorgehen kann im Einzelnen strafrechtlicher oder ziviler Natur sein, und es kann sich in formellen Erklärungen der Parlamente erschöpfen, die ein Ereignis auf bestimmte Weise darstellen. Diese offizielle Interpretation kann ihren Niederschlag in Texten finden, wie im Fall des Völkermords an den Armeniern. In solchen Fällen beruht die Geschichte dann auf Normen, die nicht aus öffentlichen oder wissenschaftlichen Diskussionen hervorgehen, sondern per Gesetz festgeschrieben werden.
Ein drittes Element ist der sich beschleunigende Prozess der „Viktimisierung“ bzw. der Geschichtsbetrachtung aus der Opferperspektive. Es ist erstaunlich, wie sehr historische Erfahrungen wie der Widerstand gegen den Nationalsozialismus oder die antikolonialen Befreiungskämpfe heute den Opferstatus hervorkehren, während sie in der Vergangenheit eher die Figur des Helden bevorzugten (des Märtyrers, der für eine Sache stirbt und sich für die Gemeinschaft opfert). Es handelt sich hier um den bedeutsamen Übergang von einem politischen zu einem moralischen Muster der Vergangenheitsbetrachtung. Denn hat man jemals „Heroen“, Halbgötter im griechischen Sinn des Wortes, vor Gericht Wiedergutmachung fordern sehen? Allerdings hat die Identifikation mit den Opfern, die in der traditionellen Geschichtsbetrachtung der Staaten, Sieger, Gelehrten usw. ja tatsächlich vergessen wurden, heute zur Überbewertung dieser Perspektive geführt.
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Ein viertes Element könnte in einer „Entnationalisierung“ der Geschichte bestehen bzw. darin, wie die internationale Gemeinschaft, die Europäische Union und Nichtregierungsorganisationen einzelne Länder unter Druck setzen - um zu erreichen, dass diese sich auf bestimmte Weise mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen oder ihre Geschichte schreiben. Der Fall Pinochet ist ein gutes Beispiel hierfür, denn angesichts der Schwierigkeiten, Pinochet in Chile vor Gericht zu stellen, wollte man ihm im Ausland den Prozess machen, d.h. dort die Frage stellen, wie die chilenische Vergangenheit zu bewältigen sei. Es gibt zahlreiche andere, zwar weniger bedeutende, aber im Einzelnen vielsagende Fälle wie das jüngst vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen Frankreich ergangene Urteil. Französische Gerichte hatten entschieden, dass Äußerungen der „Association pour défendre la mémoire du Maréchal Pétain“ eine „apologie de crimes et délits de collaboration avec l’ennemi“ darstellten, ein in der Nachkriegszeit definierter Tatbestand. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sah es dagegen als erwiesen an, dass dieses Urteil gegen das Prinzip der freien Meinungsäußerung auch in geschichtlichen Fragen verstoße, ohne jedoch in seiner Begründung auf die besonderen Umstände der zeitgenössischen Diskussion um die Vichy-Vergangenheit in Frankreich einzugehen.20 Dies sind klassische Normenkonflikte, wie sie zwischen nationaler, europäischer und internationaler Ebene immer auftreten können. Das Neue daran ist der Umstand, dass sie nun die Deutung der Vergangenheit berühren, einer meist nationalen Vergangenheit, die in der rückwirkenden Interpretation tendenziell „entnationalisiert“ wird.
Worin besteht gemäß dieser Hypothesen nun die Möglichkeit eines europäischen Gedächtnisses, und worin könnte seine Bedeutung liegen? Ganz offensichtlich ist die neue Lesart der Vergangenheit, wie sie aus den verschiedenen europäischen Institutionen verlautet, noch sehr stark dem Erbe des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus verhaftet. Fast alle der seltenen großen, in ganz Europa stattfindenden Gedenkfeiern haben hier ihren Ursprung. Außer dem in vielen Ländern wichtigen 11. November sind zu erwähnen: der Ende der 1950er-Jahre eingerichtete Tag der Vertreibung, der am jeweils letzten Aprilsonntag begangen wird und alle Vertriebenengruppen würdigt; der 8. Mai, an dem in vielen Ländern das Ende des Krieges an der europäischen Westfront gefeiert wird; der 27. Januar, an dem der Befreiung des Lagers Auschwitz gedacht wird.
Tatsächlich sind die Erinnerung an den Nationalsozialismus und an den letzten Weltkrieg im Allgemeinen beide zweitrangig gegenüber der Holocaust-Erinnerung, die in den letzten Jahren ins Zentrum politischer, kultureller und pädagogischer Bemühungen der EU gerückt und durch das spektakuläre Auftreten der USA in diesem Bereich seit Ende der 1980er-Jahre gleichzeitig „internationalisiert“ worden ist.21 So hat die EU wesentlich zur „Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance, and Research“ beigetragen, die während des „International Forum on the Holocaust“ vom 26. bis 28. Januar 2000 in Stockholm eingerichtet wurde. Unter den 16 Gründerstaaten befanden sich 13 gegenwärtige oder künftige EU-Mitgliedstaaten.22 Diese „Task Force“ entschied, dass von Januar 2003 an in den meisten schulischen Einrichtungen der Länder Europas der 27. Januar, der Tag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, begangen werden sollte. In der Gründungserklärung der Task Force heißt es unter anderem: „It is appropriate that this, the first major international conference of the new millennium, declares its commitment to plant the seeds of a better future amidst the soil of a bitter past. We empathize with the victims’ suffering and draw inspiration from their struggle. Our commitment must be to remember the victims who perished, respect the survivors still with us, and reaffirm humanity’s common aspiration for mutual understanding and justice.“23
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Die Stockholmer Erklärung scheint demnach den Holocaust zum Ausgangspunkt und Rückhalt des heutigen und künftigen Europas machen zu wollen. Nicht nur die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ist mehr als 50 Jahre danach nicht verwunden, sondern auch die Neugründung Europas erfolgt auf der Basis des Schlimmsten, was es in seiner Vergangenheit begangen und erlitten hat. Neben den offensichtlich guten Absichten dieses Textes wird deutlich, dass es sich um eine bemerkenswerte Verschiebung der Fundamente Europas handelt. Denn die ursprüngliche Intention der Gründungsmitglieder war eine andere: die vollständige Beseitigung der wirtschaftlichen und politischen Ursachen der beiden Weltkriege. Diese Tradition ist andererseits nicht untergegangen und hat sich während der Tagung des Europarates in Mailand im Jahr 1985 in der Schaffung des „Europatages“ niedergeschlagen. Dieser würdigt Robert Schumans berühmt gewordene Rede anlässlich der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) am 9. Mai 1950 in Paris. Es gibt nicht viele Studien zu diesem wenig bekannten und selten begangenen Feiertag. Auf der offiziellen Website der Europäischen Union findet sich interessantes Material, das Aufschluss darüber gibt, in welchem Geist dieser Tag begangen wird - insbesondere die offiziellen Plakate der Jahre 1996 bis 2004 (siehe Anhang).
Auch ohne Tiefenanalyse fällt der naive Stil dieser Bilder auf. Obwohl sie von verschiedenen Zeichnern entworfen wurden, beziehen sie sich fast alle auf die Welt der Kinder: der Tanzreigen 1997 und 2004, die Rollschuhe 1999, hier und da blinkende Sterne... Diese Plakate lassen unwillkürlich an Variationen eines Buchcovers für den „Kleinen Prinzen“ denken. Nur das Plakat des Jahres 1996 ist eine Ausnahme: Als einziges stellt es einen expliziten Bezug zur Geschichte her und kombiniert Bilder aus Vergangenheit und Gegenwart; es zeigt die Rede Robert Schumans im Salon de l’Horloge des Quai d’Orsay. Selbst wenn es sich dabei nur um eine Detailfrage oder gar um ein unbeabsichtigtes Ergebnis handelt, muss das weitgehende Fehlen einer historischen Dimension doch erstaunen: Die Bilder wirken, als ginge es darum, etwas zu würdigen, das mehr oder weniger im Nirgendwo entstanden sei. Sie scheinen uns zur Feier einer zweiten Geburt einladen zu wollen, sprechen uns europäische Bürger als „born again Europeans“ an und überlassen die Erinnerungen an den Holocaust und den „dunklen Kontinent“ dem Nichts des Vergessens. Das Dilemma einer Europäisierung der Erinnerung liegt auf der Hand: Wie vermeidet man einerseits die Illusion der tabula rasa und die Konstruktion eines vollkommen künstlichen Gedächtnisses ohne reale historische Basis sowie andererseits das unablässige Wiederkäuen einer noch von nationalen Leidenschaften beherrschten mörderischen Vergangenheit?
(Übersetzung: Marcel Streng)
Anhang: Plakate zum Europatag
Quelle: http://europa.eu/about-eu/basic-information/symbols/europe-day/index_en.htm
1 Siehe z.B. Elisabeth du Réau/Robert Frank (Hg.), Dynamiques européennes: nouvel espace, nouveaux acteurs 1969-1981, Paris 2002; Robert Frank (Hg.), Les identités européennes au XXe siècle, Paris 2004 (zwei Publikationen des Netzwerkes „Les identités européennes au XXe siècle“).
2 Vgl. dazu auch den Beitrag von Gregor Thum in dieser Ausgabe.
3 Mark Mazower, Der dunkle Kontinent. Europa im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2002. Siehe auch Tony Judt, A Grand Illusion? An Essay on Europe, New York 1996.
4 Das ist einer der Gründe für die in Frankreich im Unterschied zu anderen Ländern wesentlich lebhaftere Polemik, die auf das Erscheinen des „Schwarzbuchs des Kommunismus“ folgte: Stéphane Courtois/Nicolas Werth u.a. (Hg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus, München 1998 u.ö. (frz. Erstausg.: dies. u.a. [Hg.], Le livre noir du communisme, Paris 1997).
5 Dies trifft auf die deutsche Öffentlichkeit so sicher nicht zu. Es ist dagegen frappierend festzustellen, dass die Frage der Vertreibungen der Nachkriegszeit in den Schulbüchern bislang keine Erwähnung gefunden hat. Der Hinweis auf diese Problematik wurde bisweilen mit dem Vorwand, das sei ein Lieblingsthema der extremen Rechten, als Versuch abgetan, die „Shoah zu banalisieren“. Tatsächlich wurde die Geschichte der ost- und mitteleuropäischen Länder bis zur Neuauflage der Schulprogramme für das Erweiterungsjahr der EU 2004 insgesamt kaum behandelt - und wenn doch, dann als „Ausläufer des sowjetischen Gletschers“.
6 Siehe z.B. Serge Berstein/Michel Winock (Hg.), La République recommencée. De 1914 à nos jours, Paris 2004 (Reihe „Histoire de la France politique“). Für die Feststellung einer „exception française“ spricht zwar einiges, doch verkennt sie, dass die Behauptung der „Einzigartigkeit“ die Doxa fast aller auf die nationalstaatliche Dimension beschränkten Historiographien ist. Sie impliziert zugleich die Erarbeitung einer komparativen „grille de lecture“, die es erlauben würde, die tatsächlichen Einzigartigkeiten jeder Nationalgeschichte genauer zu betrachten und so auf anderen als nationalen Ebenen nach Erklärungen zu suchen.
7 Vgl. Pieter Lagrou, Historiographie de guerre et historiographie du temps présent: cadres institutionnels en Europe occidentale, 1945-2000, in: Bulletin du Comité international d’histoire de la deuxième guerre mondiale 30/31 (1999/2000), S. 191-215.
8 Diese Überlegung ist von den Arbeiten zur „micro-histoire“ inspiriert. Vgl. Jacques Revel (Hg.), Jeux d’échelle. La micro-analyse à l’expérience, Paris 1996. Zu den Bezügen zwischen Nationalgeschichte und europäischer Geschichte siehe auch Stuart Woolf, Europe and its Historians, in: Contemporary European History 12 (2003), S. 323-337.
9 Anm. der Red.: Der Begriff „kollektives Gedächtnis“ (mémoire collective) wird in Frankreich anders als im deutschen und angloamerikanischen Sprachraum nicht weiter problematisiert.
10 Martin Conway, The Rise and Fall of Western Europe’s Democratic Age, 1945-1973, in: Contemporary European History 13 (2004), S. 67-88, hier S. 72.
11 Étienne François/Hagen Schulze (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001; Mario Isnenghi (Hg.), I luoghi della memoria, 2 Bde., Rom 1997.
12 Vgl. Pim den Boer, Lieux de mémoire et identité de l’Europe, in: ders./Willem Frijhoff (Hg.), Lieux de mémoire et identités nationales, Amsterdam 1993, S. 11-29.
13 Benedikt Stuchtey, Bericht zur Tagung „European Lieux de mémoire“, German Historical Institute London, 5.-7. Juli 2002, in: GHIL-Bulletin 24 (2002), H. 2, S. 121-125, hier S. 124.
14 „[...] in der sich abzeichnete, dass ein immenser Bestand an kollektiven Erinnerungen, ein im Eifer der Tradition, in der Befolgung des Brauchtums gelebter historischer Gedächtnisschatz verloren gehen und nur mittels wissenschaftlicher, rekonstitutiver Geschichtsschreibung wiederaufleben können würde.“ Pierre Nora, La notion de „lieu de mémoire“ est-elle exportable?, in: den Boer/Frijhoff, Lieux de mémoire et identités nationales (Anm. 12), S. 3-10, hier S. 4.
15 „Was [in der gesamten Gedächtnisgeschichte] zählt, sind nicht Gegenstände, bloße Anzeichen und Spuren, sondern die Art der Beziehung zur Vergangenheit und die Art, wie die Gegenwart die Vergangenheit gebraucht und rekonstruiert. Bekanntlich erlebte Frankreich, der Nationalstaat par excellence, eine außerordentliche Kontinuität, aber mit der Revolutionserfahrung auch einen plötzlichen Abbruch dieser Kontinuität. Bekanntlich konnte dieser Nationalstaat den Reichtum seines historischen Registers in einem mythopolitischen System, in historiographischen Schichten, in Landschaftstypen, in einer imaginierten Welt der Traditionen [...] verdichten, die nur mit großer Umsicht zu erfassen sind und historiographisch genau analysiert werden müssen. Schließlich und vor allem erlebte Frankreich im Übergang von dem einen Nationenmodell zu einem anderen den entscheidenden Wandel von einem historischen Selbstbewusstsein zu einem Bewusstsein seines historischen Erbes. Dieser Wandel setzt eine Mischung von Vertrautheit und Fremdheit voraus, in der die Erforschung der Gedächtnisorte und Identitätssymbole ihre wirkliche Berechtigung, ja sogar ihre Notwendigkeit findet.“ Nora, La notion de „lieu de mémoire“ (Anm. 14), S. 10.
16 „Europa braucht die Gedächtnisorte: nicht allein als mnemotechnische Mittel zur Identifikation verstümmelter Leichen, sondern um das Verstehen, Vergeben und Vergessen zu fördern.“ Vgl. den Boer, Lieux de mémoire et identité de l’Europe (Anm. 12), S. 29.
17 Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996; Peter Novick, The Holocaust in American Life, Boston 1999; Tom Segev, Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung, Hamburg 1995.
18 Pieter Lagrou, The Legacy of Nazi Occupation: Patriotic Memory and National Recovery in Western Europe, 1945-1965, Cambridge 2000.
19 Der Begriff stammt von Marshall Sahlins, Reinhart Koselleck und François Hartog, Régimes d’historicité. Présentisme et expériences du temps, Paris 2003.
20 Cour européenne des Droits de l’Homme, affaire Lehideux et Isorni c. France (55/1997/839/1045), arrêt du 23 septembre 1998.
21 Vgl. Novick, Holocaust (Anm. 17).
22 Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien, Ungarn, Litauen, Luxemburg, Norwegen, Niederlande, Polen, Tschechien, Großbritannien, Schweden; die drei weiteren waren Argentinien, die USA und Israel. Vgl. http://www.holocaustforum.gov.se
23 Declaration of the Stockholm International Forum on the Holocaust, Absatz 8.